Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 10
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ОглавлениеACHTZEHN SEX-ÜBERFÄLLE IN ZWEI WOCHEN Täter lauern Frauen in Kneipen und Parks auf. Von Fredy Lang exp Düsseldorf - Die Radlerin (14) fuhr nachmittags am Sportpark Niederheid entlang. Plötzlich sprang ein Mann aus dem Gestrüpp, riss die Schülerin zu Boden. Der Sex-Gangster würgte die Frau, versuchte ihr die Kleidung herunterzureißen. Das Mädchen schrie laut um Hilfe. Passanten eilten hinzu. Erst dann ließ der Mann (etwa 25 Jahre) von ihr ab, flüchtete unerkannt.
Nur eines von 18 Sexualdelikten, die sich in den vergangenen zwei Wochen in Düsseldorf, Mettmann und Neuss ereigneten. »Erschreckend ...«, sagt ein Polizeisprecher.
(Düsseldorfer Boulevardblatt EXPRESS über die Serie von Vergewaltigungsversuchen, die die Menschen in und um Düsseldorf beunruhigt)
(...)
3. Wenn Sie eine Anzeige erstatten möchten, gehen Sie bald zur Polizei, da die Chancen, den Täter zu fassen, dann größer sind. Die Polizei fährt Sie auch nach der Vernehmung zur ärztlichen Untersuchung. Sie haben das Recht, von einer weiblichen Beamtin vernommen zu werden. Lassen Sie sich Namen und Tagebuchnummer geben, damit Sie sich auch später noch mit ihr in Verbindung setzen können. Dies ist auch wichtig für eine Dienstaufsichtsbeschwerde, die Sie einlegen können, wenn Sie unverschämt behandelt worden sind.
Erzählen Sie möglichst frei, damit Sie nicht nur auf die speziellen Fragen der Beamtin reagieren müssen.
Unterschreiben Sie das Protokoll nur, wenn alle Einzelheiten stimmen. Ist das nicht der Fall, bestehen Sie auf einer Änderung. Das ist wichtig für den späteren Prozess, bei dem die Aussage womöglich gegen Sie verwendet werden kann, um Sie unglaubwürdig zu machen. Da Sie das Protokoll nicht ausgehändigt bekommen, sollten Sie sich anschließend auf jeden Fall ein persönliches Gedächtnisprotokoll anfertigen, denn es vergehen Monate bis zum Prozess.
Ganz wichtig: Beweismaterial nicht vernichten! Schlüpfer, zerrissene Kleidung aufbewahren! Waschen Sie sich nicht, bevor die ärztliche Untersuchung stattgefunden hat!
(Aus: Merkblatt für die Frau nach einer Vergewaltigung, Herausgegeben vom Arbeitskreis »Sexuelle Gewalt« c/o Notruf für vergewaltigte Frauen)
»Ja, damit hätten wir’s dann wohl!«
Der Leiter der Schutzpolizei wirft fast die Kaffeetasse um, als er von seinem Stuhl im Zimmer des Leiters der Kriminalpolizei auf springt. Benedict, der in Vertretung seines Chefs, des Leiters der Kriminalgruppe 1, an dieser Vorbereitungsbesprechung teilnimmt, packt seine Notizen zusammen. Das wird wohl ein heißer Tag werden, am nächsten Mittwoch: Sicherheitsprobleme beim Empfang auf Schloss Benrath für den Staatsbesuch aus Ost-Berlin, Verkehrsprobleme beim Ende der Igedo-Modemesse, sowohl Sicherheits- als auch Verkehrsprobleme beim Fußballspiel Deutschland gegen England im Rheinstadion. 1400 Polizeibeamte werden sich in Düsseldorf tummeln, von denen sich zwei Drittel wahrscheinlich überhaupt nicht in der Stadt auskennen werden.
»Wird schon klappen!«, meint der >Leitende< jovial und geht nach hinten zu seinem Schreibtisch, um etwas zu suchen. Kriminalrat Freudlos vom 14. K steht mit den anderen Teilnehmern der Besprechung auf. »Irgendwie klappt es ja immer. Hoffentlich reicht diese schöne Tradition diesmal!«
Hauptkommissar Vitus H. Benedict kann die Befürchtungen seines Kollegen in diesem Fall verstehen. Schließlich gibt es eine ganze Reihe von Gruppen und Personen, die mit dem Besuch des Staatsgastes aus der DDR ganz und gar nicht einverstanden sind.
»Na, schönes Wochenende allerseits!«, sagt der Leitende zu den Hinauseilenden. »Herr Benedict, kann ich Sie noch einen Augenblick ...«
Der Leitende hat gefunden, was er auf seinem Schreibtisch gesucht hat, und steht jetzt mit einem dünnen Aktenvorgang wieder am langen Besprechungstisch. Nachdem sich die Tür hinter den Konferenzteilnehmern geschlossen hat, wendet er sich mit einem leisen Räuspern an den immer noch unschlüssig vor dem Stuhl stehenden Leiter des 1. K: »Nehmen Sie doch bitte Platz. Es wird wohl etwas dauern.« Auch der Leitende setzt sich jetzt und blättert in den wenigen Seiten des dünnen Hefters. »Möchten Sie vielleicht noch einen Kaffee?«
»Nein, ich trinke nachher unten einen Tee, danke. Worum geht’s?«
Das Thema scheint dem Leitenden unangenehm zu sein. Vorsichtig macht er den grauen Hefter mit den Laufvermerken wieder zu und legt ihn vor sich auf den braunen Tisch.
»Mir liegt eine Dienstbeschwerde gegen Sie vor. Von Kommissarin Leiden-Oster. Wegen Nichtbearbeitung ihrer an Sie, den nächsten Dienstvorgesetzten, gerichteten Beschwerden vom 2., 3. und 4. des vorigen Monats!«
Der Leiter der Kriminalpolizei blickt krampfhaft auf die Luftaufnahme Düsseldorfs an der Längswand und räuspert sich nochmals. »Wollen Sie sich dazu äußern?«
Wollte Benedict sich dazu äußern? Was sollte er sagen?
Der Weggang von Hauptmeister Ganser hatte sich in der Gruppe erst nach und nach bemerkbar gemacht. Benedict selbst allerdings war sehr schnell klar geworden, dass er zusammen mit Gernot Ganser ein zu eingespieltes Team gebildet hatte und dass es einige Zeit dauern würde, bis er mit Doemges, Läppert oder den Neumann-Zwillingen eine auch nur annähernd ähnlich effektive Form der Zusammenarbeit finden könnte. Im Verlauf des ersten Arbeitsjahres ohne Ganser hatte er dann aber gelernt, die Stärken und Schwächen der anderen Teammitglieder sinnvoller zu koordinieren, und so lief die Ermittlungsarbeit im 1. K im Großen und Ganzen reibungslos. Bis ... ja, bis er von seinem Urlaub zurückkehrte und die Kommissarin Leiden-Oster den Platz von Ganser im 1. K einnehmen sollte. Während der vergangenen zwei Monate hatte Vitus H. Benedict sich oft gefragt, worin die Hauptursache seiner Aversionen gegen die Kommissarin aus Köln lag. Den Gedanken, dass es eine Abneigung auf den ersten Blick sein könnte, verwarf er vor sich selbst. Sicher, es hatte ihn unangenehm berührt, dieses kumpelhafte »auf gute Zusammenarbeit, Vitus!«, damals am Flughafen. Aber sie hatte ja nicht wissen können, dass er sich diesen zwischen den anderen Kollegen durchaus üblichen Kameraderieton von jeher verbeten hatte. Und schon auf der kurzen Fahrt vom Flughafen ins Präsidium hatte er ihren sachlichen und streng zwischen Beobachtung und Wertung trennenden Berichtstil als eine erfreuliche Bereicherung empfunden.
»In den anderen Kommissariaten des Präsidiums gibt es wohl keine Probleme mit den weiblichen Kollegen ...«, lässt sich der Leitende mit einem leisen Drängen in der Stimme vernehmen.
Auch darüber hatte Benedict nachgedacht. Ob er vielleicht eine prinzipielle Abneigung gegen die Zusammenarbeit mit Frauen hatte. War er frauenfeindlich? Zumindest was das Berufliche anging? Sehr genau hatte er in seiner Vergangenheit nachgeforscht, dabei aber festgestellt, dass er die Zusammenarbeit mit Frauen in der Regel der Zusammenarbeit mit männlichen Kollegen vorgezogen hatte. Sie erschienen ihm immer motivierter und kreativer. Auf den unterschiedlichen Stationen seiner Laufbahn hatte er es manchmal auch mit Frauen in übergeordneter Position zu tun gehabt. Auch da: keine Probleme. Die Meerkämperin fiel ihm ein. Die Staatsanwältin, die sich ja leider im letzten Jahr nach Berlin hatte versetzen lassen. Eine Zusammenarbeit, wie sie ihresgleichen suchte. Nein, das konnte es auch nicht sein!
»Es muss an der Chemie liegen!«
Im Gesicht des Leitenden spiegelt sich ungläubiges Staunen. »An der Chemie?«, nimmt er Benedicts letzten Satz auf.
»Ja, es gibt Leute, die einfach nicht miteinander können, und das Osterleiden hat sich seit ihrem Dienstantritt mit jedem Kollegen des 1. K angelegt. Die Stimmung im 2. Stock ist auf dem Nullpunkt!« Unkontrolliert hat Benedict den von den Kollegen verpassten Spitznamen gebraucht, und der >Leitende< reagiert mit einem abwehrenden Stirnrunzeln.
»Ich glaube nicht an Chemie! Ich glaube an zwei Dinge: die Aufgabe, die das 1. K hat, und die Aufgabe, die der Leiter des 1. K hat. Das 1. K hat Tötungsdelikte und Brandsachen aufzuklären, und Sie als Leiter haben Ihre Mitarbeiter so zu führen, dass diese Aufgabe erfolgreich gelöst wird. Und da Ihr Team nicht nur aus Männern besteht, haben Sie dafür zu sorgen, dass die Zusammenarbeit reibungslos klappt. Wenn Sie dazu nicht in der Lage sind ...«
Benedict krampft seine Hände unter dem Tisch in die Oberschenkel. So bekommt er seinen Zornausbruch, der sich ankündigt, einigermaßen unter Kontrolle. Da der Leitende an der psychologischen Struktur einer Arbeitsgruppe offensichtlich nicht besonders interessiert ist und da außerdem für Benedicts Geschmack sowieso schon zu viele nicht beendete Sätze im Raum stehen, verharrt er weiterhin in Abwarteposition.
»Bis Montagmorgen habe ich Ihre Stellungnahmen auf dem Tisch. Tut mir ja auch leid, aber... übrigens haben wir die Kollegin Osterl ... äh... Leiden-Oster zur Verstärkung in das 2. K. ausgeliehen, damit es dort endlich mit diesem Sex-Fritzen mal weitergeht, Das 2. K. ist im Moment ziemlich unterbesetzt, und diese Art Delikte waren ja in Köln ihre Stärke. Ich hoffe, dass Ihnen das die Zeit gibt, die Probleme innerhalb des 1. K zu bereinigen. Schönes Wochenende!«
Unten im zweiten Stock hält nur noch Doemges die Stellung.
Es ist später Freitagnachmittag, und das Präsidium ist wie ausgestorben. Am Samstag soll eine Art Generalprobe stattfinden für das große japanische Feuerwerk. Über eine halbe Million Zuschauer werden in der Stadt erwartet. Dieser kostspielige Feuerzauber aus Fernost war im Juli, als Benedict die überraschend heiße Inselsonne genießen konnte, wegen dauernder Regenfälle abgeblasen worden und soll jetzt, im September, an den Rheinwiesen nachgeholt werden.
Seufzend setzt sich der Hauptkommissar an seinen Schreibtisch und kramt lustlos den schmalen Einhefter aus der Schublade hervor. Die Verbindungstür öffnet sich quietschend, und das schmale Brillengesicht von Doemges lugt vorsichtig um den Türpfosten herum. »Na, Chef, wie war’s?«
»Ach ...«
Ärgerlich kippt Benedict mit dem knarrenden Stuhl nach hinten und wippt vor und zurück. »Vielleicht haben wir jetzt ein bisschen Ruhe im Laden.«
Interessiert schiebt Kommissar Doemges jetzt auch den schlaksigen Rest seines Körpers in Benedicts Dienstzimmer. »Ruhe? Bei der Woche?«
»Nein«, sagt der Hauptkommissar und setzt den Stuhl mit festem Ruck wieder auf alle vier Beine, »ich meine, mit unserer lieben Kollegin! Die geht jetzt erst mal rüber ins Zwote. Jedenfalls, solange bei uns nicht allzu viel los ist.«
Nachdenklich wirft Doemges seine schmale Stirn in Falten und lehnt sich mit vor der Brust verschränkten Armen an die Wand neben der Verbindungstür. Von draußen dringen die Geräusche des Berufsverkehrs herein.
Vitus H. Benedict weiß mittlerweile, dass er von Kommissar Doemges keine Reaktion zu erwarten hat. Anfänglich hatte ihn das irritiert, aber so ist dieser Doemges nun mal. Eben kein Ganser! Und um die Stille nicht bedrückend werden zu lassen, steht er auf, nimmt die Blechdose mit dem englischen Tee vom Regal und verlässt damit das Zimmer.
Fünf Minuten später, als er mit der dampfenden Porzellantasse zurückkommt, ist Doemges verschwunden. Benedict nippt kurz an dem heißen Getränk und beugt sich dann zögernd über die drei mit Schreibmaschine beschriebenen Papierbögen, die die Daten 2., 3. und 4. August tragen. Gegen 18 Uhr 30 legt er den Füller schwer auf die Schreibtischplatte, so als hätte er eine mühsame, beschwerliche Arbeit hinter sich gebracht, und zieht aus der Tasche seiner Tuchweste eine Taschenuhr hervor. Der Porzellandeckel springt mit leisem Klicken auf. In der Stille des Dienstraumes dröhnt das kleine Glockenspiel so laut, dass Benedict sich fast die Ohren zuhält: »Üb immer Treu und Redlichkeit, bis an dein kühles ...!«
*
Schwungvoll setzt der Chef der Protokollabteilung im Bonner Bundespräsidialamt seine Initialen auch noch unter das letzte Blatt des vierzigseitigen Entwurfs. Sorgfältig schraubt er den teuren Füllfederhalter mit der goldenen Schreibfeder zu und löscht die noch nasse Tinte ab.
Dann schiebt er die englische Version in einen großen Umschlag, den er schließlich versiegelt in die bereitstehende Kuriertasche steckt. Noch heute Abend würde das Ergebnis der monatelangen Verhandlungen mit einem diplomatischen Kurier an den Palast des Thronfolgers abgehen. Morgen früh würde der Präsident die deutsche Fassung auf seinem Schreibtisch vorfinden.
Der Staatsbesuch auf Einladung des Präsidenten ist damit perfekt. Die Maschinerie kann anrollen, damit die Visite des Thronfolgers und seiner Gattin zwischen dem 2. und 7. November reibungslos abläuft.
Der Leiter der Protokollabteilung erhebt sich von seinem polierten, nun völlig leer gearbeiteten Schreibtisch und schaut auf die Wandquarzuhr.
Es ist 18 Uhr 30.
*
Die Frau hat einen leichten Trenchcoat an und trägt einen Hut auf dem Kopf, der die Fülle ihres Haares verbirgt. Mit beiden Händen angewinkelt in den Manteltaschen, geht sie auf hochhackigen Schuhen mit einem leicht aufreizenden Gang in Richtung Parkeingang.
Als sie um die steinernen Torpfosten herum im Dunkel des Parks verschwunden ist, löst sich aus dem Schatten der gegenüberliegenden Häuserzeile eine männliche Gestalt und überquert die menschenleere Straße. Es führen mehrere Wege in und durch den Park, und als der Mann ebenfalls das Steintor passiert hat, hält er kurz inne, abwägend, welchen der fünf Wege er wählen soll.
Leise rauschen die hohen Baumkronen im Wind. Die Blätter des niedrigen Buschwerks rascheln und wispern.
Von der Frau mit dem wiegenden Gang ist nichts zu sehen oder zu hören. Nach kurzer Zeit entscheidet sich der Mann für den breitesten, geradewegs durch den Park führenden Weg und beschleunigt seine Schritte. Unter den Sohlen seiner Schuhe knirscht leise der Kies, und sein Atem wird keuchend lauter. Nach knapp hundert Metern, hinter einer leichten Wegbiegung, weiß er, dass er die richtige Wahl getroffen hat.
Die Frau ist in Sichtweite vor ihm.
Jetzt dreht sie den Kopf zurück. Bemerkt, dass sie allein mit diesem Mann auf dem Parkweg ist. Der Schritt ihrer langen Beine wird unsicher, wechselt dann. Eben noch selbstsicher und fast lockend, fällt er nun in ein hastig kurzes Trippeln.
Der Verfolger stößt einen bösartig-höhnischen Laut aus und beginnt zu laufen, um den Abstand zu der fliehenden Frau schneller zu verringern. Ein leiser Schrei.
Die Frau ist mit einem Fuß umgeknickt. Der Absatz ihres Schuhs ist abgebrochen. Sie zieht beide Schuhe aus und wirft sie von sich. Der Hut fällt ihr dabei runter, und der immer schneller werdende Mann sieht lange, helle Haare vor sich.
Aber die Frau, in ihrer würgenden Angst vor dem Mann, dessen keuchenden Atem und dessen schwere Schritte sie schon ganz dicht hinter sich hört, denkt nicht daran zu schreien. Sie macht einen folgenschweren Fehler, als sie den breiten Parkweg verlässt, um auf einem der schmaleren Nebenwege ihrem Peiniger zu entkommen.
Um noch bessere Bewegungsfreiheit zu haben, reißt sie sich den beengenden Trenchcoat vom Leibe, der an einem der Büsche hängenbleibt. Und um noch schneller fliehen zu können, rafft sie den Rock weit über die Oberschenkel nach oben.
Der Mann sieht jetzt nur noch die Frau mit den wehenden Haaren und den im Mondlicht glänzenden Oberschenkeln vor sich. Jetzt hat er die Frau erreicht. Reißt sie mit der rechten Hand an der Schulter herum und sieht das schweißüberströmte Gesicht mit den glänzenden, roten Lippen und den weit aufgerissenen Augen ganz dicht vor sich. »Nein, nein... nicht...!«
Der ruckartige Griff mit der Linken in das volle Haar im Nacken. Das grobe Zerreißen der Bluse über den angstvoll bebenden Brüsten mit der Rechten und dann ...
»Mickie! Mickielein! Komm zum Essen!«
Verdammt. Gerade an der besten Stelle. Wo diese neue Sound-Software doch so unwahrscheinlich lebensecht ist. Echt geil. Scheiße!
Unwirsch betätigt der Mann mit dem schütteren Blondhaar die Tastaturen seines Computers. Das Bild auf dem Farbmonitor fällt zusammen. Rechtzeitig.
Die Tür der kleinen Gartenlaube öffnet sich, und eine korpulente Frau steckt ihren Kopf ins Zimmer. »Immer sitzt du vor diesem blöden Ding.« Die Frau macht ein Schmollmündchen. »Ich werd’ noch mal richtig eifersüchtig! Ich hab’ dir doch dein Lieblingsessen gekocht, Junge!« Mit einem entsagungsvollen Seufzer steht der dickliche Mann von seinem Platz am Computer auf.
»Ich komme ja schon, Mama!«
*
Seit Samstagmittag strömen die Menschentrauben unaufhörlich auf die Wiesen zu beiden Seiten des Rheins. Ein Teil ist in Düsseldorfs Altstadt an den Biertheken hängengeblieben und würde später kaum noch den Weg bis an den Rhein schaffen. Die anderen versuchen, geleitet von mehr oder weniger stadtkundigen Polizeibeamten, rechtzeitig eine möglichst günstige Aussichtsposition zu besetzen. Türkische Großfamilien nutzen die Gelegenheit und breiten ihre Picknickdecken aus. Über den Wiesen steigt der Rauch kleiner Grillfeuerchen auf. Es riecht nach Schaschlik und Gyros. Vor den Eis- und Würstchenbuden bilden sich lange Menschenschlangen. Auch die aufgestellten Altbierbuden sind dicht umlagert, und schon seit fünf Uhr ist kaum noch ein Fleckchen Grün zu sehen. Die jetzt noch Kommenden werden große Schwierigkeiten haben, noch ein halbwegs freies Plätzchen zu ergattern.
Auf dem Rhein wimmelt es von kleinen und großen Booten, und auch die Rheinbrücken bleiben vom Ansturm der Besucher keineswegs verschont. Es hat sich bis nach Belgien und Holland herumgesprochen, dass das letzte japanische Feuerwerk in Düsseldorf am gleichen Platz ein Ereignis von außerordentlicher Pracht und Schönheit gewesen war, ein Schauspiel, das man gesehen haben muss!
Und immer wieder gehen die besorgten Blicke der Schaulustigen hoch zum bewölkten Himmel. Würde das Wetter diesmal halten?
»Ich hab’ Ihnen alles hingestellt, Jungchen. Kartoffelsalat ist fertig, und die Rindswürstchen brauchen Sie nur zu brühen. Nicht kochen! Bier ist wohl genug im Kühlschrank, und wenn’s nicht reicht ... zwei Kästen Budweiser sind noch in der Vorratskammer!«
»Ist gut, Lore. Ich find’ mich schon zurecht. Danke!«
»Morgen Abend bin ich ja wieder zurück. Abwasch stellen Sie einfach in die Küche. Viel Spaß zusammen. Tschüssing!«
Benedicts Haushälterin Lore hat nicht viel übrig für den Rummel, wie sie gesagt hat. »Sollen für das viele Geld lieber was Nützliches machen. Die Stadt hat sowieso zu viele Schulden!« Und so würde sie das Wochenende bei irgendeiner ihrer unzähligen Freundinnen verbringen und über alte Zeiten plaudern.
Lore besitzt die kleine Eigentumswohnung direkt über der Benedicts in dem sanierten Altbau am Oberkasseler Rheinufer. Sie ist eine nicht wegzudenkende Hinterlassenschaft der bei einem Bergunfall ums Leben gekommenen Kitty Benedict, geb. van Salm. In bewährter Manier hat sie alles für die beiden Gäste vorbereitet, die Vitus H. Benedict als Fenstergucker heute Abend in seiner Wohnung erwartet.
Normalerweise empfindet der sechsundvierzigjährige Hauptkommissar und Leiter des 1. K derartige Festivitäten an >seinem< Rheinufer als empfindliche Störung. Mit Grausen denkt er an die alljährlich im Sommer stattfindende >Größte Kirmes am Rhein<, der er regelmäßig zu entfliehen versucht. Heute aber sieht er seine Wohnlage durchaus als erfreulich an, denn er würde mit seinen Freunden ungetrübte Aussicht auf die kurzweiligen Handwerkskünste der Pyrotechniker aus Japan haben.
Mit Hanne, genauer gesagt, Rechtsanwalt Hannes, hatte Benedict schon nach seiner Rückkehr aus dem Urlaub gesprochen. Von seinem Inselabenteuer aber hat er auch dem langjährigen Freund nichts erzählt. Eigentlich komisch, denn normalerweise beredeten sie viele Dinge gemeinsam. Mit Dr. Lenzfried aus Benrath, seinem vertrauten Hausarzt, würde er gerne über ein paar andere Sachen reden, Sachen, die ihn aus dienstlichen Gründen interessierten.
Es ist noch Zeit, bis seine beiden Besucher eintreffen, und so spielt Benedict ein wenig mit seiner technischen Neuerwerbung, einem Compact-Disc-Spieler. Die modernen Geräte würden wohl unaufhaltsam die alten Plattenspieler ablösen. Zwar hängt der zuweilen konservative Benedict an seinen großen schwarzen Scheiben, er hat sich aber dennoch von der besseren Klangqualität des neuen Materials überzeugen lassen. Der kleine silberfarbene Rundling fährt fast lautlos in den Abspielschacht, und aus den zwei großen Lautsprecherboxen an der Wand neben dem Bücherregal kommt die metallisch-energische Frauenstimme, die das ganze Zimmer erfüllt.
I told you I told you
I told you I was one of those first we take Manhattan then we take Berlin
Der Song, den er schon im Urlaub oft im Radio gehört hat, berührt ihn auch jetzt wieder auf eigenartige Weise. Die faszinierende Bedrohlichkeit dieser klaren Frauenstimme verursacht eine Gänsehaut. Im Halbdunkel des Zimmers taucht das blasse Gesicht vor ihm auf, umrahmt von dünngelocktem Schwarzhaar und mit diesen Augen, deren Ausdruck von einer Sekunde zur anderen wechselt. Eben noch kritisch prüfend und nun voller glitzernder Spottsprenkelchen und dann wieder mit dem Ausdruck von schwermütiger Sehnsucht nach Umarmung und Wärme. Dort leben. Warum nicht? Er könnte es sich doch leisten. Im Gegensatz zu seinen Kollegen im Präsidium ist er auf das Geld nicht angewiesen. Und auch nicht auf die Beamtenpension. Seine Frau hat ihn wohlversorgt zurückgelassen. Und irgendwas würde er dort schon anfangen. Eine kleine Kate am Atlantik mit ein bisschen Wiese drumherum. Fast ein Ersatz für Mecklenburg und den Bodden. Keinen Ärger mehr mit irgendwelchen von Köln kommenden Emanzen.
Na, bitte. Da hat es ihn also wieder eingeholt, das Problem, sein Problem: Maria Leiden-Oster. Aus Köln. Versetzt zum 1. K nach Düsseldorf. Er hatte es doch wirklich versucht. Hatte sich seiner sonst üblichen und im Präsidium gefürchteten sarkastischen Bemerkungen enthalten. Aber schließlich war ihm ihre unnachsichtige sachliche Art, auf Rechte zu pochen und sich über vermeintliche oder auch wirkliche Benachteiligungen gleich auf dem Dienstweg zu beschweren, doch gegen den Strich gegangen.
Wie in anderen Arbeitsbereichen gibt es eben auch im 1. K kleinere Privilegien, die man sich erst nach einer gewissen Spanne der Zugehörigkeit erwirbt. In manchen Dezernaten ist das vielleicht der >eigene< Schlüssel zum Klo, in anderen ein etwas besser ausgestattetes Telefon oder ein besonderer Arbeitstisch mit einer der seltenen elektrischen Schreibmaschinen. Auch das Privileg einer interessanten Dienstreise gehört dazu, vielleicht sogar ins Ausland.
Dieses feine Gespinst erworbener oder erdienter Vergünstigungen trennt - in der Regel nur erkennbar für den Insider - die ansonsten gleiche Struktur in neue, relativ alte und wirklich alte Mitarbeiter. Es sorgt für Zufriedenheit bei denen, die schon lange dabei sind, und schafft Ansporn bei denen, die neu zum Team stoßen. Dieses System funktionierte bislang reibungslos. Seit MLOs Zugang - Benedict hat sich dieses unverfängliche Kürzel zugelegt, damit ihm nicht wieder aus Versehen ihr Spitzname herausrutscht - ist dieses System nachhaltig gestört. MLO hatte gleich in der ersten Woche die kleinen Vergünstigungen der Kollegen des 1. K aufgespürt und sie knallhart auch für sich eingefordert. Da es rational keinerlei Begründung für eine Verweigerung gegeben hatte, musste Doemges - er vertrat Benedict während dessen Urlaub - ihr diese zugestehen. Damit löste er im 1. K eine Krise aus, die bei Benedicts Rückkehr gerade ihrem zweiten Höhepunkt zugestrebt war.
Anlass war das Rauchen. Benedict ist, bis auf eine gelegentliche Havanna-Zigarre, Nichtraucher. Genau wie MLO. Während der von ihm anberaumten und geleiteten dienstlichen Besprechungen gilt ein absolutes Rauchverbot für alle Teilnehmer. Was die Beamten an ihren Arbeitsplätzen machen, ist ihre Sache, und Benedict mischt sich da nicht ein. Fast alle Leute des 1. K sind aber Raucher, und die wenigen Nichtraucher schienen bisher damit leben zu können.
Im Gegensatz zu Benedict ist MLO das, was man eine kämpferische Nichtraucherin nennt. Anfangs hatte sie sicherlich mal die Kollegen gebeten, auf das Rauchen zu verzichten, aber die hatten das wohl nicht so ernst genommen. Als nächsten Schritt riss MLO dann sämtliche Fenster auf, sobald irgendwo eine Zigarette zu qualmen begann. Als auch das keine Wirkung zeigte, ging sie dazu über, die in den Aschenbechern kokelnden Zigaretten mit Wasser zu löschen, und riss auch schon mal einem Unachtsamen die gerade angesteckte Zigarette aus den Fingern, um sie aus dem Fenster zu werfen. Damit hatte sie aber eine Eskalationsebene erreicht, die die ohnehin finanzknappen Polizisten an einer empfindlichen Stelle berührte: an ihrem Portemonnaie. Es kam zu offenen und lautstarken Auseinandersetzungen, die schließlich in einen verdeckten Kleinkrieg mündeten. Boykott, Gegenboykott und passiver Widerstand. Die Zusammenarbeit im Team bekam Risse. Als Benedict wieder ins Präsidium kam, fand er das Team in desolatem Zustand vor, und auf seinem Schreibtisch lag eine erste Beschwerde von MLO in dieser Raucherangelegenheit.
Die nächste Beschwerde folgte einen Tag danach: Einer der Neumann-Zwillinge, auch MLO konnte nicht angeben, welcher, hatte in einem Gespräch über die Serie von Sexualdelikten in Düsseldorf einen idiotischen und folgenschweren Satz von sich gegeben: »Der Spritzer ist schon wieder einer Torte an die Knautschzone gegangen!« MLO zitierte ihn in ihrer Beschwerde und forderte von Benedict eine Ahndung dieses Vorfalls. Sie fühle sich als Frau durch diese Äußerung in ihrer Würde verletzt.
Der vorerst letzte Schlag kam dann gleich einen Tag später, als einer von der ganz alten Garde, ein Hauptmeister kurz vor der Pensionierung, der sich bückenden Kommissarin Leiden-Oster im Vorbeigehen einen Schlag auf das ausgestreckte Hinterteil gegeben hatte. Er meinte, das sei doch nur ein freundlicher Klaps gewesen und sie solle das doch nicht so tragisch nehmen. Nein. Benedict hatte nichts übrig für die sabbernden Hinternkneifer und Busengrapscher, wo auch immer sie anzutreffen waren. Aber sollte er einen Großvater und alten Haudegen aus vielen Einsätzen um Teile seiner Pension bringen und mit Schimpf und Schande in die Öffentlichkeit zerren? Er hatte versucht, die Kommissarin zu einem Gespräch mit Jupp Krings zu bewegen, und sie gefragt, ob sie sich der Konsequenzen bewusst sei. Aber Granit: »Daran hätte der vorher denken sollen!« Sie hatte sich nicht erweichen lassen, und er, Benedict, sitzt nun mit dem ganzen Schlamassel da.
Bis am Montag muss er seine Entscheidung gefällt haben.
Es ist ruhig im Zimmer. Der letzte Ton der Platte ist verklungen. Draußen beginnt es dunkel zu werden. Benedict schaltet die Wandbeleuchtung an und geht auf den Flur hinaus. Nun müssten die beiden aber langsam erscheinen!
Rechtsanwalt Hannes und Dr. Lenzfried kommen dann sogar gemeinsam die Treppen rauf. Die beiden haben sich vorher nicht gekannt, und erst vor Benedicts Wohnung stellten sie fest, dass sie zum gleichen Gastgeber wollen.
»Grüß dich, Hanne! Grüß dich, Lenz!«
Man steht etwas unschlüssig vor der Flurwand mit den Stichen von Greifswald und Rostock und der alten Düsseldorfer Schuldverschreibung herum.
»Also, bevor das hier zu ungemütlich wird, schlage ich vor, dass ihr beide euch duzt. Sonst wird der Abend zu eckig! In Ordnung?«
Der immer etwas verschmitzt wirkende Rechtsanwalt streckt dem Mann mit dem vollbärtigen Gesicht seine Rechte entgegen. »Rechtsanwalt Hannes aus Meerbusch. Am besten, du sagst Hanne zu mir!«
»Dr. Lenzfried aus Benrath«, nickt der Angesprochene noch etwas hölzern mit dem Kopf, »na, und für ... dich dann Lenz!«
Die beiden Männer schütteln sich die Hände. Und dann rümpft Hannes die Nase und meint enttäuscht zu Benedict: »Ich rieche ja gar nichts, Benny! Ich dachte, es gibt eine deiner berühmt-berüchtigten Fressschweinereien. Was Japanisches oder vielleicht was Kanarisches?«
Vitus H. Benedict lacht und führt die beiden Ankömmlinge in die große Sitzküche. »Nein, heute gibt’s was Deftiges. Kartoffelsalat von Lore und Rindswürste aus Frankfurt. Rindsworscht! Dazu«, der Hausherr holt drei Flaschen aus dem großen Kühlschrank, »dann noch was Exotisches aus Hessen: Licher Bier. Prost allerseits!«
Die drei fast gleichaltrigen Männer stoßen klirrend an und trinken in tiefen Zügen aus den braunen Flaschen mit dem grün-weiß-goldenen Etikett. Nachdem der erste Durst gelöscht ist und die halb geleerten Flaschen wieder auf dem Küchentisch stehen, meint Hannes: »Nicht schlecht! Wo hast’n das her?«
»Hat mir der Dicke aus Frankfurt letzte Woche mitgebracht. Auch die Würstchen. Ist’n Dauerauftrag von mir. Jedes Mal,wenn Dr. Huber mal nach Düsseldorf kommt, muss er einen Kasten Licher und zwei Dutzend Rindswürste mitbringen.«
»Ja, ja, der Huber!«, grinst Rechtsanwalt Hannes und lacht in sich hinein. Auch Benedict kann sich ein Grinsen nicht verkneifen, als er an sein Abenteuer auf Fuerteventura und die Begegnung mit diesem gamsbartbehüteten Berliner Frankfurter denkt.
»Ich setze die Würstchen auf«, sagt er, und seine beiden Freunde tragen die Schüssel mit Kartoffelsalat ins Wohnzimmer hinüber.
»Was ich Sie fragen wollte ... äh ... was ich dich fragen wollte«, auch für Hannes ist das neue Du noch ungewohnt, »was is’n das für ’n Wagen, den du da fährst?«
Schon beim Einparken hatte er das ungewöhnliche Fahrzeug Dr. Lenzfrieds bewundert.
»Schön, nicht?«, antwortete der. »Ein Morgan. Ist ein auf alt gemachter Neubau und nach meiner Scheidung die einzige Leidenschaft!«
»Du auch? Ist ja der reinste Club der Witwer und Waisen hier ... au Verzweiflung!« Rechtsanwalt Hannes fährt sich mit der Hand erschrocken vor den Mund. Aber Benedict, der die letzte Bemerkung wohl nicht mitbekommen hat, ruft nur aus der Küche: »Er hat auch noch einen traumhaften MG Twin Cam in der Garage stehen. Ist ein richtiger Veteranenfreak, der Herr Doktor!«
Dann haben sie die erste Wurstrunde hinter sich gebracht, und während Hannes sich in Benedicts Plattensammlung vertieft, stehen Dr. Lenzfried und der Gastgeber vor dem großen Rheinfenster und schauen hinaus auf das Meer der Großstadtlichter. Auch auf dieser Seite des Rheins drängen sich die Massen im Widerschein des lichterspiegelnden Gewässers. Das Bootsgetümmel auf dem Fluss hat beängstigende Ausmaße angenommen, und durch das zur Seite geschobene Fenster hört man Gelächter, Musik und die Sirene eines Einsatzfahrzeugs, dessen blaues Flackern sich hektisch über die Kniebrücke bewegt.
Die Stimme, die jetzt aus den Boxen schallt, klingt wie sprödes Eis. Ich reda zu viel und lach zu laut / Geständnisse in feuchtem Licht / Und du sagst leise / Ich dich nicht ... »Diese neuen Sängerinnen scheinen jetzt in Mode zu kommen«, meint Benedict zu Hannes, der sich mittlerweile zu den beiden am Fenster gestellt hat und neugierig zum Rhein herunterschaut. Der nickt. »Interessante Stimmen. Und noch wichtiger ist wohl, dass sie wirkliche Texte mit 'ner Menge Zunder dahinter zu bieten haben. Die Mädels setzen sich langsam durch!«
»Und das nicht nur beim Singen«, schließt der bärtige Lenzfried an.
»Mmh«, meint Benedict mit kaum verhohlener Skepsis in der Stimme.
»Apropos Frauen«, wendet sich der Doktor an den Gastgeber, »ihr müsst da mal langsam mit diesem psychopathischen Sex-Menschen weiterkommen. Ich habe viele Frauen in der Praxis, die das ganz schön mitnimmt. Und es gibt anscheinend auch noch ganz andere Entwicklungen in dieser Sache, die ziemlich beunruhigend sind!«
»Ach, fängst du jetzt auch schon damit an«, reagiert der Polizist Benedict unwirsch. »Lass mich bloß in Ruhe! Genügt schon, dass die Presse uns dauernd anmacht. Außerdem ist das bei uns die Sache vom 2. K. Das gehört also gar nicht in meinen Bereich. Und du bist doch Internist, da kommen die Frauen mit so was?«
»Oh, oh, oh - da habe ich wohl den schwachen Nerv des Herrn Kriminalkommissars getroffen. Du hast recht, mei Liaba, ich bin Internist. Nur - hast du dir schon mal überlegt, wieso meine Praxis immer brechend voll ist, obwohl ich nicht gerade die modernsten medizinischen Apparate habe?« Dr. Lenzfried gibt sich die Antwort selber. »Weil ich noch mit den Patienten rede, und im Moment sprechen die Frauen einer bestimmten Altersgruppe eben sehr viel über ihre diesbezüglichen Ängste! Und da ist noch was, das habe ich von meinen Sprechstundenhilfen gehört. Das zumindest dürfte auch den Herrn Oberpolizisten interessieren: Es haben sich offenbar in mehreren Stadtteilen Frauengruppen gebildet, die sogenannte Selbstverteidigungskurse organisieren. Die Stimmung unter diesen Frauen könnte man so beschreiben, dass - wenn die Polizei nicht bald Erfolg hat - sie selber auf die Jagd gehen wollen. Und was das heißt, das kann sich ja wohl auch dein geschrumpfter Bullenverstand vorstellen, oder?« Dr. Lenzfried hat sich richtig in Rage geredet.
»Du meinst richtige Selbstjustiz«, greift der Rechtsanwalt nun wach in das Gespräch am Fenster ein, »eine Frauenmiliz in Düsseldorf?«
»Quatsch«, versucht Benedict brüsk die ihm unliebsame Diskussion abzuwürgen.
»Bitte, wenn du meinst!« Leicht verstimmt wendet Dr. Lenzfried den Blick wieder aus dem Fenster, aber Rechtsanwalt Hannes lässt so schnell nicht locker. »Du bist zwar Internist und kein Psychiater, aber als Arzt könntest du mir vielleicht sagen, was das deiner Ansicht nach für ein Mensch ist, der so was macht. Ich meine, nach allem, was so in der Öffentlichkeit bekannt ist, kann der doch wohl nicht normal sein, oder?«
»Was ist schon normal, könnte ich dich fragen. Aber abgesehen davon, du hast schon so ungefähr recht. Der Umstand, dass dieser Mann kein einziges Mal den Versuch gemacht hat, den Geschlechtsverkehr mit seinen bisher bekannten 18 Opfern zu vollziehen, weist schon auf einige Störungen hin. Womit ich aber nicht gesagt haben will, dass er unter anderen Umständen als normal zu betrachten wäre. Ich meine, wenn er seine Opfer wirklich vergewaltigt hätte!«
»Nein, natürlich nicht. Das andere ist schon ekelhaft genug für die Betroffenen!«
»Es kann unter Umständen sogar demütigender für die Opfer sein als eine wirklich vollzogene Vergewaltigung mit Geschlechtsverkehr, denn um die Vergewaltigung eines Menschen handelt es sich in jedem Fall, auch dann, wenn dieser Täter seine Opfer >nur< dazu zwingt, ihm als Onanierhilfe zu dienen. Aber das ist genau das Merkwürdige an diesem Fall. Ich gehe davon aus, dass die seelischen Störungen bei diesem Menschen sogar noch größer sind als bei anderen Vergewaltigern, denn er scheint nicht in der Lage zu sein - aus mir unbekannten Gründen diesen Geschlechtsverkehr zu vollziehen. Dafür kann es mannigfaltige Gründe geben ...«
»Aber er hat immerhin keines seiner Opfer getötet!«, wirft der Anwalt ein, bevor sich Dr. Lenzfried in komplizierte Ursachenforschung vertiefen kann.
»Bis jetzt! Auch dafür kann es alle möglichen Gründe geben. Es braucht nur eine ganz bestimmte Konstellation einzutreten, und dann fällt auch diese Schranke. Dieser Mann muss in einer völlig verzweifelten psychischen Lage sein, und da genügt oft ein winziger Anlass. Nein, das beruhigt mich nicht ... und dann, lieber Benny, wirst auch du nicht mehr >Quatsch< sagen können, denn dann fällt es in deinen Bereich!«
»Na gut, ihr großen Ursachenforscher, aber bis es so weit ist, können wir vielleicht das Feuerwerk genießen«, sagt Benedict und deutet mit dem Zeigefinger nach oben, wo sich am dunklen Himmel eine weitgefächerte, gelbe Chrysantheme mit platzendem Knall ausdehnt. Aus der Zuschauermenge hört man Aahs und Oohs heraufschallen. Das nächtliche Fest beginnt. Es ist zweiundzwanzig Uhr, und die ersten Regentropfen fallen nun doch vom Himmel.
*
Sauerbraten machte seine Mutter echt lecker.
Nach dem Essen legte er sich aufs Sofa im Wohnzimmer und hielt ein Mittagsschläfchen, bis ihn der Duft von Kaffee und selbstgebackenem Kuchen gegen vier Uhr nachmittags wieder weckte. Noch nachdösend nahm er das vertraute Klappern und Klirren aus der Küche wie durch einen Wattebausch wahr und gab sich wohlig den aufsteigenden Phantasien hin. Gerade als er begann, den Bildern in seinem Kopf die gewünschte Richtung zu geben, rief ihn die Stimme seiner Mutter zum Kaffeetrinken in die Küche.
Dann zog er sich wieder in seine Laube zurück, wo er endlich das neue Spiel zu Ende bringen konnte. Anschließend ging er, immer unruhiger werdend, in dem kleinen Raum mit der Klappcouch und dem Computerplatz hin und her, auf und ab. Er kannte die Anzeichen mittlerweile. Versuchte auch nicht mehr, wie bei den ersten Malen, sich ihnen entgegenzustemmen. Erst diese umfassende Unruhe, dann die Verlagerung des unruhigen Herzschlags hinauf in den Hals. Dieses Gefühl, als wäre der Hals mit einem Mal ein dicker pochend aufquellender und die Luftröhre einengender Ring. Dann die Ausdehnung eines heftigen Fieberschauers auf die ganze Hautfläche des Körpers, die einer pulsierenden Sonne ähnlich Hitzewellen abstrahlte. Eine gewaltige, sich ständig aufblähende Herpesblase.
Gegen neun Uhr abends hielt er es nicht mehr in dem engen, stickigen Raum aus. Er stürzte hinaus und nahm den üblichen Weg, nicht ohne vorher das lange, scharfe Messer aus dem Versteck zu holen.
Jetzt, als das Feuerwerk beginnt, stolpert er suchend zwischen den dunklen Leibern der Schaulustigen am Rheinufer herum. Fast ängstlich vermeidet er jede Berührung. Ein kleiner Junge umkurvt wieder und wieder den Herumtaumelnden, den er offensichtlich für betrunken hält, kreist dabei mit einer Hand über dem Kopf und kräht laut: »Blaulicht, Blaulicht, Blaulicht!« Der Mann mit der heißen Haut, die ihm fast die Kleider zu verbrennen scheint, stößt das Kind schließlich zu Boden und entflieht der Polizeiwagenfantasie des Kleinen.
Plötzlich stoppt der Anblick einer mit dem Rücken ihm zugewandten Frauengestalt das ziellose, wirre Straucheln des Mannes. Die Gestalt ist wie alle anderen am Ufer in die Betrachtung der zerplatzenden Feuerträume vertieft und hat den Kopf leicht nach hinten gebeugt. Sie steht am Rand der Menschenmenge, nur noch kleine Grüppchen von Zuschauern und einzelne Betrachter werden hier vom Schein der Himmelsbilder angeleuchtet. Zu spät Gekommene, aber auch Flüchtige vor der Masse.
Die Frau trägt einen eng gegürteten Regenmantel und hat einen Hut auf dem Kopf. Sie steht auf leicht gespreizten, schlanken Beinen und hat beide Hände in die Manteltaschen gesteckt. Der Mann nähert sich der ahnungslosen Frau von hinten und zieht die Waffe aus der Hosentasche. Als die Klinge herausfährt, bemerkt er erstaunt, dass sie nass wird. Auf dem blau-fettigen Stahl perlen Regentropfen. Im Schein der krachenden Feuerbälle und Raketen beginnt die Feuchtigkeit auf dem Metall sich zu verfärben, Blau, grün, silberfarben, rot... Ganz dicht steht er jetzt hinter der Frau. Wieder merkt er, wie sich all sein Blut nur noch an einer Stelle seines Körpers staut. Sein Atem wird gierig und röchelnd. Er atmet schon ihren Geruch ein. Ein Geruch, der ihm eigenartig vertraut vorkommt, eine dunkle Erinnerung zurückzurufen scheint. Dann presst er sich mit dem ganzen Gewicht seines heißen Körpers von hinten an die Frau ... legt seinen linken Arm schraubstockartig um ihre in den Taschen vergrabenen Unterarme ... nimmt ihr durch sein von hinten zwischen ihre Schenkel geschobenes Bein die sichere Standfestigkeit ... hält ihr mit der rechten Hand das Stilett mit der scharfen Spitze nach oben an die Halsschlagader und flüstert heiser: »Nicht bewegen! Ich bin der Spritzer!«
Die Frau, die eben noch die blitzartige Attacke ohne Anstalten zur Gegenwehr über sich ergehen ließ, dreht ihren Kopf beim Klang der Stimme an ihrem Ohr völlig überrascht und jede Vorsicht vergessend nach dem Angreifer um. »Duuuu?!« Die eben ängstlich geöffneten Lippen finden sich zu einer höhnischen Grimasse zusammen. Die noch vor Sekunden weit auf gerissenen Augen verengen sich zu diesem bösartig-spöttischen Katzenblick, den er immer so gefürchtet hat. Natürlich. Der Geruch. Ihr Geruch! Wenn sie jetzt bloß nicht wieder anfängt ...
»Du ekelhaftes Schwein!«, springen ihn die Worte aus dem jetzt vor Wut verzerrten Gesicht an, »du, du ... perverses Muttersöhnchen ... ist das alles, was du auf Lager hast?... Mehr hattest du ja noch nie zu bieten... du, du...«
»Sag es nicht...«, wimmert es aus seinem Mund, »sag es nicht... sag es nicht! Bitte. Bitte!!!«
Der Schluss des glänzenden Spektakels über dem Rhein kündigt sich an. Die Zuschauerränder lösen sich schon langsam auf. Aus der Mitte einer auseinanderstrebenden, weißen Himmelspflanze entfaltet sich mit einem Knall eine prachtvolle blaue Blume, aus deren verlöschenden Funken wiederum mit einem Kanonenschlag eine strahlend rote, den ganzen Himmel ausfüllende Chrysantheme entsteht. Die Stahlseile der Rheinbrücken scheinen zu glühen, und die Gesichter der nach oben jubelnden Menge verfärben sich im Schein des Himmels. Das Wasser des Rheins wechselt in ein fleckiges Rot. Blutrot.