Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 12

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Als Benedict aus dem grün-weißen Ford Scorpio aussteigt, stehen die beiden Arbeiter von der Stadt neben zwei uniformierten Beamten und schildern einem Reporter ungeniert ihre morgendlichen Erlebnisse. Der RP-Fotograf, der wohl heute die Sonntagsmesse versäumen wird, probiert eine neue Einstellung. Am Montagmorgen wird das Bild im Düsseldorfer Lokalteil die beiden Stadtreiniger neben zwei Polizisten und direkt neben der verkrümmt liegenden Leiche zeigen. Das Foto wird der Beweis sein für eine souveräne Aufnahmetechnik, denn in Wirklichkeit findet das Gespräch über dreißig Meter vom Fundort entfernt statt.

»Mensch, Herr Onkelbach, ziehn Sie Ihre Show gefälligst woanders ab, Sie seh’n doch, dass wir hier zu tun haben!« Benedict staucht den RP-Mann lautstark zusammen, was zur Folge hat, dass er sich zusammenzuckend mit der rechten Hand an den Kopf fasst. Der Reporter grinst mitleidvoll-verschwörerisch. »Na, na, na, 'n bisschen freundlicher zur öffentlichen Meinung! Eins von den dreißig Bieren war wohl schlecht, was?«

Der Hauptkommissar bringt nur ein bemühtes Lächeln zusammen, und bevor er noch was sagen kann, hat sich der Zeitungsmensch mit dem Fotokollegen im Schlepptau auf den Weg in seine Redaktion gemacht.

Fröstelnd geht Benedict zur Mitte des Fundbezirks zurück, der mit gelben Bändern abgesperrt ist. Neben der Leiche hockt Doemges wie ein spitzschnabliger Brillengeier und schreibt eifrig in sein Notizbuch. Die beiden Neumänner suchen mit starr nach unten gerichteten Blicken Meter um Meter des abgesperrten Areals ab.

Nachdem der Fotograf - diesmal der richtige - seine Aufnahmen gemacht hat, betrachtet auch Benedict nochmals den zusammengekrümmten Körper. Die Frau ist noch ziemlich jung. Vielleicht Ende Zwanzig oder Anfang Dreißig. Ein herbes Profil mit halblangem Blondhaar. Das Gesicht schon in wächserner Leichenblässe erstarrt. Ein beigefarbener Hut mit einer breiten Krempe liegt ziemlich mitgenommen neben der Leiche im zertrampelten Gras. Mantel und Rock sind hochgeschoben und lassen eine zerrissene Strumpfhose sehen. Blut am Hals. Rostrote Flecken auf dem Mantelrücken, hauptsächlich um die Einstichstellen herum. Und noch andere Fleckenränder.

Benedict kommt ächzend wieder aus der Hocke hoch. Er spürt, dass ihm Knie und Waden vor Anspannung zittern. Prüfend spreizt er beide Hände waagerecht und betrachtet die unruhig tanzenden Finger. Was für ein Sonntag! Der Restalkohol würde sicherlich noch zwei Tage ausreichen.

Nachdem gestern die letzte Rakete verglüht war, stellten sie der Einfachheit halber den Kasten Bier gleich ins Wohnzimmer neben den Tisch und spielten eine endlose Reihe von Bock- und Ramschrunden.

Gegen sechs Uhr morgens, graues Regenlicht drang durch das große Fenster, war auch der zweite Kasten fast geleert, und Benedict legte seine beiden Gäste auf dem Sofa und der Gästematratze ab, bevor er selbst völlig groggy aufs Bett fiel.

Das endlose Gedudel des Telefons drang schließlich doch noch durch die Bierschwaden seines völlig benebelten Gehirns, und als der Fahrer des Einsatzfahrzeugs unten klingelte, torkelte Benedict noch immer schwankend die Treppe runter und blinzelte aus verklebten Augen in das Licht dieses frühen Sonntags. Der Polizeimeister am Steuer übte sich in Nachsicht und öffnete außerdem die Fenster des Wagens weit.

Jetzt lässt der Hauptkommissar sich schlaff auf den Sitz des VW-Transporters fallen und beobachtet, mühsam die Augen offenhaltend, den Abtransport der Leiche in die Rechtsmedizin.

Doemges hat sein Notizbuch eingesteckt und kommt zu Benedict herübergeschlendert. »Sollen wir Sie zum Präsidium mitnehmen, Chef?«

Der erhebt sich mühsam und winkt schlaff ab. »Nee, nee, lassen Sie mal. Ich brauche Bewegung an der frischen Luft. Kleiner Rheinspaziergang wird mir sicher guttun!«

Doemges versucht, teilnahmsvoll dreinzuschauen, aber das sieht aus, als hätte er gerade auf eine Pfefferschote gebissen. Er winkt den beiden Neumännern zu. Der beigefarbene VW Golf mit den drei Männern vom 1. K hinterlässt tiefe Spuren auf dem regennassen Rheinufer.

Hauptkommissar Vitus H. Benedict erhebt sich stöhnend und stapft in Richtung Rheinterrassen. »Hoffentlich hilft’s«, knurrt er vor sich hin.

*


Der Beschluss des siebenköpfigen Armeerates fällt in der Nacht von Sonntag auf Montag. Er ist einstimmig. Die in einem Hinterzimmer des Prisoners' Defence Fund Club im Belfaster Stadtteil Andersonstown tagenden Mitglieder des hohen Koordinationsstabes haben den ganzen Sonntag die Kopie des vierzigseitigen Ablaufplanes aus Bonn sehr genau studiert und beraten. Jetzt ist die endgültige Entscheidung gefallen. Sicher, über den möglichen Besuch des Thronfolgers und seiner Frau in Westdeutschland wurde schon seit einem halben Jahr heftig spekuliert. Auch die wahrscheinlichen Stationen, Bonn, Westberlin, Düsseldorf, Köln, Hamburg und München, hatten die Spatzen fast von den Dächern gepfiffen. Ein Spezial-Kommando, das unmittelbar dem Armeerat unterstellt ist, bereitete sich schon nach den ersten Informationen im April ganz allgemein im Territorialbereich Süd auf eine mögliche Operation in Westdeutschland vor.

Jetzt aber kann die Aktion auf der Basis des vorliegenden Materials in das exakte Vorbereitungsstadium treten. Ablenkungsmanöver sind fixiert, Ort und voraussichtlicher Zeitpunkt des Angriffs festgelegt. Anweisungen zum Aufwecken des Schläfers im Operationsgebiet werden nach Beendigung der Einsatzbesprechung gegeben. Wenn die drei Kämpfer des Spezial-Kommandos im Angriffsgebiet eintreffen, werden sie eine sichere Operationsbasis vorfinden.

Als die Strahlen der aufgehenden Septembersonne ihren Glanz auf die Kuppeln der Belfaster City Hall werfen, ist der Führungsoffizier schon auf dem Weg über die grüne Grenze. Im Laufe des Vormittags wird er dem Kommando den Kampfauftrag übermitteln.

Die wichtigste Operation seit der Liquidierung Lord Mountbattens kann damit beginnen.

Die Operation mit dem Codenamen Berlin.

*


An diesem Dienstag ist die Meute friedlich. Es ist nichts zu spüren von dem üblichen Gehechel und Gehetze. Zufrieden sitzt Pressesprecher Stüchow neben dem Leiter des 1. K und verzieht den schmalen Mund zu einem andeutungsweisen Lächeln.

Die im Presseraum versammelte Reporterschar ist auf ganz andere Beute aus. Der Tod der jungen Frau am Rande des japanischen Feuerwerks, der normalerweise die regionale Presse zu Balkenüberschriften veranlassen würde, motiviert die Grenzgänger der Informationslandschaft heute nur zu halb lahmen Nachfragen. Sie genügen eben ihrer Chronistenpflicht, sind aber in Wirklichkeit mehr an dem morgigen Großkampftag mit Staatsbesuch und Fußballspiel interessiert.

»Können wir denn schreiben, dass das der >Spritzer< von Düsseldorf war?«

Hauptkommissar Vitus H. Benedict räuspert sich und sieht den Fragesteller über den Goldrand seiner Brille hinweg an.

»Ja. Können Sie ruhig schreiben. Die Laboruntersuchung in der Rechtsmedizin hat zu dem Ergebnis geführt, dass die auf dem Mantel der Toten vorgefundenen Spermareste identisch sind mit denen, die auch in den achtzehn vorangegangenen ähnlichen Fällen gefunden wurden.«

»Ähnliche Fälle? In diesen achtzehn Fällen sind die Opfer aber nicht ermordet worden!«

»Hat man bei der Laboruntersuchung denn auch herausgefunden, ob der Mord vorher oder nachher passiert ist?«, hakt Granten von BILD doch noch mal nach.

»Was meinen Sie damit? Vorher? Nachher?«

»Na ja, hat er gespritzt, bevor die Frau tot war, oder erst danach?«

Benedict blättert, nach außen hin stoisch, in seinem Notizbuch herum. Stüchow, mit seinem üblichen Messermund, blickt starr vor sich auf den Tisch.

»Nein. So weit gingen die Untersuchungen nicht. Dürfte wohl auch ziemlich schwer festzustellen sein«, sagt Benedict schließlich. »Warum? Ist das denn so wichtig für Sie?«

Bevor der BILD-Mann antworten kann, nimmt ihm ein boshafter Kollege von der Konkurrenz die Arbeit ab. »Wegen des Super-Aufmachers: Düsseldorfer Frauen in Todesangst: Vom Leichenwichser gejagt!«

Die Zeitungsherrenrunde gröhlt und klatscht sich auf die Schenkel, Benedict stockt für einen Augenblick der Atem, und er fragt sich, ob diese Meinungsclowns da vor ihm genauso reagiert hätten, wenn die Kommissarin Leiden-Oster statt seiner hier säße. In die immer noch lärmende Unruhe hinein versucht er, etwas zu sagen, aber die Stimme kippt ihm um, und heraus kommt ein verunglücktes Kiecksen. Der Pressesprecher springt spontan ein. »Gibt’s sonst noch Fragen?«

»Wie weit sind die Ermittlungen?« - »Wann ist mit einer Festnahme zu rechnen?« - »Haben Sie schon einen Verdächtigen?«

Doch die Fragezeichen sind heute im Presseraum des Präsidiums nicht so scharfkantig wie sonst und lassen ihren Fleischerhakencharkter vermissen.

»Sie können schreiben, dass wir eine aussichtsreiche Spur verfolgen und dass bald mit einer Festnahme zu rechnen ist!«

Auch jetzt keine unangenehmen Nachfragen, sondern reichlich desinteressiertes Gemurmel unter den Presseleuten. Draußen auf dem Flur kündet scharrender Lärm vom Herannahen einer größeren Menschengruppe, dann geht die Tür auf, und angeführt von den beiden Einsatzleitern des morgigen Tages und einem Beamten der Sicherungsgruppe Bonn strömen Fotografen, Reporter und Kameraleute von RTL plus, SAT 1 und WEST 3 in den plötzlich zu kleinen Presseraum.

Vitus H. Benedict erhebt sich von seinem Platz neben Stüchow, murmelt irgendetwas Abschiedsartiges und geht hinauf in den zweiten Stock.

Das 1. Kommissariat macht den Eindruck einer ganz normal funktionierenden Dienststelle. Die Ermittlungen, die sich mit dem Tod der jungen Frau am Rheinufer befassen, scheinen auf vollen Touren zu laufen. Noch am Sonntagmittag nahm die sofort gebildete Sonderkommission ihre Arbeit auf. Der Staatsanwalt der Sonntagsbereitschaft kam wenig später, noch mit Kuchenkrümeln in den Mundwinkeln, ins Präsidium gehetzt.

Benedict ordnete als Leiter der Kommission die sofortige Rückversetzung der Kommissarin Leiden-Oster vom 2. in das 1. K an und forderte drei weitere Beamte von der Sitte für die Sonderkommission an. Es war eine rein gefühlsmäßige Entscheidung, denn zu diesem Zeitpunkt lagen die Analysen des Labors noch gar nicht im Präsidium vor.

Als am Montag dann die Untersuchungsergebnisse der Laborspezialisten auf eine Täteridentität zu den 18 sogenannten >Spritzer<-Fällen hindeuteten, legitimierte sich Benedicts Entscheidung, und die Sonderkommission hatte ihren Spottnamen weg: die SpriKo.

Die Auswertung des Tatortfundberichtes, die Doemges noch am Sonntag angefertigt hatte, ergab im Wesentlichen, dass die Leiche der jungen Frau von zwei Arbeitern der städtischen Müllabfuhr am Sonntag gegen 7 Uhr morgens entdeckt worden war. Die beiden Arbeiter gehörten zu einer Schicht, die auf beiden Seiten des Rheins die Abfallreste des vorabendlichen Schauspieles beseitigen sollten. Sie informierten die Polizei über ihren Schichtleiter.

Die Umgebung des Fundortes war von den Fußspuren vieler tausend nächtlicher Heimkehrer übersät. Der in der Nacht zum Sonntag einsetzende Regen hatte alles weitere besorgt. Allerdings wiesen abgebrochene Zweige im Buschwerk darauf hin, dass die Leiche der Frau von einem Platz neben einem größeren Busch etwas weiter in das Gestrüpp hineingeschleift worden war. Vermutlich, um sie wenigstens halbwegs vor den Blicken der abwandernden Schaulustigen zu verbergen.

Die Leiche hatte auf der rechten Seite gelegen. Der Kopf bildete einen unnatürlichen Winkel zur rechten Schulter, so als hätte die Frau versucht, das aus der Halsschlagader pulsierende Blut mit dem Schulterknochen zu stoppen.

Die Halswunde war in dieser Stellung nicht zu sehen, aber der Mantel war in Schulterhöhe von Blutflecken verklebt und verkrustet. Der beigefarbene Regenmantel der Frau wies auf dem Rücken, etwa in Höhe des linken Schulterblattes und zwei Fingerbreit seitlich davon, mehrere Risslöcher auf.

Es musste ein Leichtes für den Täter gewesen sein, im Gedränge der nach Hause schiebenden Menschenmassen unbemerkt den Tatort zu verlassen. Er hatte nicht mal ihre Geldbörse mit immerhin dreihundertsechzig Mark und mit ihrem Personalausweis an sich genommen.

So konnte die Sonderkommission sofort die Identität des Opfers feststellen: Brigitte Craatz, 32 Jahre, mit Wohnsitz im Düsseldorfer Stadtteil Gerresheim.

Noch am Abend wurde die Zweizimmerwohnung auf der Heyestraße von Beamten der SOKO durchsucht. Ein Hinweis auf ein Motiv für den gewaltsamen Tod der Craatz fand sich bei dieser ersten Inaugenscheinnahme nicht.

Als Hauptkommissar Benedict am späten Abend des Sonntags in seine von Lore wieder aufgeräumte Oberkasseler Wohnung zurückkehrte, konnte er sein müdes Haupt in dem Bewusstsein auf die Kissen betten, dass die SOKO schon sehr viel wusste.

Am Montag lagen dann die Ergebnisse des Labors vor, und alles schien darauf hinzudeuten, dass diesmal eines der zufälligen Opfer des >Spritzers< genau die Konstellation verursacht hatte, auf die Dr. Lenzfried noch am Samstagabend warnend hingewiesen hatte.

Routinemäßig forschte die SOKO dennoch im Umfeld der toten nach möglichen anderen Motiven, und die Kommissarin Leiden-Oster konnte ermitteln, dass die tote Brigitte Craatz bis vor sechs Monaten noch den Familiennamen Helbig getragen hatte, bis zur Scheidung von Herrn Helbig. Kommissarin Leiden-Oster schickte also am Montagnachmittag den Kriminalhauptmeister Dunklenbroich zum Wohnsitz des geschiedenen Mannes von Brigitte Craatz, um eine routinemäßige Befragung durchzuführen.

Das Ergebnis dieser Befragung landete dann heute Morgen auf Benedicts Schreibtisch: Michael Helbig wohnt bei seiner Mutter in Gerresheim und ist arbeitssuchend. Ehemaliger Programmierer bei Siemens. Am Ende noch ein handschriftlicher Nachsatz: Unterstrichen! »M. H. unbedingt nochmals persönlich einvernehmen! Mutter?« KHM Dunklenbroich konnte selbst von Benedict nicht mehr befragt werden, da er schon von der Mittwoch-Einsatzleitung für eine Sonderaufgabe angefordert und abgestellt worden war. Anweisung von oben. Benedict hatte den Vorgang daraufhin auf Doemges’ Schreibtisch zur Weiterbearbeitung gelegt. Routine. Wie gesagt, die Ermittlungen im Mordfall Craatz nehmen ihren routinemäßigen Fortgang. Alles läuft ganz normal. Dennoch hat Benedict in seinem Dienstzimmer den Eindruck, dass im Augenblick das gesamte Präsidium nur mit dem Ablauf des morgigen Tages beschäftigt ist. Kaum ein Beamter, der nicht zu irgendwelchen Zusatzdiensten eingeteilt ist. Auch seine Leute vom 1. K und der SOKO tragen auf zwei Schultern.

Hauptkommissar Benedict runzelt die Stirn und schüttelt nachdenklich den Kopf.

Ab Donnerstag würden sie endlich wieder normal arbeiten können.

Vitus H. Benedict sitzt vor dem Fernseher und schwankt seit einiger Zeit zwischen Abschalten, Umschalten und Weiterglotzen hin und her.

Der Besuch des Herrn aus Ost-Berlin, den er selbst noch in Blauhemd und kurzer Hose erlebt hatte, war bei Kaiserwetter und ohne größere Probleme über die Düsseldorfer Bühne gegangen. Während im ZDF das Fußballspiel Deutschland-England läuft, bemüht sich das Erste Deutsche Fernsehen, den tagsüber vermiedenen Krampf komprimiert nachzuholen. Die Live-Interviews mit Bürgern aus Ost und West aus Anlass des großen Ereignisses verursachen Benedict Magenschmerzen, und an manchen Stellen steigt ihm sogar die Schamröte ins Gesicht, wenn da offensichtlich vorbereitete und instruierte Deutschmenschen-Ost und auf der anderen Seite naive, uninformierte Deutschmenschen-West gleichermaßen von ihren Verkrampfungen Zeugnis ablegen.

Aber das Fußballspiel ist auch nicht gerade eine Augenweide, und in einem Anfall von TV-Masochismus tut sich Benedict nach dem Abpfiff noch >Kennzeichen D live aus Ost-Berlin< an. Er hört sich zum x-ten Male die wohlformulierten Ermahnungen der Experten von hüben und drüben an, doch die Realitäten so zu akzeptieren, wie sie sind, und dass doch überhaupt alles schon viel besser geworden sei. Der Gedanke aber, dass sein Greifswald, sein Anklam oder sein Rostock für ihn Ausland zu sein haben, dieser Gedanke erscheint ihm nicht akzeptabel. Würde man denn einem Iren so etwas zumuten, schießt es ihm durch den Kopf. Aber die haben auch keinen Zweiten Weltkrieg begonnen und ganze Völker niedergetreten. Also Recht auf Kampf und Gefühl verwirkt? Für immer und ewig? Wie lange hat eine Nation mit dem Verlust ihrer eigenen Identität für begangenes Unrecht zu büßen? 50 Jahre, 100 Jahre oder gar 1000? Benedict gießt sich schon den vierten Whisky aus der grünen Flasche ein. Seine Gedanken irren weiter. Verhaspeln sich auf zu langen unsicheren Beinen. Stolpern, fallen und rappeln sich mühsam wieder auf. Nur er und die MLO heute im 1. K. Einen ganzen Tag lang mit der Dame. Weiß der Deibel, auf welchen Straßen sich der Rest der Bagage rumgetrieben hatte. Er hatte versucht, die Gelegenheit beim Schopf zu ergreifen und das gespannte Verhältnis zu seiner neuen Kollegin etwas zu entkrampfen. Hatte von sich aus die Initiative ergriffen und ein bisschen von sich privat gesprochen. Hatte versucht, die Hintergründe manchen Handelns und bestimmter Einstellungen zu erklären, um ihr damit gleichfalls eine Chance zu eröffnen.

Nein. Sie war nicht darauf eingegangen. Hatte ihn voll auflaufen lassen, erst wortlos zugehört, dann mit dürren, nüchternen Worten schnell klargemacht, dass sie nur an dienstlichen Belangen interessiert sei.

»Wenn ich im Dienst bin, lasse ich sämtliche privaten Dinge und Probleme außen vor. Hier im Präsidium, auf der Dienststelle bin ich Polizeibeamtin. Das ist meine verbindliche Richtschnur, mit der ich in der Vergangenheit gut gefahren bin. So werde ich auch hier arbeiten, und die Kollegen werden sich daran gewöhnen müssen!«

Damit war für sie die Sache offensichtlich erledigt, denn sie sprach übergangslos den Fortgang der Craatz-Ermittlungen an. Da werden wir alle noch viel Spaß haben, denkt Benedict, mittlerweile auf dem eisigen Grund des vierten Glases angelangt. Was waren das noch für Zeiten, als der Ganser noch da war. Aber morgen, morgen gehen wir die ganze Sache richtig an. Morgen ...

Das leere Glas fällt fast lautlos auf den weichen Teppich, und das einsetzende unregelmäßige Schnarchen schafft es nicht, den munter weiterplappernden Fernseher zu übertönen.

*


Überraschend war der Abmarsch aus dem Vorbereitungscamp vorverlegt worden. So als hätte ein unvorhergesehenes Ereignis die Änderung eines Planes erforderlich gemacht. Die drei Kämpfer des Spezial-Kommandos hatten sich auf getrennten Wegen zu der angegebenen Schleusenbasis im Dreiländereck Belgien, Holland, Deutschland begeben.

Seit zwei Tagen warteten sie nun in dem zum Hotel umgebauten Bauernchalet in Robertville und traten als englische Herbsttouristen auf. Ihrer Rolle entsprechend besichtigten sie das Schloss Reinhardstein und machten auch die obligatorische Venn-Wanderung. Dennoch fiel es ihnen schwer, ihre Ungeduld und Spannung voreinander zu verbergen, eine Spannung, die sich zwar erfahrungsgemäß vor jedem Kampfauftrag einstellte, die aber noch nie so groß gewesen war wie in diesem Fall. Aber sie sind gut trainiert und bekämpfen diesen Zustand bewusst mit mentalen Mitteln, sodass für einen Außenstehenden von dieser Art Lampenfieber nichts zu bemerken ist.

Sie werden weiter warten, die drei Personen mit den Operations-Decknamen Munroe, South und Donahue. Sie warten auf den avisierten Schleusenwärter, der sie über die Grenze nach Deutschland bringen soll.

Der Aaper Wald ist eines der schönen zum Düsseldorfer Stadtwald gehörenden Forstgebiete. In nördlicher Richtung stößt das Buchenwaldareal an das Gebiet der Nachbargemeinde Ratingen, während es sich südlich hinter der bekannten Galopprennbahn als Grafenberger Wald bis an die nach Mettmann führende Bergische Landstraße erstreckt. Die Düsseldorfer Stadtteile Mörsenbroich und Rath liegen westlich und sind hier die Hauptnutznießer des Aaper Waldes. Im Osten befindet sich die Enklave Knittkuhl, und eine Bundeswehrgarnison und Einheiten der Britischen Rheinarmee profitieren von einem kleinen auf dem Waldgebiet liegenden Militär-Übungsgelände.

Das Wort >Aap< hat nichts mit hier frei lebenden Affen zu tun, sondern ist keltischen Ursprungs und bedeutet > wasser- und quellreich<. Die Düsselstädter, die an Wochenenden in ihre Waldgebiete einfallen, sind aber weniger an Wasserquellen als vielmehr an den zahlreichen Restaurationsbetrieben interessiert. Von dem ganz besonderen Verhältnis der Städter zur Natur kann auch der zuständige Förster ein Lied singen, beginnt er doch seinen täglichen Inspektionsgang von seinem Dienstsitz im Betriebsbezirk 4 an der Reichswaldallee jedes Mal mit gemischten Gefühlen: Wie viele Bäume wurden diesmal wieder mutwillig beschädigt, wie viel Müll wurde wieder in den zugänglichen Schneisen abgekippt, und wie viele Jungpflanzen wurden von Spaziergängern und wilder Kavallerie niedergetrampelt? Eine etwa 100 Jahre alte Buche mit einem Kronendurchmesser von ungefähr 15 Metern und mit einer Standfläche von 160 Quadratmetern deckt den täglichen Sauerstoffbedarf von 64 Menschen.

Die junge Frau, deren nackten Fuß der Forstinspektor an diesem nassen Donnerstagmorgen auf seinem Rundgang aus dichtem Buschwerk herausragen sieht, benötigt keinen Baum mehr. Ihr Bedarf an Sauerstoff ist gleich null. Als der Mann in der grünen Berufskleidung ernst in das Funkgerät seines Dienstwagens spricht, ist die Frau schon einige Stunden tot.

Die große Mittwochsrunde findet in dieser Woche mit einem Tag Verspätung statt. Das >Karo< höchstpersönlich leitet heute die wöchentliche Frühbesprechung aller Kommissariate in der Aula. Der nach dem großen Umbau neu renovierte Saal unter dem Dach des Präsidiums platzt fast aus den Nähten.

Hauptkommissar Benedict gähnt hinter der vorgehaltenen Hand, sieht aber ringsum fast ausnahmslos frisch gewaschene Morgenlächler auf den Stühlen.

Morgenstund' ist aller Laster Anfang, denkt der eingefleischte Morgenmuffel resigniert. Der Polizeipräsident, erst kürzlich von einem Besuch bei seiner nach Kanada ausgewanderten Schwester zurückgekehrt, spielt selbstvergessen am Knopf seines in Vancouver erstandenen Sakkos. Benedict kneift die Augen zu, reißt sie dann ruckartig wieder auf. Aber das Bild des grobschlächtigen Mannes mit dem lichten Haarkranz auf dem massigen Schädel und dieser unsäglichen grün-rot-karierten Jacke will nicht verschwinden. Der Präsident macht seinem Spitznamen alle Ehre.

Nachdem die anstehenden Fälle der Kripo besprochen sind und alle auf das Signal zum Aufbruch warten, erhebt sich der Koloss schwerfällig von seinem Stuhl. Mit einer kurzen Handbewegung gebietet er wieder Ruhe. »Auch im Namen des Innenministers möchte ich Ihnen für die gestern geleistete Arbeit danken. Ich weiß, dass Sie alle ganz schön ausgelastet waren. Trotzdem wird von uns erwartet, dass wir auch die anstehenden polizeilichen Aufgaben unserem Auftrag entsprechend mit der gewohnten und gebotenen Sorgfalt lösen! Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass für einige von Ihnen wieder ein Einsatz bevorsteht, der erhebliche Anforderungen an Sie stellen wird. Das Innenministerium hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass zwischen dem 2. und 7. November der englische Thronfolger Prinz Charles mit seiner Gattin Lady Diana zu einem offiziellen Staatsbesuch in die Bundesrepublik kommen wird. Am 4. November werden die beiden Staatsgäste zu einem Empfang auf Schloss Benrath hier in Düsseldorf erwartet. Für diesen Besuch gilt die höchste Sicherheitsstufe. Es liegen Erkenntnisse über einen möglichen terroristischen Anschlag vor. Eine erste Lagebesprechung findet in der nächsten Woche statt. Die involvierten Dienststellen werden von mir rechtzeitig in Kenntnis gesetzt!«

Der Polizeipräsident reibt sich die Hände, als wäre ihm kalt, und blickt sorgenvoll auf die versammelte Beamtenschaft hinunter. Mit seinem obligatorischen »Glück auf« beschließt er die Frühbesprechung. Der Saal leert sich schnell. Alles drängt zum zweiten Frühstück. Die Kantine im Erdgeschoss hat nicht viel Platz.

Doemges, Läppert und Bernwart Neumann sprinten die Treppen runter. Die Kommissarin Leiden-Oster unterhält sich mit dem Leitenden Kriminaldirektor am Ende des fast leeren Saales. Hauptkommissar Benedict trottet langsam hinter dem sich verlaufenden Pulk hinterher.

Kurz vor seinem Dienstzimmer im zweiten Stock wischt ihm wieder der Gedanke an die von Dr. Lenzfried angesprochene Frauen-Miliz durch den Kopf. Vielleicht sollte er mal mit den Leuten vom 14. K. sprechen und ... als er die Tür zu seinem Arbeitszimmer öffnen will, stürzt ihm Kommissar Doemges an der Spitze einer aufgeregten Dreiergruppe entgegen.

Dann steht er zum zweiten Mal innerhalb einer Woche im nassen Grün vor einer Leiche.

Tropfen von den Ästen rinnen unter seinen Hemdkragen, und ihn fröstelt leicht. Er versucht, mit einer Hand den Mantelkragen fester um den Hals zu schließen, dabei läuft ihm der Regen von oben unter die Hemdmanschetten. Er gibt auf. Ein dicker Tropfen platzt auf seiner Nase und versprüht Regenfontänen vor seiner Brille. Kann man vergessen. Schließlich geht es den zwischen den Bäumen rumsuchenden Beamten des 1. K auch nicht anders.

Während Doemges, Läppert und ein Neumann durch das herbstnasse Laub kriechen, steht Hauptkommissar Benedict mit Forstinspektor Sieckmann am Rande des Weges und hört sich dessen knappen Bericht noch mal an. Das ist völlig überflüssig, denn er hatte schon vor zwanzig Minuten alles Wesentliche mitbekommen. Benedicts Interesse gilt daher auch nur sehr oberflächlich den dürren Worten und Gesten des Forstbeamten. Seine zusammengekniffenen Augen hinter den regennassen Brillengläsern sind konzentriert auf das Gesicht von Kommissarin Maria Leiden-Oster gerichtet, die seit knapp fünf Minuten unbeweglich neben der Frauenleiche steht. Während dieser fünf Minuten hat sie ihren starren Körper kaum gerührt, und würden sich nicht ihre Augenlider ab und zu bewegen, könnte man sie fast selbst für eine Tote halten.

Unter der dicken Hornbrille der Kommissarin fließen Tränen über die verkrampften Wangen. Als Benedict sie später beiläufig darauf anspricht, verweist sie in ihrem kühlen, sachlichen Ton auf die regnerischen Wetterbedingungen an diesem Tag.

Die Frau liegt auf dem Rücken. Die Beine leicht gespreizt. Ein weiß-grauer Mädchenkörper inmitten nass-braunen Herbstlaubs. Wie auf einem Opferstein, muss Benedict denken. »Kann man das Mädchen mal zudecken?«, fragt er dann laut zu dem Polizeiarzt hin, der in seinem Wagen Notizen macht. Die Kommissarin verliert jetzt ihre Starrheit und wendet ihm den Kopf zu. In den traurigen Augen unter dem Rand ihres Kopftuches schimmert ein Schein von Dankbarkeit auf.

»Natürlich!«, ruft der Arzt aus dem Wagen heraus. »Ich bin ja jetzt auch so weit!« Er kommt mit seinen Notizen zu Benedict in den Regen hinaus, denn der macht nicht die geringsten Anstalten, sich zu ihm zu begeben. Zwei uniformierte Polizisten werfen eine Art von Pferdedecke über den nassen Leichnam. Die Kommissarin scheint etwas zu den beiden Rohlingen sagen zu wollen, verzieht dann aber nur das Gesicht und schließt sich den anderen Leuten des 1. K bei deren Suche an.

»Na, was haben Sie?«, wendet sich der Hauptkommissar voller Aufmerksamkeit dem Arzt zu.

Der Gesichtsausdruck des Mediziners, halb boshaft und halb pfiffig, warnt den Hauptkommissar vor seinen eigenen Erwartungen. Eine nackte Frauenleiche? In dieser Haltung? Die zweite innerhalb von einer Woche? Da würde die spätere Untersuchung doch nur bestätigen, was eh schon klar war: Vergewaltigung oder abartige Handlungen mit Todesfolge oder so was in dieser Art ...

»Genickschuss!«

Das Wort aus dem Mund des Arztes knallt in Benedicts vorsichtige Gedanken hinein wie ein abgebrochener Ast an einem zu trockenen Baum.

»Wahrscheinlich aus kürzester Entfernung. Pulverspuren neben der Einschussstelle, Schmutz- und Schürfwunden an beiden Knien, könnte in kniender Haltung erschossen und erst anschließend in die jetzige Position gebracht worden sein. Also, ich weiß, es klingt verrückt, aber die Frau scheint«, er zögert vor dem nächsten Wort, »hingerichtet worden zu sein. Exekutiert! Unglaublich!«

Der Arzt schaut ihn fast flehend an. Als erwartete er den Beweis des Gegenteils von dem Kripomann. Aber der Hauptkommissar ist in Gedanken immer noch bei der jungen Frau, die am Sonntag früh in den Rheinwiesen gelegen hatte. Ja, die hatte einen ganz anderen Eindruck gemacht.

»Genickschuss?«, fragte er dann mit einer sehr flachen Stimme. Bloß keine Bedeutung in die Frage legen. Nichts anmerken lassen. Von der aufkeimenden Angst. Von diesem schmutzigen Eisklumpen tief im Rücken.

Bevor der Mann mit dem Doktortitel antworten kann, ertönt ein Schrei. Es muss ein lauter Schrei aus großer Entfernung sein, gedämpft durch Bäume und Regen. Ein Schrei, der, gebrochen von Ästen und Büschen, schließlich auch von anderen Stimmen aufgenommen, weitergereicht wird, bis der Inhalt der Botschaft endlich Benedicts Bewusstsein erreicht.

»Da liegt noch ein Toter, Herr Hauptkommissar!«

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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