Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 8

Prolog

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Die beiden toten Körper waren kein Schock für ihn.

Schließlich gehörte der Tod zu den alltäglichen, wenn auch tristeren Aspekten seines Berufes, auch war ihm schon Schlimmeres untergekommen. Aber dieser Anblick stimmte ihn eigenartig traurig.

Starr und steif lagen sie nebeneinander hingestreckt, die glasigen Augen stumpf auf den niedrigen Himmel Westirlands gerichtet.

Er öffnete nun auch die untere Hälfte der zweigeteilten, hölzernen Haustür und trat vor das weißgekalkte Cottage, in welchem er die letzten sechs Wochen in zeitloser Beschaulichkeit verbracht hatte. Wie immer um diese frühe Tageszeit kämpfte die Sonne mit den tief jagenden Wolkenfetzen. Und wie immer war nicht klar, ob es dann endlich blaugrün-sonnig oder dunkelgrün-sprühregnerisch werden würde. Er presste die Lippen zusammen.

Die beiden leblosen Körper waren von unzähligen, schon leicht schorfigen Wunden übersät. Die Schnauzen standen offen, sie gaben den Blick auf die spitzen Zahnreihen frei und ließen an einen langen, gequälten Todesschrei denken.

Was für eine sinnlose Angelegenheit. Wie so vieles hier.

Die schmale Landstraße vor dem reetgedeckten Ferienhaus war leer. Von der gegenüberliegenden Weide glotzten wiederkäuende Kühe träge zu ihm rüber.

Er ging ins Haus zurück und hob mehrere alte Ausgaben der Irish Times vom Steinboden neben dem offenen Kamin auf, um die beiden toten Körperchen vor dem Haus darin einzuwickeln.

Zärtlich strich er mit der flachen Hand über die schon stumpfen Felle, die gestern Abend noch seidig geglänzt hatten. Dann legte er sie mit einer scheuen Bewegung in die blecherne Abfalltonne unter dem Küchenfenster. Er warf noch einen Blick auf die fette Titelmeldung der Grabzeitung: Roche races into sporting history! Dann verschwand das Bild des lächelnden Tour-de-France-Siegers aus Irland unter dem Blechdeckel der Mülltonne.

Er wandte sich ab und ging zurück ins Haus, um die Abrechnung fertigzumachen. Und obwohl es überflüssig war, schritt er nochmals die Räume seines einstöckigen Urlaubsdomizils ab.

Nein. Er hatte nichts vergessen. Seine Sachen lagen mehr oder weniger ordentlich in den beiden braunen Lederkoffern verpackt, die neben dem riesigen Holztisch im ebenerdigen Wohnraum standen. Er verfrachtete sie in den silbergrauen Leihwagen vor dem Haus und setzte sich dann wartend an den Tisch. Durch das immer noch geöffnete Oberteil der Holztür drangen die Motorengeräusche eines schweren Überlandbusses zu dem wartenden Mann. Er reckte den Kopf etwas höher und konnte den orangefarbenen Eirean-Bus hinter dem weißen Begrenzungsmäuerchen vorbeifahren sehen. Der Fahrer hupte. Dann verschwand das schon mitgenommene Gefährt schaukelnd in Richtung Cork.

Der schwere Holzstuhl unter ihm knarrte. Aus dem Cottage nebenan kam das Geschrei von Kindern. Drüben, auf der anderen Seite der Landstraße, trieb der Bauer schon die Kühe zum Melken. Von der Bucht wehte der Geruch salziger See und gelandeten Fisches zu ihm herüber.

Sie hatten zwar gestern elf Uhr ausgemacht, aber er erwartete sie nicht vor halb zwölf. Man nahm das in diesen Breiten nicht so genau mit der Zeit.

Das war ja auch einer der Hauptgründe, warum er seinen Urlaub in diesem winzigen Nest zwischen Galway und Cork am Rande des steingepflasterten Burren verbrachte.

Zwei Wochen waren nötig gewesen, bis er sich an den veränderten Lebensrhythmus in diesem Fischer- und Touristendorf am Ende der Welt gewöhnt hatte. Dann aber war er der schläfrigen Freundlichkeit seiner Bewohner erlegen. Hatte sich keinen Tag vor elf Uhr aus dem Bett bewegt. Hatte zwischen zwölf und eins seine pint Guinness nebenan auf der Holzbank vor der Kneipe getrunken. Dann auf der Mauer vor dem Cottage gesessen und ein Schwätzchen von oben herab mit den Vorbeikommenden gehalten.

Manchmal war er auch zum Fischen gegangen. Erfolglos. Wie vieles hier.

Abends bestand sein opulentes Mahl meistens nur aus Kartoffeln, Wirsing und gebackenen Bohnen. Aber danach hatte er sich mit einer kleinen Flasche Paddy vor den Kamin gesetzt und das flackernde Torffeuer bis zur Schlafenszeit in Gang gehalten.

Nur an zwei Tagen der Woche hatte er anfangs dieses betäubende Einerlei seines Urlauberdaseins unterbrochen. Am Mittwoch spielten in allen drei Kneipen des Dorfes Musikanten auf ihren traditionellen irischen Instrumenten. Für sich und für die Touristen. Dann tranken auch die freundlichen Dorfbewohner ihr Bier mit ihm und rühmten lauthals die so tiefen Beziehungen zu seinem Heimatland. »Ihr habt uns damals Waffen geschickt gegen diese englischen Bastarde, die immer nur mit ihrer Macht und ihrem Geld geprotzt haben! Genau wie heute, mit ihren großen, blitzenden Autos auf unseren Straßen!« Und dann sangen sie diese traurigen Balladen aus längst vergangenen Zeiten. Aus längst vergangenen ...?

Der zweite >Ausnahmetag< war der Samstag. Da hatte er sich dann den wirklich teuren Luxus eines irisch-französischen Dinners in Claire’s Restaurant gegenüber dem Post Office geleistet. Hatte da auch heftigst mit der gertenschlanken, irisch-weiblichen Claire geflirtet. Aber nur so lange, bis er bemerkte, dass sie einen hühnenhaften, rothaarigen Mann hatte, der das Gebalze von einem Eckplatz aus finster beobachtete.

Nun, Claire hatte wohl einen kleinen Narren an ihm gefressen, und sie hatte eine Schwester namens Moira, die er bislang noch nicht zu Gesicht bekommen hatte. Jedenfalls setzte Claire die weißhäutige Moira am folgenden Samstag zu ihm an den Dinnertisch, wo sie ihm wortkarg und schüchtern beim Abendessen zusah und nur kurz in ihrem rauen Englisch auf seine bemühten Fragen antwortete.

Nein, sie lebte nicht bei ihrer Schwester im Dorf. Ja, sie war jünger als Claire. Doch, sie kannte seine Heimat. Ja, sie würde ihm gerne das Burren zeigen.

Am darauffolgenden Morgen waren sie zu den schwarzen Klippen hinausgefahren.

Ihr Schweigen während der Fahrt auf der schmalen Küstenstraße hatte nichts Bedrückendes. Mit ruhigem Selbstverständnis lenkte sie den japanischen Wagen und musste dabei oft den von der See hereinfallenden Windböen entgegensteuern, unter den dahinfetzenden Wolkenbällen in Richtung Lahinch.

Ab und zu setzte sie mit unverhohlenem Stolz zu einer Erklärung an, oder sie wies auf eine besonders schöne Ansicht, eine seltene Pflanze oder eine bizarre Steinformation hin.

Dann saßen sie wieder ohne zu sprechen nebeneinander.

Mittlerweile überlagerte der Geruch von Zimt, frischem Gras und warmer Haut den Kunststoffgeruch des Fahrzeuginnern. Moiras linker Ellenbogen berührte während und auch zwischen den Lenk- und Schaltvorgängen immer wieder seinen rechten Arm, der angewinkelt auf seinem Schenkel ruhte. Die Vibrationen des Volants übertrugen sich von ihrem Arm auf seinen gesamten Körper und versetzten ihn in einen Zustand zunehmender Erregung. Die warme Zimtluft im Wageninnern begann zu knistern.

Weihnachten!

Als die Fahrerin das nächste Mal schaltete, legte er seine eigene Rechte auf die schmale und sehr weiße Hand des Mädchens.

Sie ließ es geschehen. Nicht zerstreut und belanglos. Nein, so als genösse sie die Berührung seiner warmen Handfläche auf dem Rücken ihrer gespreizten Hand, verzögerte sie den nächsten Schaltmoment bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Motor zu bocken begann wie ein irischer Esel.

Am Fuß des O’Brien Towers stand ein langhaariges irisches Mädchen und spielte auf einer richtigen Harfe für die Touristen. Zunächst sträubte sich alles in ihm dagegen, aber er hatte ja auch Urlaub und wollte sich - wie alle anderen Herumstehenden - von den weichen, melancholischen Klängen einlullen lassen.

Moiras länglich-weißes Gesicht im Profil, umrahmt von dünnem schwarzen, halblangem Haar; die schmalen dunklen Brauen über den Augen leicht zusammengekniffen. Scharfer Seewind trieb rötliche Flecken auf die hellen Wangen, und beim Anblick ihrer spröden Lippen hatte er den Eindruck, als würde die darüberleckende Zunge diese aufreißen und blutig scharten.

Hinter Moiras zerzausten Haaren die von den hohen Klippen aufsteigenden Möwen und Papageientaucher. Das Geschrei der Seevögel, der Klang der Harfe und das stärker werdende Brausen des Windes ... und davor Moiras klares Profil unter diesem nahen Himmel. So würde er die Szene später in verklärter Erinnerung behalten.

Welch ein Glück, dass er keine Kamera dabei hatte!

Dann, als sie sich vorsichtig über den Rand der rauen Felsen beugten und ehrfurchtsvoll in die gischtschäumende Tiefe starrten, rückte sie ganz dicht an ihn heran und sagte: »Jetzt küss mich.« Nicht verschämt geflüstert, nein, mit klarem, eindeutigem Verlangen, ohne jede Koketterie.

Auf der Rückfahrt ließ sie ihn dann den Wagen fahren, und bevor er sie vor Claire’s Restaurant absetzte, verabredeten sie für den nächsten Tag eine Wanderung zur Aillwee-Cave-Höhle.

Voller Unruhe verbrachte er den Abend vor dem Kamin, vielleicht auf ein leises Klopfen an einem der rückwärtigen Fenster des Cottages hoffend. Aber am Ende kroch er ziemlich betrunken zwischen die feuchtklammen Bettlaken.

Am Morgen riss sie ihn dann mit spröder Fröhlichkeit aus dem Schlaf. Als sie gegen Mittag an der alten Höhle ankamen, war er von dem Fußmarsch so hungrig, dass er in dem Touristenrestaurant ein komplettes Mittagsmenü in sich hineinschlang, bevor es dann durch glitschig kalte Felsgänge, vorbei an morschen Bärenknochen und spitzen Stalagmiten, in die dunkle Tiefe hinabging. Dort unten empfand er die erschreckendste Dunkelheit seines Lebens. Der Führer schaltete ohne Ankündigung alle künstlichen Leuchtkörper aus, und er selbst fühlte sich plötzlich von Händen gepackt und mehrere Male im Kreis gedreht. Dann war das Licht plötzlich wieder da, die abrupte Stille löste sich in der beruhigenden Helligkeit und ging in allgemeines Mutgeplapper über.

Aber Moira war verschwunden.

Und er, verwirrt von Dunkelheit und Tiefe, gefoppt von einem irischen Irrlicht, marschierte an wilden Hecken und verlassenen Farmen vorbei zurück in den kleinen Ort.

Als er am Cottage ankam, war er ebenso erschöpft wie sein Vorrat an Flüchen aufgebraucht. Er warf sich leise stöhnend auf die Couch im Wohnraum und fiel in einen tiefen Schlaf.

Waren es zehn Minuten? Eine Stunde? Jedenfalls wurde er von Teeduft und dem Geruch von würzigem, warmem Brot geweckt. Leise Musik, heimeliges Klirren, ein flackernder TV-Bildschirm.

»Mach das Kaminfeuer an, bevor wir ins Bett gehen!«

Moira stand vor dem Fenster, durch das noch Abendlicht hereindrang, und klopfte auffordernd mit dem Teelöffel gegen eine Tasse, die sie in der Hand hielt.

Dann waren die Laken nicht mehr klamm, und er tauchte tief in die feuchtwarme Erde Irlands ein. Er ließ sich aufsaugen von düsteren Heldensagen, roch frisches Heu und wilde Pferde und wurde schließlich von den hohen Wellenkämmen des Atlantik als Gischt wieder an die sanften Strände des Westens gespült. In der Wärme der Sonne rastete er, um sich danach erneut gefährlicheren Abenteuern hinzugeben.

Als er anderntags völlig zerschlagen erwachte, war das Bett neben ihm leer, und die Berge waren in tiefe Wolken gehüllt. Aber am Abend kam Moira wieder, und sie spielten auf der Harfe. Er war voll des Staunens. Wie konnte ein so dunkles Instrument derart helle, wohlklingende Töne von sich geben?

Und am nächsten Abend wieder ein neues Lied und wieder und wieder... und immer war Moira bei Tagesanbruch verschwunden. Das hätte bis zum Urlaubsende so weitergehen können - wenn nicht nach einem dieser musikalischen Mittwochsbesäufnisse in der Dorfkneipe die wohlmeinende Stimmung der Iren in kalte Feindschaft gegen ihn umgeschlagen wäre.

Da war wohl die Zunge leicht und das Gehirn benebelt. Über Gott und die Welt redeten sie wieder, die Schranken der Vorsicht fielen auch bei ihm. Er schwatzte, über seine Heimatstadt, seinen Beruf.

Schnell war die Dorfpost, sehr schnell! Als er unsicher in die Laken fand, waren diese wieder feucht und klamm und leer.

Von diesem Abend an behandelten ihn die vorher so herzlichen Iren als Unperson. Nur der Dorfdepp winkte ihm noch grinsend auf der Straße zu und brabbelte sein unverständliches Kauderwelsch,

Und dann kamen die beiden Tiere. Auf einmal saßen sie vor der Tür des Cottage. Sheila, eine schwarzweiß gefleckte Mischlingshündin, und Moritz, ein grau getigertes Dorfkaterchen. Diese Namen hatte er ihnen gegeben, und irgendwie hörten sie sogar darauf. Sie wurden schnell zutraulich, so zutraulich, wie es irischen Tieren eben möglich war.

Schließlich schliefen sie sogar bei ihm im Haus. Gestern noch zerbrach er sich den Kopf darüber, ob er sie vielleicht mit nach Hause schmuggeln sollte.

Die Sorge war er jetzt los.

Eine Bestrafung? Warum? Wofür? Und von wem? Es war Zeit, diesen unwirtlichen Ort zu verlassen.

Claire kam natürlich nicht selbst. Sie schickte eine ihrer Bedienungen aus dem Restaurant, die stumm und mürrisch die Zahlen von Gasometer und Wasseruhr ablas und ihm dann immer noch wortlos die Schlussrechnung präsentierte. Musste ihr ganz schön schwerfallen, diese Schweigsamkeit.

Als er ihr die blauen und grünen Punt-Noten über die hölzerne Tischplatte zuschob, kassierte sie, ohne ihn anzusehen. Mit ungelenken Fingern schrieb sie die Quittung aus und beantwortete sein gemurmeltes >good bye< nicht mal mit einem Kopfnicken.

Es war noch immer nicht die Zeit der Touristenbusse aus Frankreich. Er lenkte den Mietwagen vorbei an dem grauen Spiegel der Atlantikbucht durch den fast menschenleeren Ort. Die verrottete Tanksäule an der Ecke. Das winzige Postamt auf der linken Seite. Claire's Restaurant gegenüber. Der kleine Spar-Laden. Ein Pub mit dem Guinness-Zeichen. Letzte weiße Häuschen. Hüfthöhe Mauern und wilde Fuchsienhecken an der gewundenen Straße nach Galway.

Und kein letztes Winken von Moira.

Das war’s dann also gewesen.

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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