Читать книгу Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek - Peter Schrenk - Страница 14

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Die Mitglieder der SOKO sitzen im Besprechungsraum und starren auf das Flipchart. Doch auch die Auflistung der Taten bringt für Benedict keinen Sinn in diese Morde.

Brigitte Craatz: einzige bekannte, wenn auch stumme Größe. Zugeordnet, ins >Spritzer<-Schema passend, wenn auch brutaler Ausreißer in einer ansonsten stimmigen Reihe von achtzehn bekannten Fällen. Tod durch Verbluten. Messerstiche. Spermaflecken. Die bekannte Handschrift des Spritzers. Bis auf die Messerstiche. Die stimmen nicht.

Dann Leiche X 1: weiblich, zwischen zwanzig und dreißig Jahre, unbekleidet, keine besonderen Kennzeichen, Tod durch Genickschuss, Kaliberbestimmung liegt noch nicht vor.

Leiche X 2: männlich, um die Dreißig herum, ebenfalls unbekleidet, zwei Narben, Blinddarm und am Oberschenkel (Schussverletzung?), gefunden in knapp 60 Meter Entfernung von X 1, kniende Haltung, mit den Händen um einen Baumstamm gefesselt, Tod durch Genickschuss, Kaliber ebenfalls noch nicht bestimmt, aber vermutlich identisch mit Tatwaffe bei X 1.

Bis zu diesem späten Donnerstagnachmittag hat auch die Vermisstenstelle im Präsidium nichts über die Identität der beiden Toten ermitteln können. »Da verlangt ihr aber auch zu viel, Kollegen«, mault Hauptkommissar Ferber abschließend, »wenn das in der vergangenen Nacht erst passiert ist, nein, so schnell liegen nur in ganz seltenen Fälle Vermisstenmeldungen vor!«

»Sind die Fotos schon an die Presse gegangen?«, fragt der neben dem Flipchart stehende Benedict.

»Werden morgen veröffentlicht«, kommt es kurz von Kommissarin Leiden-Oster aus der ersten Stuhlreihe.

»Und die Sucherei mit den Hunden im Gelände? Hat das was gebracht?« Staatsanwalt Grüberle versucht sich in konstruktiver Fragetechnik. Trotz ernster Lage schmunzeln die Rheinländer über den ausgeprägten Badenser Dialekt des neu Zugereisten.

»Mm, mmm ...« Kriminalhauptmeister Henze steht halb von seinem Stuhl auf, setzt sich dann aber wieder hin. »Rehe aufgescheucht haben sie, sonst nichts!«

Ein Regenschauer pladdert gegen die beiden Fenster, und da niemand was zu sagen hat, sehen alle angelegentlich auf den grauen Stadthimmel da draußen. In die folgende Stille hinein hüstelt Doemges trocken, nimmt ein kleines Vivil aus der Packung und geht lutschend zum Flipchart. Kreist die tote Brigitte Craatz mit einem roten, die beiden X-Leichen aber mit einem schwarzen Filzstift ein. Von den gebannten Blicken der Zuschauer verfolgt, dreht er sich dann zu diesen herum und sagt, wieder trocken hüstelnd und auf seinem Pfefferminzdrops kauend: »Die beiden haben nichts mit der toten Craatz zu tun, behaupt' ich mal!« Und setzt sich wieder auf seinen Platz neben der Kommissarin.

Die ganze Runde ist verblüfft ob dieses ungewohnten Redeschwalls.

»Ist das nicht ein bisschen voreilig?« - »Na, na, na!« - »Sollten wir nicht erst die medizinischen Berichte abwarten?« - »Also, da kann ich nicht so unbedingt zustimmen!« - »Wie kommst du denn zu dieser These, Mann?« - »Kannst du das begründen, Doemges?«

Plötzlich haben sie alle was zu sagen.

Kommissarin Leiden-Oster, die neben einer Beamtin des 2. K. sitzt, sagt gar nichts und beißt sich auf die Lippen.

Nein. So bringt das heute nichts mehr.

»Machen wir Schluss! Morgen werden die Untersuchungsergebnisse vorliegen, und außerdem ... vielleicht kommt ja was wegen der Fotos. Wenn jemand die beiden Toten erkennt ... ja, machen wir Schluss!«

Die Leute sind unzufrieden. Hauptkommissar Benedict sieht es an ihren Bewegungen, als sie sich aus dem Besprechungsraum schieben, und an ihren mürrischen Gesichtern.

Doemges sucht noch mit fahrigen Fingern in dem Papierwust auf seinem Schreibtisch herum, nimmt sich dann aber resigniert ein neues Vivil aus der Packung und verabschiedet sich.

»Also dann!«

Ganz am Schluss gehen die beiden Frauen der SOKO.

»War ja zu erwarten«, hört Benedict die Kriminalobermeisterin zur Leiden-Oster sagen, »die Arbeitsrichter, alles Männer natürlich, haben dem Herrn Stadtdirektor zwar eine Rüge erteilt, aber die Frauenbeauftragte bleibt gefeuert!«

»Klar. Ist ja immer dasselbe mit ...«

Der Rest der Antwort von Kommissarin Leiden-Oster ist für Benedict nicht mehr zu verstehen. Die Tür ist zu.

Am Freitag liegen dann endlich die Untersuchungsergebnisse vor, und Doemges hüstelt ein kurzes »bueno« raus. Er bereitet sich schon auf seinen Weihnachtsurlaub in Spanien vor. Mit seiner These gestern lag er wohl richtig. Die unbekannten Toten im Aaper Wald scheinen nichts mit der erstochenen Brigitte Craatz zu tun zu haben. Nicht der geringste Anhaltspunkt für ein Sexualdelikt. Auch keine Spermaflecken. Der Tod durch die Schussverletzung trat nach Ansicht der medizinischen Sachverständigen in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag so zwischen 22 Uhr abends und 1 Uhr früh ein. Genauer konnten sie die Zeit nicht bestimmen. Das Kaliber der Munition - die Kugeln steckten zwischen den zersplitterten Schädelknochen - ist 9 mm. Dieses Kaliber kann aus einer ganzen Reihe von Waffen stammen, auch aus der Sig-Sauer, der bei der Polizei gebräuchlichen Dienstwaffe. Solange es nicht möglich ist, mit der benutzten Tatwaffe einen Vergleichsbeschuss durchzuführen, hilft diese Information also relativ wenig. Allerdings wartet man in dieser Sache noch auf eine Expertise des Landeskriminalamtes, die wahrscheinlich näheren Aufschluss geben würde.

»Und wat machen wa nu, Lotte?«, bemüht sich Kommissar Läppert um Auflockerung der reichlich verkrampft herumsitzenden Beamten.

»Wir teilen uns auf«, antwortet Hauptkommissar Benedict ohne einen Anflug von Humor. »Doemges und Sie«, er nickt kurz zu Leiden-Oster hin, »ihr beide nehmt euch noch vier Leute und verfolgt die Sache Craatz weiter. Natürlich sind bei euch auch die zwei Kollegen von der Sitte dabei. Und Sie, Läppert, Sie, Neumann«, der Leiter des 1. K zeigt noch auf vier weitere Beamte, »Sie machen sich mit mir zusammen über die neue Sache her, okay?«

»Wie ist das mit der Raumaufteilung, und wer ist verantwortlich in der Craatz-Ermittlung?«, fragt die Kommissarin und sieht ihn sehr direkt an. Benedict unterdrückt ein offenes Stöhnen.

»Sie können diesen Raum hier nehmen, und wir«, er greift schon nach der Türklinke, »wir gehen in mein Zimmer.«

»Und wer hat die Leitung?«, insistiert die Kommissarin weiter.

»Der Doemges!«, muffelt Benedict und verlässt endlich aufatmend den Besprechungsraum.

»Also, Kommissar Läppert, Sie, Dunklenbroich, und ich, wir sehen uns noch mal die Gegend an. Vielleicht hat da ja jemand was in der fraglichen Nacht gehört. Kommissar Neumann macht die Koordination im Innendienst. Gehen Sie dann auch noch mal in den Computer rein. Stichwort Genickschuss!«

In dem Zivil-Golf ist es eng, und Benedict denkt auf dem schmalen Beifahrersitz voll Sehnsucht an seinen Jaguar, dieses nutzlos schöne Hochzeitsgeschenk von Kitty. Mit beschlagenen Innenscheiben schlängelt sich das unauffällige Fahrzeug durch den Mittagsverkehr der Innenstadt in Richtung Brehmstraße. Als sie an der Ampel am Eisstadion halten müssen, fragt der Hauptkommissar den steuernden Läppert: »Wie kommt man eigentlich an Saisonkarten für die DEG-Spiele?«

»Sie wollen zum Eishockey?«, verwundert sich der. »Sie gehen doch immer zu diesem komischen American Football!«

»Die spielen ja bald nicht mehr. Die Panther stehen kurz vorm Endspiel, und dann ist Schluss bis zum Frühjahr. Eishockey wär' keine schlechte Alternative für den Winter, oder?«

»Schwer, an Karten dranzukommen«, meldet sich KHM Dunklenbroich vom Rücksitz, »da muss man Beziehungen haben!«

Der Wagen fährt wieder an, und Benedict fühlt die Knie des langen Kriminalhauptmeisters in seinem Rücken. Läppert schaltet Licht und Scheibenwischer ein, als ein neuer Regenschauer auf das Blechdach prasselt. Hinter einem grünen Landrover mit englischer Militärnummer biegen sie dann vor der Autobahn nach rechts in den Aaper Wald ein und parken den Wagen vor dem Waldrestaurant Bauernhaus, einem dieser rustikal herausgeputzten Ausflugsgasthäuser. Von hier bis zum Fundort der beiden Leichen sind es knapp einhundert Meter Luftlinie.

»Haben Sie gar nichts gehört in der fraglichen Nacht? Etwas, was sich wie Schüsse angehört hat?«, fragt Benedict die mittelalterliche Frau des Besitzers in dem mit allerlei Krimskrams vollgestopften Schankraum.

»Nein, da haben mein Mann und ich uns schon drüber unterhalten. Überhaupt nichts. Wir hatten hier ganz normalen Betrieb.«

»Irgendwelche auffälligen Gäste an diesem Abend vielleicht?«

Die Frau schüttelt lächelnd ihren Kopf mit den dauergewellten Haaren. »Unsere Abendgäste sind fast alles Stammkunden, und die kennen wir. Waren fast alles Vorbestellungen. Warten Sie mal!« Sie steht vom Tisch auf und geht hinter den Tresen, wo sie kurz herumkramt. Mit einem schwarzen Buch in der Hand kommt sie wieder zurück. Sie blättert und schlägt eine Seite auf. »Sehen Sie«, sagt sie und dreht das Buch so hin, dass die Beamten die Eintragungen lesen können. Ihr dicker, rot lackierter Zeigefinger weist auf verschiedene handschriftliche Zeilen. »Fünf Reservierungen von Firmen und sechs Stammgäste!«

»Und das Personal? Die Kellner und Kellnerinnen? Vielleicht hat von denen jemand ...« Läppert versucht es auch damit.

»Ja, ja, ja. Die haben wir selbst schon gefragt. Die Sache hat für richtige Aufregung hier gesorgt. Is' ja Tagesthema. Die sind ja auch schon von den Reportern gefragt worden. Wir haben hier richtig Zulauf gehabt.«

Benedict beißt sich wegen der Reporter auf die Lippen. Das ist ärgerlich. Aber gestern ging alles drunter und drüber. Was soll's.

»Nein, die haben auch nichts gehört. Darf ich Ihnen vielleicht etwas zu trinken bringen?«

Die drei Kripoleute bestellen das übliche Dienstmineralwasser. Plötzlich muss Benedict grinsen. Ganser hätte sich sicherlich ein Alt bestellt, ohne Rücksicht auf Vorgesetzte.

»Wenn Sie sie aber selbst fragen wollen«, plappert die Wirtsfrau weiter, »dann müssen Sie bis heute fünf Uhr warten. Jetzt ist nur die Frühschicht hier.«

Während Läppert sich die Namen des Spätpersonals und deren Telefonnummern notiert, überdenkt Benedict das weitere Vorgehen. Läppert wird sich mit dem Küchenpersonal unterhalten, denn die machen die ganze Zeit Dienst, von morgens bis abends. Dunklenbroich wird die Waldvillen abklappern, während er selbst sich auf den Weg zum Reitstall Brüggemann machen wird. Der liegt zwar etwas weiter weg, aber nachfragen sollte man doch.

Wenigstens hatte der Regen aufgehört, und als er von seinem erfolglosen Ausflug entlang der Autobahn ins Restaurant zurückkehrt, sitzen Läppert und Dunklenbroich schon wieder vor einem Kaffee an einem Tisch im Schankraum.

Läppert wiegt düster seinen Kopf hin und her. »Niemand hat hier was gehört. Waldesruh total! Auch bei ihm nicht.« Und er zeigt auf Dunklenbroich, der in seiner Tasse rührt. Benedict trinkt auch einen Kaffee, der ihn nicht wärmt, und als sie wieder im Wagen sitzen, sagt KHM Dunklenbroich schüchtern: »Kann ja auch mit Schalldämpfer gewesen sein.«

Bis zur Sankt-Franziskus-Straße sagt darauf niemand was. Dann kratzt sich Läppert am Kopf, während sie wieder mal auf Grün warten. »Profis?«

Das Funkgerät übernimmt.

»Düssel 2120 für Düssel, kommen!«

»Düssel 2120, was gibt’s?«

»Sofort Verbindung mit 368 aufnehmen. Wiederhole 368. Bestätigung!«

»Düssel 2120 bestätigt. Verbindung mit 368 aufnehmen. Sind schon auf dem Weg ins Präsidium. Ende Düssel!«

Benedict schiebt das Mikrofon wieder in die Halterung unter dem Armaturenbrett und starrt nachdenklich aus dem anfahrenden Wagen hinaus. Was wohl der Freudlos vom 14. K. von ihm will?

Im dritten Stock des Präsidiums betritt Benedict für ihn fremdes Territorium. Hier oben scheint alles ruhiger und unauffälliger zuzugehen, als unten bei ihm ein Stockwerk tiefer, wo die alltägliche Ermittlungsroutine für ein ständiges Kommen und Gehen sorgt.

Kriminalrat Michel Freudlos und er hatten sich noch nie viel zu sagen. Heute aber hat der Leiter des 14. K., dem für Staatsschutz zuständigen politischen Kommissariat, seinem Kollegen einiges mitzuteilen.

Vor sich auf dem fast leeren Schreibtisch hat er die Tagesausgaben der Lokalpresse liegen. Ohne den Hals verrenken zu müssen, kann Benedict die Leichenfotos aus dem Aaper Wald erkennen. Er zieht erstaunt eine Braue nach oben und sieht den unscheinbaren Kriminalrat fragend an. Der hält beide Hände in Brusthöhe vor sich zusammengepresst. Die auf der Schreibtischplatte aufgestützten Arme bilden einen rechten Winkel zu seinem Oberkörper. Nein, der Leiter des politischen Kommissariats betet nicht. Diese Haltung soll äußerste Konzentration ausdrücken.

»Ich hatte gerade einen Anruf von unseren englischen Freunden!«

»Scotland Yard?«, fragt Benedict erstaunt.

»Nein. Aus dem Rhein-Center. Captain Hart von der S. I. B.!«

»Jerry? Und um was ging’s?«

Kriminalrat Freudlos versucht zu übergehen, dass ihn die zum Ausdruck gebrachte Vertraulichkeit gegenüber einem hohen Angehörigen der Special Investigation Branch irritiert. Immerhin verdankt er die Bedeutung seiner Dienststelle den Engländern, die das politische Kommissariat nach dem Zweiten Weltkrieg als spezielles Dezernat direkt dem Polizeipräsidenten unterstellten. »Captain Hart hat unter Hinweis auf diese von Ihnen veröffentlichten Aufnahmen um ein sofortiges Zusammentreffen im Büro des Chief Police Advisors im Rhein-Center gebeten ... äh ... ersucht ... äh ...«, die zusammengepressten Hände lösen sich voneinander und flattern unruhig über der glatten Schreibtischplatte herum, »also, Kollege Benedict, es klang eher nach einer Anordnung!«

»Ein Befehl?«, runzelt der die Stirn. »Klingt so gar nicht nach Old-Gentleman-Jerry. Hat er sonst noch was gesagt?«

»Nein, das war alles, Herr Kollege!«, erwidert Freudlos steif.

Der Hauptkommissar zuckt mit bemühter Lässigkeit die Achseln und steht auf. »Also fahren wir!«

*


Der hünenhafte Spieler mit der Nummer 46 rennt und rennt. Vergeblich versuchen die Gegner, seinen mächtigen Alleingang zu stoppen. Geschickt weicht der Riese ihren Block- und Rempelversuchen immer wieder aus und umsteuert sie dabei wie Slalomstangen beim Torlauf. Unterstützt und abgeschirmt von seinen Teamkameraden, hat er jetzt die 60-Meter-Marke erreicht. 70 Meter, 80 Meter! Mit dem Mut der Verzweiflung stürzen sich zwei Panther auf den Grizzly, um ihn vor der Endzone von den Beinen zu bringen, aber geschickt taucht der Bär diesmal unter den Wildkatzen weg und legt das braune Ei hinter der Linie ab. Dann rast er im Zickzack - den auf ihn zurennenden Mannschaftskameraden ausweichend - mit ausgestrecktem Mittelfinger auf die Bank der resignierten Düsseldorfer Panther zu. Auf der Anzeigentafel erscheint der neue Punktestand: Panther 21, Gäste 27. »Scheiße, Scheiße, Scheiße!«

Rechtsanwalt Hannes ist genauso fassungslos wie die anderen Düsseldorfer Anhänger im TuRU-Stadion am Volksgarten.

»Und bloß noch vier Minuten!«, jammert Benedict, der deprimiert auf die Bank zurückgesunken ist.

»Ach, das kippen die noch, ganz bestimmt!«, macht ein neben ihm sitzender Reporter in Zweckoptimismus und stimmt in den Chor der ganz Hartgesottenen mit ein. »Offense go! Offense go! Offense go!«

Aber die Trommeln haben nicht mehr den alten Klang, und die Stimmbänder sind schon heiser gekrächzt. Und die Anstrengungen, das letzte verzweifelte Aufbäumen, werden nicht mehr mit dem heiß herbeigesehnten >touchdown< belohnt. Die Düsseldorfer Panther verlieren gegen die Ansbach Grizzlys und scheiden schon im Viertelfinale aus.

Rechtsanwalt Hannes und Vitus H. Benedict trotten inmitten der knapp dreitausend, größtenteils enttäuschten Zuschauer auf den Stadionausgang zu. Die Tische mit den National-Football-League-Souvenirs sind abgebaut, und auch Kaffee und Kuchen gibt’s nicht mehr. Um die Altbiertheke scharen sich die Unentwegten.

Der Reporter, der eben neben ihm gesessen hat, zupft Benedict im Gedränge am Ärmel seines Regenmantels. »Haben Sie nicht irgendwas für mich in der Spritzer-Sache? Muss doch bald mal was kommen, oder?«

Benedict fühlt sich belästigt und knurrt: »Lassen Sie mich in Ruhe, ich bin hier nicht im Dienst!« Dann aber fügt er in etwas konzilianterem Ton - der Stüchow wird’s ihm danken — hinzu: »Rufen Sie doch morgen früh unseren Pressesprecher an. Der hat den neuesten Stand der Dinge für Sie!« Unzufrieden schiebt der Zeitungsschreiber von dannen.

Der Wagen von Rechtsanwalt Hannes ist mal wieder in der Werkstatt, was Benedict mit der Bemerkung, »du solltest dir mal ein richtiges Auto zulegen«, quittiert, sich aber selbstverständlich dazu bereit erklärt, seinen Freund zu dessen Wittlarer Wohnung zu fahren.

»Am Ende ist eben auf einen Jaguar doch mehr Verlass als auf einen Panther«, meint Benedict, während er das schwere Gefährt aus der Parklücke an der Kruppstraße lenkt. »Hast du übrigens Beziehungen zur DEG?«, fragt er schließlich, als der Wagen leise in Richtung Hauptbahnhof rollt.

»Abtrünnig werden, was? Du bist mir so ein Fan! Bloß, weil sie dieses Spiel versiebt haben!«

»Nein, das nicht. Aber für den Winter sollten wir uns mal was einfallen lassen. Ein bisschen Abwechslung tut doch auch ganz gut. Außerdem würde ich gerne auch den Puck mal wirklich sehen und nicht wie im Fernsehen immer nur dann, wenn er im Tor ist!«

Hannes nickt und verspricht, seine guten Kontakte zu nutzen.

Leise summt die Klimaanlage in diesem ledergepolsterten Relikt vergangener Tage. »Darf ich?«, fragt Hannes, hat aber schon die Finger an der Stereoanlage.

»Neue Männer braucht das Land«, überdröhnt die kräftige Stimme von Ina Deter die Fahrgeräusche des Wagens. Hannes fährt die Lautstärke erschrocken runter, und Benedict biegt in die lange Kaiserswerther Straße ein. Dann, auf Höhe Grünwalder Straße, bleibt Benedicts Blick an dem großen Militärareal mit den grauen Gebäuden des englischen Rhine Center hängen. Beinahe wäre er auf eine vor ihm links abbiegende Jeep-Patrouille der englischen Militärpolizei aufgefahren und tritt abrupt auf die Bremse. Um Zentimeter verfehlt!

Rechtsanwalt Hannes zischt vernehmlich durch die Zähne und hält sich verkrampft an der Halteschlaufe über dem rechten Seitenfenster fest. »Benny, Benny! Du bist ja ganz schön weggetreten. Was ist denn los mit dir?«

Ja, was ist los mit mir, denkt Vitus H. Benedict und versucht, sich auf die breite in den Düsseldorfer Ortsteil Wittlaer führende Straße zu konzentrieren. Ohne großen Erfolg. Die Gedanken an diesen Freitagnachmittag lassen sich nicht so einfach wegschieben.

Sie saßen zu fünft in dem großen Eckraum des Chief Police Advisors im Verbindungsbüro der Britischen Streitkräfte: der schon in Ehren ergraute Chefinspector Fryers, der nach außen hin so dandyhaft wirkende Captain der Special Investigation Branch, Jerry Hart, Kriminalrat Freudlos und er. Dazu dieser fünfte Mann, der nicht bei ihnen an dem kleinen, runden Tisch in der Ecke saß, sondern an einem vom Fensterlicht nicht erfassten Platz, wo sein Gesicht im Halbdunkel verborgen blieb. Chefinspector Fryers hatte, während er auf ihn zeigte, undeutlich den Namen Smith gemurmelt.

Benedict kannte Fryers, und er kannte Hart. Den Mann im Halbdunkel hatte er noch nie gesehen.

»Machen wir hier so was wie eine spiritistische Sitzung, Jerry?«, unternahm Benedict einen vorsichtigen Lockerungsversuch, aber der Captain von der S.I.B., dem englischen Gegenstück des deutschen MAD, reagierte ungewöhnlich brüsk darauf. » You name it! Genauso ist es!«, war es scharf über seine Lippen gekommen.

»Also gut. Was hat die Britische Rheinarmee mit unseren beiden Toten im Aaper Wald zu tun?«

Der Mann im Halbdunkel, der Mr. Smith genannt sein wollte, verschaffte sich zu diesem Zeitpunkt leise räuspernd Gehör. »Ich bin Angehöriger des Intelligence Corps Ihrer Majestät und zuständig für ... gewisse Aufklärungsaufgaben im Umfeld unserer Truppen, die auf dem Gebiet Ihres Landes stationiert sind. Diese Aufgaben konzentrieren sich zum Beispiel auch auf die Beobachtung terroristischer Gruppierungen, um eventuelle Anschläge auf die Einrichtungen der British Army of the Rhine und deren Personal im Vorfeld zu erkennen und zu verhindern. Die IRA verfügt in der Bundesrepublik über ein kleines Netz von Sympathisanten. Deutsche Irland-Spinner, aber auch Leute, die Sie wohl dem RAF-Kreis zurechnen würden. Eine gefährliche Mischung. In diesen Bereich versuchen wir, Leute von uns einzuschleusen, um die Dinge, sagen wir, unter Kontrolle zu behalten. Einer dieser Angehörigen des IntCorps, ein dreißigjähriger Sergeant, wird seit gestern Morgen bei uns als vermisst gemeldet. Heute fanden wir dann sein Bild in Ihren Zeitungen.« Der Mann holte aus seiner Brieftasche ein Foto, welches er Captain Hart über den Tisch reichte. »Das ist er!«

Benedict erkannte den Mann auf dem Foto sofort wieder. Trotz der Uniform, Es war eindeutig der Tote aus dem Aaper Wald.

»Und wie ist sein Name?«

»Der tut dabei nichts zur Sache, Sie werden sowieso ...« Die Stimme aus dem Halbdunkel brach unvermittelt ab.

»Und die Frau? Sie sagen gar nichts über die Frau. Wer ist sie? Was hat sie damit zu tun?«, setzte Benedict ungeduldig nach und starrte dabei zu der Gestalt in der abgedunkelten Ecke.

Der Mann vom IntCorps schien zu zögern, aber dann kam es sehr bestimmt: »Über diese Frau gibt es bei uns keine Informationen!«

Im Zimmer des Chief Police Advisors blieb es daraufhin eine Weile still. Dann meldete sich Captain Hart. »Benny, du musst das verstehen: Wir haben da ein ziemliches Problem. Der Sergeant vom IntCorps hatte in Düsseldorf Verbindung aufgenommen, und zwar zu einer Sympathisantengruppe der IRA. Von da hat er Informationen erhalten, die äußerst ... explosiven Inhalts sind.« Etwas unsicher sah Jerry Hart zu dem Mann im Halbschatten herüber, fuhr dann aber fort: »Der Sergeant hat sich Mittwoch Abend um 8 Uhr beim Wachhabenden der Flughafen-Kaserne abgemeldet und sollte sich routinemäßig um 2 Uhr nachts wieder melden. Er wollte in den Irish Pubs in Düsseldorf noch ein bisschen sammeln gehen. Informationen. Dummerweise«, Captain Hart zog etwas verlegen die Schultern hoch, »dummerweise ist bei der Wachübergabe nicht bemerkt worden, dass Sergeant ... äh ... dass der Sergeant sich nicht ordnungsgemäß gemeldet hatte. Erst bei der nächsten Überprüfung um 12 Uhr mittags ging dann auch ein missing report raus. Aber da war es schon zu spät!«

Jetzt meldete sich endlich auch der Kriminalrat zu Wort. An den Mann im Halbdunkel gewandt, fragte er: »Sie sprachen soeben von Informationen explosiven Inhalts. Sind Sie befugt, uns darüber nähere Auskunft zu geben?«

Benedict hatte den Eindruck, dass der IntCorps-Mann seine Antwort sehr genau überlegte. »Es scheint konkrete Planungen seitens der IRA zu geben, den Thronfolger während seines Besuches in Westdeutschland entweder zu ermorden oder zu entführen.« Bevor er weitersprach, hatte er diese Worte lange im Raum stehen lassen. Benedict spürte, dass er einen trockenen Hals bekam, und auch der Eisklumpen im Rücken hatte sich wieder eingefunden.

»Die Informationen, die unser Mann bis Mittwoch gesammelt hatte, deuteten allgemein darauf hin, dass der Anschlag im Großraum Bonn-Köln-Düsseldorf geplant sein würde. Leider war unser Mann nicht mehr in der Lage, diese Angaben gezielter zu bestätigen. Wir gehen aufgrund Ihrer Ermittlungen davon aus, dass ein Kommando der IRA den Sergeant enttarnt, verhört und hingerichtet hat. Wir ... hatten die Hoffnung, dass der Sergeant vor seinem Tod noch eine Nachricht oder einen Hinweis auf eine Nachricht hinterlassen hat, und haben daher heute Vormittag die Gegend um den Fundort der Leiche nochmals von unseren Leuten absuchen lassen, aber leider ...« In diesem letzten Satz des Mr. Smith war erstmals ein Anschein wirklichen Bedauerns auf geklungen.

»Und was heißt das jetzt alles?«, versuchte Benedict den Begriffsstutzigen zu spielen.

»Was heißt das! Was heißt das!«, ereiferte sich Kriminalrat Freudlos in seinem Sessel. »Das ist doch wohl sonnenklar! Die Sache fällt damit eindeutig in die Zuständigkeit des Generalbundesanwalts in Karlsruhe! Terroristen!«

Die drei Engländer gaben dazu keinen Kommentar ab.

»Und die Frau? Was ist mit der Frau?« Benedict rannte sich in seinem sinnlosen Widerstand fest.

»Kollege Benedict! Die gleiche Tätergruppe, der gleiche Hintergrund. Geht alles nach Karlsruhe. Sie sind aus dem Schneider, freuen Sie sich!«

»That’s life«, meinte der Captain beim Abschied, und Benedict wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte.

»Noch fünf Minuten, und du kriegst ein Strafverfahren wegen Umweltverschmutzung an den Hals. Von mir höchstpersönlich! Willst du nicht endlich den verdammten Motor abstellen und mit raufkommen?« Die Stimme des Freundes dringt plötzlich wieder durch den Dunst der Erinnerungen. Sein erstaunt prüfender Blick. Die Hand, die Benedicts Ellenbogen schüttelt. Der Wagen steht vor dem mit Schwarzschiefer gedeckten Zweifamilienhaus an der Bockumer Straße. Verwirrt bewegt Benedict den Kopf und dreht den Zündschlüssel herum. Das ohnehin leise Motorgeräusch erstirbt.

»Benny, du gefällst mir nicht. Irgendwas stimmt doch nicht mit dir!«

Die Stimme des Mannes hinter dem Steuer klingt brüchig, als er antwortet: »Da könntest du recht haben, Hannes. Da könntest du recht haben!«

*


Die Bewohner des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen sind größtenteils römisch-katholischen Glaubens. Sofern sie Glaubens sind. Zumindest statistisch gesehen. Somit sollte der Sonntag den Gläubigen zum Kirchgang und zur besinnenden Muße dienen.

Auf den triefnassen Äckern des deutsch-niederländischen Grenzgebietes in der Nähe der Gemeinde Twistedden verlegt ein Bauer Drainagerohre. Auch dieser Bauer gehört der statistischen Glaubensmehrheit des eben genannten Bundeslandes an. Trotzdem arbeitet er an einem Sonntagnachmittag. Was will man machen, wenn die Felder unter dem ständigen Niederrhein-Regen absaufen und die kaputten Drainagen ersetzt werden müssen. Der Glaube sorgt nicht für trockene Ackerkrume, und der Pfarrer drückt bei seinen landwirtschaftlichen Schäfchen beide Augen zu.

So tuckert die Zugmaschine mit dem schwer einsinkenden Hänger voller Rohre seit Mittag an den Rändern der Gemarkung entlang und passiert dabei mit arbeitsamer Gleichgültigkeit immer wieder jene Linie, die als Grenze zwischen dem Königreich der Niederlande und der Bundesrepublik Deutschland geschichtlich gewachsen ist.

Nein, hier gibt es keine Schlagbäume oder Grenzwachen. Hier ackert und pflügt man ohne große Rücksicht auf frühere Absichten. Es gibt hier auch niemanden, der beobachtet, wie aus einem niedrigen Gebüsch auf der niederländischen Seite drei schwer bepackte Gestalten zuerst ihre Taschen auf den Hänger werfen, dann flink selbst hinaufspringen und langgestreckt auf der schmutzigen Ladefläche liegen bleiben.

Als dieses geschieht, hüllen aufsteigende Herbstnebel und die sinkende Sonne die flache Landschaft in vorabendliches Zwielicht, und eine halbe Stunde später rattert das Arbeitsgespann mit seinen verborgenen Fahrgästen und eingeschalteten Scheinwerfern in Richtung Kevelaer davon.

*


Um zwei Uhr morgens wälzt sich Benedict immer noch unruhig in seinem Bett hin und her. Der Schlafanzug klebt an seinem Körper. Er ist äußerlich müde und zerschlagen, findet aber innerlich nicht die zum Einschlafen so wichtige Ruhe und Gelöstheit.

Auch das abendliche Gespräch mit seinem Freund konnte seine unruhige Spannung nicht besiegen. Schließlich gibt er seine nutzlosen Schäfchenzählereien auf und setzt sich im Wohnzimmer vor den Fernseher. Drückt den Sportkanal. Während auf dem Bildschirm bunte Rennwagen über den Kurs von Indianapolis rasen, sind seine Gedanken wieder bei diesem unruhigen Freitag. Nein, mit dem Gespräch bei den Tommies war die Sache noch nicht zu Ende. Als Freudlos und er wieder im Präsidium ankamen, überraschte ihn die Besatzung des 1. K mit einer Neuigkeit: Die Identität der toten Gefährtin des IntCorps-Sergeant war geklärt. Während ihrer Unterredung im Rhine Center hatte sich eine Frau auf die Zeitungsbilder hin gemeldet. Die Tote war von ihr als ihre Tochter identifiziert worden. Gabriele Bersch, 26 Jahre alt und Englischlehrerin an einem Düsseldorfer Gymnasium, befreundet mit vielen Engländern. So viel wusste die Mutter. Aber den Namen des Toten kannte sie nicht. Sie kannte auch den Toten nicht. Hatte aber, wie sie zugeben musste, im letzten halben Jahr nicht sehr viel Kontakt zu ihrer Tochter gehabt.

Eine Rückfrage im Sekretariat der Schule ergab, dass Gabriele Bersch eine Woche Sonderurlaub genommen hatte. Daher war ihr Verschwinden natürlich unbemerkt geblieben. Erst morgen hätte man sie vermisst gehabt.

Diese Konstellation ließ Raum für eine Reihe von Vermutungen.

Doemges, Leiden-Oster und er waren schnellstens zur Wohnung von Gabriele Bersch gefahren. Sie wohnte in der Mansardenwohnung eines modernen Neubaublocks. Als die Kriminalbeamten in die Wohnung eindrangen, stießen sie auf ein unbeschreibliches Durcheinander. Die beiden Räume waren total umgekrempelt worden. Alles, was sich irgendwie lösen oder lockern ließ, lag verstreut herum. Sessel, Polster und Bett waren aufgeschlitzt, das Geschirr war rücksichtslos herausgerissen und teilweise zertrümmert. Jemand war vor ihnen dagewesen und hatte etwas gesucht. Hatte er es auch gefunden?

Nach einer flüchtigen Bestandsaufnahme versiegelten sie die Wohnung von außen. Gerade als sie wieder in das unten wartende Fahrzeug steigen wollten, berührte jemand von hinten Benedicts Schulter. Ein blasser junger Mann mit leicht englischem Akzent in der Stimme hatte leise zu ihm gesagt: »Schönen Gruß von Captain Hart, aber die waren auch schon vor unseren Leuten da!«

Die Fälle des Kommissar Benedict: 6 sehr fette Krimis in einer Bibliothek

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