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1. Die Ausgangslage 1.1 Haben Sie PISA schon verkraftet?

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Werden bei PISA Äpfel mit Birnen verglichen?

Wenn Bayern München Meister der Fußballbundesliga, Gewinner der Champions League und Weltpokalsieger wird, kommt immer noch Geld dazu. Würden die deutschen Schulen bei der PISA-Studie jedoch überall vorn liegen, würden die Finanzminister versuchen, bei ihnen noch mehr zu sparen. Seien wir also froh, dass es nicht so ist, denn nun wird vielleicht ein wenig mehr in die Zukunft unserer Kinder investiert.

Willi Lemke, der Bremer Schulsenator, hat aber ganz listig erkannt, dass die Unterschiede in den Schülerleistungen zwischen den 31 vermessenen Staaten eigentlich nur marginal sind. So stehen beim Lernverständnis Mexiko mit 422 Punkten auf dem 31. Platz, Finnland mit 546 Punkten auf dem ersten Platz, die USA mit 504 Punkten fast auf dem OECD-Durchschnittsplatz, der mit 500 Punkten vorgegeben wurde, und Deutschland mit 484 Punkten fast auch da.

Was ist PISA also wirklich wert? Luxemburg liegt neben Mexiko ganz unten, hat aber durchweg nur 11 bis 13 Schüler in reich und gemütlich ausgestatteten Klassen und Lehrer, die viel mehr Gehalt bekommen als ihre deutschen Kollegen, während in dem Moloch Mexiko-City die Unmassen von schnüffelnden Straßenkindern auffallen, die gewiss nicht zur Schule gehen und deshalb auch nicht mitgemessen wurden.

Muss es nicht wundern, dass bei der Inflation von Vergleichsstudien über Schüler- und Schulleistungen in den letzten Jahren, ob sie nun TIMSS, LAU, IGLU, KESS, DELPHI oder PISA heißen, ob sie nun internationaler oder auch nationaler Art sind, immer wieder ganz andere Länder oben und ganz andere unten stehen?

Wer wird bei der nächsten Studie gewinnen und wer verlieren? Gerade haben wir uns daran gewöhnt, dass bei TIMSS Schweden ganz oben und die Niederlande auf Platz 2 standen, was immerhin deshalb interessant war, weil Schweden ein staatliches Gesamtschulwesen und die Niederlande ein im Wesentlichen privates und sehr viel stärker als bei uns zergliedertes Schulsystem haben. Plötzlich stehen Länder wie Finnland und Kanada ganz oben, die ihre Belehrungsanstalten längst zu Lernwerkstätten umgebaut haben, in denen viel gesprochen und gehandelt wird, in denen Fehler als Freunde beim Lernen verstanden werden und in denen die Lehrer von Be-Lehrern zu Lernberatern gewandelt worden sind, aber auch Länder wie Südkorea und Japan, die autoritäre Paukschulen mit hohen Notenhürden und Ausleseprüfungen haben.

Wenn wir jetzt über die Konsequenzen von PISA nachdenken, müssen wir also entweder in die 50er-Jahre des letzten Jahrhunderts zurück, und dann bekommen wir südkoreanische und japanische Schulverhältnisse, aber hoffentlich nicht zugleich mit den extrem hohen Schülersuizidraten, die diese Länder haben; oder wir müssen in die Zukunft hinein, und dann bekommen wir skandinavische oder kanadische Schulverhältnisse.

Sowieso bleiben ja viele Fragen trotz PISA offen:

Der ehemalige bayerische Kultusminister Hans Zehetmair hat schon 1996 behauptet, es gebe ein deutsches Süd-Nord-Gefälle bei den Schülerleistungen, und kam zu dem Schluss: „Norddeutsche sind dümmer.“ Wie erklärt er aber damit, dass die Region Hamburg die wohlhabendste ist? Erwirtschaften nur Bayern das Hamburger Bruttosozialprodukt?

Wie kommt es, dass bei einer Studie, die GEO-Wissen in Auftrag gegeben hatte, plötzlich die schleswig-holsteinischen Schüler ganz oben lagen, die bayerischen aber nur im Mittelfeld?

Und ist es gerecht, wenn Edmund Stoiber mir in einer Kärntener Sauna vorhält, dass in Bayern 19 Prozent eines Schülerjahrgangs zum Abitur kommen, in Hamburg aber 37 Prozent irgendwie zur Hochschulreife, und da sei das bayerische Abitur ja wohl höherwertiger? Ist es denn nicht besser, wenn möglichst viele junge Menschen ein breites allgemein bildendes Fundament erhalten? Und dürfte man, wenn überhaupt, nicht nur die oberen 19 Prozent der 37 Prozent Hamburger Hochschulberechtigten mit den 19 Prozent bayerischen Abiturienten vergleichen, wenn man fair sein will?

Wissen die Autoren der Studien also, wie sich heutige Schüler von innen anfühlen, ob sie in Deutschland genauso ernst an Fragebögen herangehen wie in Südkorea und ob sie nicht Aufgaben bewältigen können, ohne dass es den Anschein hat?

Der Komiker Otto Waalkes hat uns mit einem schönen Sketch beglückt, in dem ein Junge seinen Vater fragt, was denn 28:7 sei. Nach langem Hin und Her stellt sich heraus, der Junge wusste ganz genau, was 28:7 ist, er hatte nur die Aufgabe nicht verstanden. Aber genau das sagt PISA ja auch: Leseverständnis und Umsetzen von Wissen in Handeln seien die deutschen Defizite.

Oder liegt es an den Lehrern, die sowieso schon längst zwischen allen Stühlen sitzen mit ihrem schlechten Ruf, ihrer früheren Ausbildung für Schüler, die es heute gar nicht mehr gibt, zunehmenden Verhaltens- und Leistungsbandbreiten bei den Kids, höchst gegensätzlichen Elternerwartungen, Sparmaßnahmen, Reformstau und Experimentierwut zugleich, zu hohen Klassenfrequenzen, ihrem eigenen Älterwerden mit Burn-out-Syndrom und den hohen Erwartungen ihrer Abnehmer, nämlich der Hochschulen und der Ausbildungsbetriebe?

Die Züricher Weltwoche hat dieses Thema bereits vor Jahren in folgendes Bild gekleidet: Der heutige Lehrer hat die Aufgabe, eine Wandergruppe bestehend aus Spitzensportlern und Schwerstbehinderten bei Nebel durch unwegsames Gelände in nordsüdlicher und westöstlicher Richtung zugleich zu führen, und zwar so, dass alle bei bester Laune und gleichzeitig an drei verschiedenen Zielorten von ihren Eltern, Ausbildungsleitern und Hochschullehrern empfangen werden können.

Was und wie misst PISA eigentlich? Die Mathematik-Didaktiker der Universität Dortmund sagen doch schon seit Jahren, heute sei es für einen Schüler wichtiger, das Ergebnis einer Rechenaufgabe gut schätzen zu können, weil ihm die genaue Ziffernfolge des Ergebnisses der Taschenrechner liefert. Gibt es Sinn, deutsche und kanadische Schüler im Lesen zu vergleichen, da die englische Sprache und Schrift doch leichter zu erfassen sind als die deutsche? Aber Finnisch ist noch schwieriger. Ist es vielleicht die größere Schwierigkeit der finnischen Sprache, die dort die Schüler früher zu einer erhöhten Anstrengungskultur und damit zu mehr Leistungen herausfordert? Darf man Finnland mit seinen langen Winternächten mit dem Ruhrgebiet oder mit Hamburg vergleichen?

Nun sind die deutschen Schulen eher Halbtagsschulen, die traditionell die übende und vertiefende nachmittägliche Ergänzung durch Hausaufgaben brauchen. Gerade die Hausaufgaben sind aber in den letzten 40 Jahren stark abgebaut worden und teilweise durch verstärkten Medien-, also Informationskonsum ersetzt worden.

Die Tatsache, dass Deutschland mit seiner preußischen Tradition zur Perfektion – und zum Lamentieren – neigt, hat zu enorm überfrachteten Lehrplänen – von denen es insgesamt etwa 2400 gibt – geführt, mit deren Stoffdruck kaum noch Zeit zum Üben, Vertiefen und Anwenden bleibt. Die bei PISA oben stehenden skandinavischen Länder und Kanada haben aber knappe Lehrpläne sowie große Übungs- und handlungsorientierte Anwendungsanteile und zeigen daher bessere Lernergebnisse.

Wahrscheinlich vergleicht PISA also Äpfel mit Birnen, auch weil Finnland und Südkorea kaum Ausländerkinder haben, Deutschland aber wenigstens diesbezüglich Weltmeister ist. Mit der OECD-weit kürzesten Grundschulzeit (Italien hat fünf Jahre, die anderen Länder haben sechs, neun, zehn oder zwölf Jahre Grundschule) koppeln wir aber gerade die schwachen Schüler und unter ihnen zumal viele Ausländerkinder viel zu früh von der Motivation ab. Sie werden oft schon mit zehn Jahren Verlierer und geben sich dann als immerhin geborene Lerner auf. Große Leistungsbandbreiten – und hierbei ist Deutschland ebenfalls Spitze – sind gewiss auch die Folge von zu früh einsetzender Selektion statt möglichst lang anhaltender Forderung, Förderung und Integration. Unser früh einsetzendes dreigliedriges Schulsystem mit Hauptschule, Realschule und Gymnasium begünstigt jedenfalls gesellschaftliche Spaltung.

Es bleibt die Frage, ob man Schüler in ihrem Leistungsprofil wirklich stimmig vermessen kann. Man kann sie zwar in ihrer Körperlänge vermessen, und man kann auch messen, ob sie übergewichtig oder rot-grün-blind sind. Aber messen zu wollen, wie viele übergewichtige Schüler zugleich rot-grün-blind sind und in welcher Weise sie sich von linkshändigen hyperaktiven Legasthenikern unterscheiden, gibt nicht viel Sinn, und das Resultat interessiert auch niemanden wirklich.

Der ehemalige hessische Kultusminister Hartmut Holzapfel, der wahrscheinlich der letzte kompetente deutsche Kultusminister war, wenn man an die heutigen Quotenfrauen, Gymnasiallehrerinnen, Pfarrer, Strauß-Töchter, abgewickelten Fußballmanager und ehemaligen Konteradmiräle in den Kabinetten denkt, die für Schule zuständig sind, hat Schulleistungsvergleichsstudien einmal auf diese Formel gebracht: „Wer Gymnasien mit Gesamtschulen vergleicht, vergleicht Äpfel mit Birnen; ich esse, wenn es um die Früchte geht, lieber Birnen, wenn es um die Säfte geht, dann trinke ich aber lieber Apfelsaft.“

Jedenfalls werfen sowohl die PISA-Kommission der OECD in Paris als auch der Hirnforscher Manfred Spitzer aus Ulm den deutschen Schulen dreierlei vor:

– Sie betreiben eine übermäßige Beschämungskultur mit den Elementen frühe Notengebung, Sitzenbleiben, Hürden am Ende der Grundschule Richtung weiterführende Schulen, Abschluss verweigern, zentrale Abschlussprüfungen und Kursabstieg sowie Verweis von der Schule.

– Sie betreiben eine ineffiziente Fehlerkultur, denn Kinder lernen am besten über Um- und Irrwege, also durch Versuch und Irrtum bzw. „trial and error“. Die Kanadier sagen deshalb: „Fehler und Probleme sind Freunde beim Lernen.“

– Sie sind noch allzu sehr Belehrungsanstalten, in denen Schüler durch Zuhören lernen sollen. Dabei lernen sie besser durch Aussprechen, Erklären, Präsentieren und Handeln sowie voneinander.

Die 15 Gebote des Lernens

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