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WILLKOMMEN IN WIEN
ОглавлениеAm 2. November 1792 verließ Beethoven Bonn, seine Reise in die Reichs-, Haupt- und Residenzstadt dauerte acht Tage und führte ihn unter anderem durch Kriegsgebiet. Sein erstes (von zahlreichen) Wiener Quartieren bezog Beethoven bei einem Buchdrucker in der damaligen Vorstadt, seine damalige Adresse, Alser Straße 30, liegt heute nur zehn Minuten vom Zentrum entfernt.
Nun aber musste sich der junge Mann natürlich „völlig neu equippiren“. Zum einen hatte er sich um „Holz, Perrückenmacher, Kaffee, Ueberrock, Stiefel, Schuhe, Klavierpult, Petschaft, Schreibpult, Klaviergeld“ zu kümmern, aber Beethoven verabsäumte auch nicht, sich die Adresse von „Andreas Lindner, Tanzmeister, wohnt im Stoff am Himmel Nr. 415“ zu notieren.
Es ist nur ein kleines Detail, zeigt aber Beethovens sozialen Trumpf, dessen sich der junge Kleinstädter möglicherweise nicht deutlich bewusst gewesen sein mag – die Sozialisierung durch seine Heimatstadt Bonn.
Dank der knapp 200-jährigen Funktion als Haupt- und Residenzstadt des Kurfürstentums Köln hatte Bonn, und vor allem sein Wissens- und Kulturleben, ein anderes Niveau als manche deutsche Kleinstadt aufzuweisen. Der Kurfürstliche Musikbetrieb war wahrlich nicht irgendeine Hinterhofkapelle, sondern führte zu Recht den Namen Hofkapelle. Auch andere Positionen im Kultur- und Wissensbetrieb versprachen solide Qualität und lockten daher entsprechend gute Bewerber an – Christian Gottlob Neefe sei als Beispiel genannt.
In Bonn musikalisch aufzuwachsen war also kein tragisches Schicksal, sondern – selbst für ein angehendes Genie – eine Chance. Abgesehen davon war der letzte und für Beethoven entscheidende Fürsterzbischof, Maximilian Franz, als jüngster Sohn von Kaiser Franz I. Stephan von Lothringen und Maria Theresia der Onkel des amtierenden Kaisers Franz II., was dem jungen Beethoven in Wien sicher nicht schadete.
Ganz zu schweigen von den Nebeneffekten, die ein kurfürsterzbischöflicher Kaisersohn mit sich brachte, wie zum Beispiel Bonner Besuche österreichischer Würdenträger, die dabei den jungen Beethoven beziehungsweise von dessen beginnendem Ruhm gehört hatten. Oder Maximilian Franz’ Funktion als Hochmeister des Deutschen Ordens, welche wiederum Beethoven die Bekanntschaft mit Graf Waldstein ermöglicht hatte. Dessen Wurzeln – die Mutter war eine Liechtenstein, die Großmutter eine Trauttmansdorff, durch Schwestern, Onkeln und Tanten war Graf Waldstein mit zahlreichen der großen Adelsgeschlechter verwandt – waren eine von Beethovens Eintrittskarten in die höchsten Kreise. Und Beethovens Familie war natürlich ganz wesentlich mit Bonn verbunden. Ein ähnlicher sozialer Aufstieg, wie er seinem Großvater gelang, wäre zwar in jeder Kleinstadt mit ausgeprägtem und finanziertem Musikleben möglich gewesen, aber ein solches war wieder nur dank einer starken aristokratischen oder kirchlichen, am besten gleich einer aristokratisch-kirchlichen Machtkonzentration, möglich. Und davon gab es nun einmal nicht so viele.
Aber Beethovens Herkunft ermöglichte sein Wien-Sein nur zu einem Teil, den wichtigsten Anteil daran hatte … Beethoven!
Wobei nicht nur seine Genialität, sondern auch sein höchst selbstbewusstes Auftreten für Aufsehen sorgte und schon bald zu seinem Erfolg beitrug. Beethoven brauchte die Aristokratie, um gut zu leben, aber er wusste, dass die adeligen Damen und Herren noch mehr ihn benötigten, um den stürmisch gewordenen Wind der neuen Zeit, wenn auch gesittet, durch ihre Palaissuiten wehen zu lassen und um nicht vor Langeweile zu sterben, denn dieser junge Musiker beherrschte die Kunst des pianistischen Fantasierens in einer Art und Weise, die zu manch Fantasien anregte.
„Durch ununterbrochenen Fleiß erhalten Sie: Mozart’s Geist aus Haydens Händen.“ – Graf Ferdinand Ernst von Waldstein-Wartenberg (1762–1823)
Beethoven verstand es, auf dem schmalen Grat zwischen Unnahbarkeit und Verlässlichkeit zu wandeln, zwischen der „ganz ungebändigten Persönlichkeit“ (als die ihn Goethe 20 Jahre später in seinem Brief an Carl Friedrich Zelter vom 2. September 1812 bezeichnete) und dem zuverlässigen glänzenden Virtuosen, der mit seinen Interpretationen (zum Beispiel Bach’scher Präludien und Fugen) und seinem exzellenten Vom-Blatt-Spiel gepflegte Soireen in unvergessliche Abende verwandelte.
Der Erste, der sich die Dienste des jungen Starpianisten sicherte, war Karl Fürst Lichnowsky, weitere Musikkenner – wie Joseph Franz Maximilian von Lobkowitz oder Gottfried van Swieten – folgten.
In der schon erwähnten, durchaus mit Vorsicht zu genießenden, Beethoven-Biografie Anton Schindlers lassen sich folgende, in dem Fall vertrauenswürdige, Zeilen über den Sohn des legendären Hofarztes Gerard van Swieten lesen:
„Dieser Kunst Maecen war der Cicerone des neuen Ankömmlings, den er bald an seine Person, wie auch an sein Haus zu fesseln verstand. Die Versammlungen in diesem Hause hatten im Verlauf für Beethoven das Besondere, […] daß er stets am längsten aushalten mußte, denn der alte Herr war ein musicalischer Nimmersatt. So kam es, daß er Beethoven in der Regel spät fortließ, weil dieser sich bequemen mußte noch eine Anzahl Fugen von Seb. Bach ‚zum Abendsegen‘ vorzutragen.
Ein von diesem seltenen Manne an Beethoven gerichtetes Billet […] lautet wörtlich:
An Herrn Beethoven in der Alstergasse, No. 45 bei dem Herrn Fürsten Lichnowsky.
Wenn Sie künftigen Mittwoch nicht verhindert sind, so wünsche ich Sie um halb neun Uhr Abends mit der Schlafhaube im Sack bei mir zu sehen. Geben Sie mir unverzüglich Antwort. Swieten“
Die Adresse war kein Irrtum, Fürst Lichnowsky hatte nicht nur Beethovens Genie früh erkannt, sondern ihm auch eine noble Bleibe angeboten. Ob er dabei nur an den Virtuosen und den Komponisten als Aushängeschild seiner Konzerte oder auch an einen interessanten Gesprächspartner bei Tisch bei einem späten Mittagessen dachte, sei dahingestellt – Letzteres musste sich Fürst Lichnowsky aber schon bald abschminken, wie den Biographischen Notizen über Ludwig van Beethoven Franz Gerhard Wegelers und Ferdinand Ries’ zu entnehmen ist: „Nun soll ich“, sagte Beethoven, „täglich um halb 4 Uhr zu Hause sein, mich etwas besser anziehen, für den Bart sorgen u.s.w. – Das halt’ ich nicht aus!“
Wie so oft zeigte sich Beethoven, wenn es um persönliche Beziehungen ging, etwas schwierig, aber als „vielfacher Musiker“ – als Interpret wie als Komponist – unkompliziert und intensiv. Das betraf ebenso die Arbeit mit anderen Klangkörpern – zum Beispiel dem Lichnowsky-Quartett.
Beethoven 1802, nach einer Elfenbeinminiatur von Christian Horneman
Selbst ein ausgezeichneter Dilettant am Klavier und auf der Geige, finanzierte der Fürst das vierköpfige Streicherensemble aus zwei Geigen, einer Bratsche und einem Cello, das wöchentlich am Freitagvormittag vor geladenen Gästen musizierte. Die einzelnen Musiker waren alle sehr jung, was dem Ensemble den Spitznamen „Knaben-Quartett“ einbrachte. Sogar am ersten Pult saß ein erst 18-Jähriger, dessen Namen noch einen eigenen, edlen Klang bekommen sollte: Ignaz Schuppanzigh. Im Laufe seines Lebens würde er noch einige Streichquartette gründen und mit ihnen stürmische Erfolge feiern, aber selbst in seinen Anfängen ließ er bereits seine außergewöhnliche Qualität erkennen, aus vier Musikern ein Klang-Kollektiv zu formen. Nicht im Wettbewerb – „Ich spiel sowieso am schönsten! Dafür ich am lautesten! Und ich überhaupt am besten! Und ich erst!“ – gegeneinander „anzustreichen“, sondern den wahren Kompositionsklang zu suchen und hörbar zu machen, dafür arbeitete Schuppanzigh sein Leben lang.
Ein Leben, das nur drei Jahre länger als Beethovens dauern sollte. Aber jetzt, Anfang der 1790er-Jahre, ahnten beide noch nicht, dass sie ihr gemeinsamer musikalischer Weg über 30 Jahre bis zu mancher Uraufführung von Beethovens 16 Streichquartetten führen sollte.