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Empathie im Tierreich
ОглавлениеJemand anderes nicht nur vom Äußeren her, sondern ganzheitlich, also mit all seinen Gefühlen verstehen zu können – diese Fähigkeit bezeichnet man als Empathie.
Ein typisches Beispiel aus diesem Bereich ist das Mitgefühl oder im Falle eines negativen Ereignisses das Mitleid. Der griechische Philosoph Aristoteles definierte schon vor 2300 Jahren Mitleid als »ein gewisses Schmerzgefühl über ein in die Augen fallendes, vernichtendes und Schmerz bringendes Übel, das jemanden trifft, der nicht verdient, es zu erleiden«. Wissenschaftler der Universität London fanden heraus, dass bei der mitleidenden Person die gleichen Gehirnregionen angeregt werden, welche beim malträtierten Probanden aktiv sind. So wurde bei Paaren zunächst einem Partner an einer Hand Schmerz zugefügt und dabei die Gehirnströme gemessen. Danach sah diese Person zu, wie die gleiche Hand des anderen Partners ebenfalls schmerzvoll gereizt wurde. Und siehe da: In beiden Fällen wurde das Schmerzzentrum aktiv, sodass der zusehende Partner die Situation gedanklich ebenfalls durchlitt. Die Aktivität des Schmerzzentrums war dabei umso stärker, je mehr Mitleid der Proband empfand. Die genauen Abläufe dieser instinktgesteuerten Fähigkeit sind noch unbekannt; klar ist jedoch, dass allein die Beobachtung eines anderen diese Mitleidsprozesse in Gang setzt und die entsprechenden Bilder und Gefühle im Gehirn erzeugt. Je näher uns eine betreffende Person steht, desto stärker kann das Mitleid ausfallen. Dies legt eine weitere Vermutung nahe: Empathie kann es nur bei Wesen geben, die in sozialen Strukturen leben. Gilt das nur für den Menschen? Oder gibt es Mitgefühl auch bei anderen Arten oder sogar zwischen diesen?
Innerartliche Empathie ist nichts typisch Menschliches. Von vielen Säugetieren ist bekannt, dass sie sich von Emotionen anderer berühren lassen. Auch Mitgefühl und der Wunsch, dem anderen zu helfen, sind keine Seltenheit. Wissenschaftler der Universität Chicago untersuchten hierzu Ratten. Diese befreiten eingesperrte Artgenossen aus Käfigen, obwohl sie eigentlich zeitgleich angebotene Schokolade fressen konnten. Stattdessen kümmerten sie sich erst um die Häftlinge und teilten anschließend sogar ihre Belohnung mit den Freigelassenen.
Angesichts neuerer Erkenntnisse bei Bäumen klingt das vergleichsweise trivial. Buchen etwa unterstützen Nachbarn mit Zuckerlösung, wenn es diesen schlecht geht. Dazu tauschen sie über Wurzel- und Pilzgeflechte, mit denen sie untereinander Netzwerke bilden, Botschaften und anschließend Flüssigkeiten aus. Woher wissen sie, dass es einem Artgenossen schlecht geht? Hier steht die Wissenschaft noch ganz am Anfang, Tatsache ist jedoch, dass die Bäume die Not ihrer Kumpel registrieren und daraufhin helfend eingreifen. Und wenn Buchen oder Eichen so etwas können, dann ist es bei sozial organisierten Tieren fast eine Selbstverständlichkeit. Allein schon die Mutter-Kind-Beziehung funktioniert nur, wenn Mama die Bedürfnisse ihres Nachwuchses nachvollziehen kann. So stellten britische Forscher fest, dass Glucken mit Herzrasen auf Stress bei ihren Küken reagieren. Ähnliches ist bei den meisten Vögeln und Säugetieren zu vermuten. Wie aber sieht es mit der Empathie zwischen verschiedenen Arten aus? Ist hier endgültig eine Konstellation gefunden, in der wir einsame Spitze sind?
Tasten wir uns behutsam an die Antwort heran und untersuchen verschiedene Variationen. Die erste, relativ einfach nachzuvollziehende ist die zwischen Mensch und geliebtem Haustier. Allein in Deutschland existieren viele Millionen derartige Beziehungen. Hunde und Katzen haben bei den meisten Besitzern den Status eines Familienmitglieds, in manchen Fällen stehen sie sogar anstelle eines Kindes. Dass sich Herrchen und Frauchen problemlos in die Gefühlswelt ihrer Lieblinge hineinversetzen können, steht zumindest vonseiten des Menschen fest. Egal, ob dies tatsächlich oder nur eingebildet so ist: Es wird kräftig mitgefühlt. Und umgekehrt?
Es gibt deutliche Hinweise, dass die Vierbeiner sogar unsere Gedanken lesen können. Forscher des Max-Planck-Instituts in Leipzig fanden heraus, dass Hunde Gesten des Menschen verstehen. Diese Fähigkeit ist angeboren, muss also nicht erst erlernt werden. Zur Untersuchung wurden zwei geruchsabschirmende, umgedrehte Becher aufgestellt, einer mit Futter darunter, einer ohne. Mit der Hand deuteten die Versuchspersonen in die Richtung, in der die Belohnung gesucht werden sollte. In den meisten Fällen machten sich die Hunde am richtigen Becher zu schaffen. Lag das Futter offen herum und lautete der Befehl »Aus!«, so blieben sie brav liegen – bis sich die Person umdrehte, sodass der Hund sich unbeobachtet wähnte und rasch fraß. Wie sehr sich Hunde in uns hineinversetzen können, wurde bei einem weiteren Versuch der Leipziger Forscher noch deutlicher. Dazu wurden den Hunden zwei Spielzeuge vorgelegt. Das eine konnte der Versuchsleiter sehen, das andere war aus seiner Perspektive hinter einem Schirm verdeckt, während die Hunde gute Sicht auf beide hatten. Auf das Kommando »Bring’s mir her« brachten die Vierbeiner stets dasjenige, welches der Leiter sah. Das andere konnte er ja nicht gemeint haben – so dachten offensichtlich die Hunde und zeigten damit, wie sehr sie aus der Sicht des Menschen entschieden. Aus der Beobachtung unseres Äußeren können diese Haustiere also auf unsere Absichten und Möglichkeiten schließen, und das übrigens besser als etwa Schimpansen. Allzu viele Beispiele von Mitgefühl zwischen verschiedenen Arten gibt es allerdings (noch) nicht.
Genau wie bei unserer Spezies endet auch beim Tier die Empathie dort, wo das andere Wesen zu verschieden vom eigenen wird. Von einem besonders abstoßenden Beispiel berichtete mir eine Tierschützerin. Abstoßend war hierbei allerdings eher die Rolle des Menschen. Auf der Insel Sylt wurde zu einer Treibjagd geblasen. Im Mittelpunkt des Interesses der Jäger waren Hasen, die sich im sandigen Gras der Dünen tummelten. Die Waidmänner standen aufgereiht mit ihren schussbereiten Flinten, während ihre Hunde die Wildtiere aufscheuchten. Ein Schuss, und schon überschlug sich ein Hase. Doch er kam wieder auf die Beine, humpelte davon und versuchte sich zu retten. Da eilte ein großer Hund herbei und biss in den armen Kerl – allerdings ließ er ihn gleich wieder los. Wieder und wieder begann dieses erbarmenswerte Schauspiel, bei dem der Hund seinem Spieltrieb folgte und den Hasen nicht tötete, bis dieser schließlich doch sein Leben aushauchte. Abstoßend an der Sache war, dass kein Jäger eingriff, den Hund zu sich holte und den Hasen mit einem Gnadenschuss erlöste. Aber zurück zum Hund. Sofern wir ihm keine Bösartigkeit unterstellen möchten, bleibt nur noch die mangelnde Empathie. Und das wäre bei Tieren auch völlig normal. Genauso wenig, wie wir mit Fliegen oder Kellerasseln fühlen, Wesen, die sehr verschieden von uns sind, genauso wenig kann ein Hund sich in einen Hasen hineinversetzen. Derartige Vorstellungsgrenzen mag es bei allen Tierarten geben.
Umso erstaunlicher ist die Beobachtung, die ein amerikanisches Rentnerehepaar machte. Ann und Wally Collito saßen auf ihrer Veranda, als eine junge, streunende Katze durch den Garten schlich. Klein, hilflos – sofort regte sich Mitleid bei den Collitos. Doch nicht nur bei ihnen. Denn plötzlich tauchte eine Krähe auf, die sich zum Kätzchen gesellte. Würde es einen Kampf geben? Nein, offensichtlich begleitete der schwarze Vogel das kleine Raubtier, und nicht nur das. Er suchte im Gras nach Würmern und fing an, das Waisenkind zu füttern. Die Freundschaft sollte über Jahre halten, und selbstverständlich adoptierten auch Ann und Wally die Katze. Die erste Kontaktszene wurde von dem Ehepaar übrigens filmisch festgehalten und kann bei YouTube unter Eingabe der beiden Tiernamen »Cassie und Moses« aufgerufen werden.
Mitgefühl? Oder handelte die Krähe instinktiv, da sie keinen Partner und keine Jungen hatte und das Kätzchen mütterliche Gefühle auslöste? Selbst wenn es so wäre, so gleicht die Qualität dieser Empathie derjenigen, die zwischen Mensch und Hund herrscht. Auch bei dieser Beziehung hat der Vierbeiner häufig den Status eines Familienmitgliedes und ersetzt nicht selten das fehlende Kind.
Nicht weit entfernt von der Empathie ist der Altruismus. Der Begriff umfasst Handlungsweisen, die dem Handelnden mehr Kosten als Nutzen einbringen, klassischerweise also als uneigennützig gelten. Was zunächst nach moralischer Höchstleistung klingt, kann im Tierreich rein instinktgesteuert und unbewusst ablaufen. Denken Sie an Ammenbienen, die selbst kinderlos sind, sich aber um die Brutpflege kümmern, oder ein Ameisenvolk, dessen Soldaten sich heldenhaft überlegenen Angreifern in den Weg stellen, um das Volk und vor allem die Königin zu retten. Alles kleine Altruisten, die sich für Volk und Vaterland auffressen lassen?
Auf Menschen bezogen, wird der Begriff mit moralischen Werten verbunden. Ein Altruist handelt aus Überzeugung, um etwa der Gerechtigkeit zur Geltung zu verhelfen. Daneben wird altruistisches Handeln durch sozialen Druck, etwa Gesetze oder berufliche Zwänge, hervorgerufen. Welcher Soldat steht schon in Afghanistan, um sich oder seine Familie zu verteidigen?
Eine andere typische Form ist die Adoption von Waisenkindern. Die aufnehmenden Eltern haben Kosten und Mühen für die, rein biologisch gesehen, Rettung fremden Erbguts. Natürlich gibt ein solches Kind den Eltern viel zurück, unter evolutionären Gesichtspunkten endet der Weg der Stiefeltern jedoch in einer Sackgasse.
Diese moralische Form des Altruismus wurde Tieren bisher abgesprochen. Beobachtet wurden Adoptionen von Tierwaisen bislang nur innerhalb bestehender Verwandtschaftsbeziehungen. Die Sorge um Individuen, die nicht zur eigenen Familie gehören, galt als eine der letzten Domänen des Menschen. Bis Leipziger Forscher um Christophe Boesch vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie aufsehenerregende Ergebnisse aus dem Tai-Nationalpark der Elfenbeinküste mitbrachten. Die dort lebenden Schimpansen adoptierten in 18 beobachteten Fällen familienfremde Waisen. Mehrere Jahre lang sorgten sie für Nahrung und Schutz vor Raubtieren, ganz wie für den leiblichen Nachwuchs. Schnell waren Erklärungen zur Hand: Die lokal hohe Leopardenpopulation stelle ein hohes Bedrohungspotenzial dar. Dieses schweiße die Affenkolonien fester zusammen und führe möglicherweise deshalb zu den altruistischen Handlungen. Aber lassen sich in letzter Konsequenz nicht auch für menschliches Handeln derartige Gründe finden? Nebenbei bewiesen die frei lebenden Schimpansen einmal mehr, dass Zootiere ungeeignete Forschungsobjekte sind. Denn den gefangenen Artgenossen kommt die neu entdeckte Eigenschaft offenbar abhanden, weil sie von Wärtern versorgt werden und daher eine gegenseitige Sorge überflüssig ist.