Читать книгу Die Gefühle der Tiere - Peter Wohlleben, Peter Wohlleben - Страница 7

Оглавление

Auf der Suche nach dem scheuen Reh

Große dunkle Augen, ein sympathisches Gesicht, dazu ein schlanker Hals und dünne Beine: Rehe sind anmutige Tiere. Mit der Leichtigkeit von Gazellen hüpfen sie durchs Unterholz und überspringen Zäune bis 1,50 Meter Höhe. Dabei können wir sie allerdings nicht allzu oft beobachten, denn sie meiden Menschen. Schon unsere Vorfahren jagten die kleinen Pflanzenfresser, und aktuell werden pro Jahr allein in Deutschland über eine Million geschossen. Kein Wunder, dass sie ihre Aktivität in die Nacht verlagert haben und am Tage auf Distanz bleiben. Dabei wirken sie aber nicht so ängstlich wie Hasen, und das liegt an ihrem besonderen Fluchtverhalten. Rehe halten keine langen Strecken bei vollem Tempo durch. Das brauchen sie in ihrem ursprünglichen Lebensraum, dem Waldrand, auch nicht. Bei verdächtigen Bewegungen oder Geräuschen sprinten sie zunächst rund 100 Meter weit, um dann wieder stehen zu bleiben und sich erst einmal umzusehen. Manchmal rufen sie dabei hundeartig (das wird »Schrecken« genannt). Werden sie nicht verfolgt, setzen sie ihren Weg dann in ruhigem Trab oder gar im Schritt fort. Mit der wilden, hakenschlagenden Hasenflucht hat das wenig zu tun – wobei: Geradlinig ist der Weg in solchen Situationen auch nicht. In einem großen Bogen, der langsam und oft mehr als eine Stunde Zeit in Anspruch nimmt, bewegen sich die Rehe wieder auf ihren ursprünglichen Standort zu. Der Grund ist ihr Revier: Hier haben sie sich gegenüber Artgenossen behauptet, hier sind sie zuhause. Und wird ein Reh doch einmal von einem Hund verfolgt, so kreuzt es mehrfach seine eigene Spur, sodass der nach der Nase jagende Hund den roten Faden verliert. Daher kann er ein gesundes Reh im Wald auch nicht fangen.

Als typische Einzelgänger schließen sich Rehe nicht dem Menschen an. Auch wenn sie in unsere Vorgärten kommen (dort wird schließlich nicht gejagt) und dort ein wenig ihre Scheu vor uns ablegen – ein Rest davon bleibt.


Tiere, die kein Schmerzempfinden hätten, würden von der gnadenlosen Natur sofort aussortiert. Wird beispielsweise ein verletztes Bein nicht geschont, sondern rücksichtslos weiter belastet, so fällt es schließlich ganz aus – und der Besitzer wird ein leichtes Opfer von Raubtieren. Ein trauriges Beispiel für die Wichtigkeit dieses Signals bei uns Menschen lieferte ein pakistanischer Junge, auf den Forscher aufmerksam wurden. Er trat als Straßenkünstler auf, lief über glühende Kohlen und bohrte sich Messerklingen in die Arme. Kein Wunder, stellten die Wissenschaftler doch einen Gendefekt fest, der jedes Schmerzempfinden unmöglich machte. Sechs weitere Kinder mit gleichen Erbschäden wurden in der Verwandtschaft des Jungen entdeckt, alle mit zahlreichen blauen Flecken, Schnittwunden, Quetschungen und Knochenbrüchen. Das Leben des Jungen endete wenig später während eines Auftritts mit einem Sturz vom Dach.

Ohne Schmerz ist das Überleben für uns kaum möglich. Täglich würden wir uns verletzen und aus diesen Verletzungen wenig lernen. Unangenehme Erinnerungen an die auslösenden Situationen gäbe es ja nicht, von dem abstoßenden Anblick einmal abgesehen. Warum sollte das für Tiere anders sein? Wie, wenn nicht durch Schmerz, könnten sie sofort Verletzungen feststellen, sich außer Gefahr bringen und diese künftig meiden?

Selbst primitivste Arten müssen demnach über Gefühle verfügen. Angenommen, Fliegen hätten kein Bewusstsein (was sich, wie später noch erwähnt wird, als Irrtum erweisen könnte). Fühlte sich dann Schmerz für die Winzlinge trotzdem ähnlich an wie für uns? Wäre es nicht möglich, dass Schmerz in diesem Fall nur ein biochemischer Auslösereiz ist, der eine Kettenreaktion von Reflexen in Gang setzt? Der keine Qualen auslöst, sondern nur einen Schalter eines Bioroboters darstellt? Wäre es so, so würden Fliegen aus unangenehmen Erfahrungen nichts lernen. Sie würden wieder und wieder dieselben Fehler machen, wenn Schmerz nichts Abschreckendes hätte. Dass sie ihr Verhalten ändern, können Sie beispielsweise beim Fliegenfangen sehen: Die kleinen Flieger werden mit jedem Versuch, mit jedem Erschrecken vorsichtiger, starten bereits, wenn sich Ihre Hand nur nähert. Es muss also selbst bei winzigen Insekten positive und negative Gefühle geben, Belohnungen und Bestrafungen für Handlungen, die einen Lernerfolg zum Ziel haben.

Das Bewusstsein, so vorhanden, lässt das Individuum höchstens zum Beobachter eines kaum beeinflussbaren Prozesses werden. Denken wir an uns selbst und die Herdplatte. Ist das Bewusstsein hier nicht vollkommen überflüssig? Die Hand zieht sich auch ohne Denkprozesse rasch zurück, und unsere Wahrnehmung erhöht nur die Qual, weil wir den Schmerz in allen Facetten auskosten müssten. Das Bewusstsein als unbeteiligter Beobachter könnte höchstens die Rolle eines Verstärkers übernehmen, der die negativen Gefühle fester verankert und so Fehler konsequenter vermeiden hilft.

Werden Wirbeltiere verletzt, so wird bei ihnen das gleiche Areal im zentralen Nervensystem aktiv wie bei uns, nämlich das Endhirn. Selbst bei Fischen, die entwicklungsgeschichtlich sehr weit von uns entfernt sind. Wenn sie am Haken des Anglers zappeln, muss nach neuestem Stand der Forschung von einem quälerischen Akt ausgegangen werden, denn ihr Endhirn läuft dabei ebenfalls zu Höchstleistungen auf.


Das Schmerzempfinden als elementare Warnfunktion muss bei jedem Tier vorhanden sein, ob unbewusst oder bewusst. Anscheinend gilt diese Erkenntnis aber nicht für bürokratische Wissenschaftler (oder wissenschaftliche Bürokraten). Anders ist es nicht vorstellbar, dass unserem Schutz unterstellten Tieren so viel zugemutet werden darf. Fleisch von männlichen Schweinen mag niemand kaufen, weil sie voller Sexualhormone sind und das Fleisch daher unangenehm riecht. Was liegt da näher, als einfach den Quell des Übels, die Hoden, zu entfernen? Und damit das schnell und billig abläuft, werden die wenige Tage alten Ferkel ohne Betäubung operiert. Aus angeblichen Tierschutzgründen(!) sind auch das Ausbrennen der Hörner bei Kälbern und das Abschneiden der empfindlichen Schnabelspitzen bei Hühnerküken in der modernen Landwirtschaft Alltag – selbstverständlich ohne Narkose. Ansonsten würden sich die Tiere in der Enge der Ställe gegenseitig verletzen. Klingt brutal und ist es wohl auch, aber von offizieller Seite nimmt man einfach an, dass zumindest ganz junge Tiere kein Schmerzempfinden haben. Erst ab 2017 (Hühner) und ab 2019 (Ferkel) soll sich dies ändern – nach diesen Terminen darf amtlicherseits Gnade walten.

Selbst die Nachkommen unserer eigenen Art, eben erst geborene Säuglinge und vor allem Frühchen, wurden früher medizinisch als schmerzunempfindliches Etwas angesehen. Bis in die 80er-Jahre des letzten Jahrhunderts operierten Chirurgen sogar am offenen Herzen von Babys, und zwar (aus Angst vor Nebenwirkungen) ohne Narkosemittel; das herzzerreißende Schreien und Strampeln wurde von ihnen eher als harmloser Reflex gedeutet.

Mittlerweile weiß man, dass Neugeborene selbstverständlich Schmerzen fühlen, und daher setzt man bei Operationen solch junger Patienten heute routinemäßig Schmerz- und Narkosemittel ein. Tierbabys wird das leider oft immer noch abgesprochen. Dabei ist auch bei ihnen das beobachtbar, was allen Wesen auf unserem Planeten gemein ist: Werden sie verletzt, so zeigt der Körper eine Abwehrreaktion. In diesem Fall ein heftiges Strampeln und Schreien, was vermutlich nur deshalb als unerheblich abgetan wird, damit die Halter weiterhin ohne Skrupel Ferkel und Küken für die Massentierhaltung tauglich machen können.

Noch einmal: Schmerz ist ein Körpersignal, welches dem Gehirn die drohende oder eingetretene Schädigung des Körpers meldet – dieses Gefühl muss jedes Wesen kennen. Damit ist gleichzeitig geklärt, dass Tiere grundsätzlich fühlende Geschöpfe sind. Allerdings haben wir bisher erst den wissenschaftlich »minderwertigeren« Teil, die Sensibilität, abgedeckt. Um zu zeigen, wie es mit den anspruchsvolleren Gefühlen, den Emotionen, aussieht, muss ich auch in diesem Zusammenhang zunächst in die Kiste der negativen Gefühle greifen. Sie rufen viel heftigere Reaktionen hervor und sind daher besser nachzuvollziehen.

Emotionen sind komplizierte Vorgänge zwischen Körper und Verstand, die unser Bewusstsein in Form von Gefühlen erreichen. Eines der stärksten ist die Angst. Sie signalisiert dem Gehirn eine so heftige Bedrohung, dass Blutdruck und Puls ansteigen und der ganze Organismus in den Zustand höchster Leistungsfähigkeit versetzt wird. Mit der Angst spricht das Unterbewusstsein meistens Verbote aus, dieses und jenes zu tun. Aktives Handeln wird in aller Regel nur für eine Flucht ausgelöst. Ein Teil der Ängste ist angeboren, andere werden erlernt. Für Letzteres habe ich täglich ein Beispiel vor Augen: einen Elektrozaun. Unsere Milchziegen genießen die warme Jahreszeit auf der Sommerweide. Alle zwei Wochen ist die Teilparzelle abgegrast, und das nächste Wiesenstück ist an der Reihe. Um die Ziegen zu hüten, hat sich ein Elektrozaun bewährt. Er ist nicht so gefährlich wie Stacheldraht und kann leicht versetzt werden. Die Stromschläge sind zwar schmerzhaft, aber ungefährlich. Die älteren Tiere berühren den Zaun schon jahrelang nicht mehr, während die Lämmer zwei, drei Mal die unangenehme Erfahrung machen, dass die Litzen eine Grenze darstellen, die man besser meidet.

Wie sich die Ziegen fühlen, kann ich gut nachvollziehen. Denn auch ich habe den Zaun schon mehrmals unabsichtlich berührt. Der Stromschlag wirkt wie ein fester Schlag mit der flachen Hand, verbunden mit einem den Körper durchzuckenden Schmerz. Nach einem solchen Missgeschick vergewissere ich mich bei den nächsten Weidebesuchen mehrfach, ob auch wirklich der Strom abgeschaltet ist. Und selbst dann ist mir mulmig zumute, wenn ich den Zaun zwecks Umsetzen anfassen muss. Meine Angst vor dem nächsten Stromschlag ist also stärker als mein Verstand, der Harmlosigkeit signalisiert. Und diese Angst ist den Tieren sicher gleichermaßen bewusst.

Bei unseren Pferden, die ebenfalls mittels Elektrozaun auf der Weide gehalten werden, kann man dieses Bewusstsein sogar beobachten. Sie sind, was Stromimpulse anbelangt, besonders empfindlich. Daher empfehlen die Gerätehersteller die Wahl einer geringen, Strom sparenden Stufe des Weidezaungeräts. Übersetzt heißt dies, dass Pferde außergewöhnlich ängstlich sind. Wie bewusst sie die Vorgänge um den Zaun (und damit die schmerzhaften Lektionen) wahrnehmen, zeigt unsere Stute Bridgi. Sie ist besonders verfressen, und das saftigste Gras wächst natürlich immer außerhalb der Umzäunung. Bridgi registrierte, dass jedes Mal, wenn ich komme, der Strom abgeschaltet wird. Und seit diesem Moment der Erkenntnis handelt sie wie folgt: Sobald ich die Weide betrete, schiebt sie ihren Hals unter dem Zaun hindurch. Mit dem Elektroband im Nacken grast sie den Nachbarstreifen genüsslich ab, bis ich die Koppel wieder verlasse. Wäre die Angst rein unbewusst, so würde die Stute den Kontakt zum Zaun durchgehend vermeiden. So aber schaltet ihr Bewusstsein die Furcht in dem Augenblick ab, wenn ich den Strom abschalte. Von außen gesehen, kann man weder dem Pferd noch mir die Angst ansehen. Lediglich die Vermeidung der Zaunberührung deutet darauf hin.

Dieses Gefühl darf man sicher den meisten, wenn nicht allen Tierarten unterstellen. Unangenehme Erfahrung macht nun mal jeder, und jedes Wesen muss daraus lernen können, um zu überleben. Lernen und Angst sind demnach fest miteinander verknüpft. Der Schluss »alle lernfähigen Wesen können auch Angst empfinden« muss somit zulässig sein. Und selbst Fliegen mit ihren klitzekleinen Hirnen lernen. Das kennen Sie sicher auch: Wenn Sie in Ihrer Wohnung auf Jagd nach den Plagegeistern gehen, so werden die Winzlinge immer gewiefter, je öfter Sie daneben schlagen. Es ist eine Art Training der besonderen Art, denn jeder Fehler der Fliegen wird sofort mit dem Tod bestraft. Warum weichen sie unserer Hand aus? Weil sie Angst haben, Todesangst, und das lässt sie auch außergewöhnlich schnell lernen.

Die Gefühle der Tiere

Подняться наверх