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01 Seuchen gab es schon immer

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Es gibt Berge, über die man hinübermuss, sonst geht der Weg nicht weiter“

Ludwig Thoma (Deutscher Schriftsteller, 1867-1921)

Angesichts der aktuellen Corona-Pandemie und ihrer einschneidenden Folgen fragen sich viele Menschen, ob und welche Seuchen es früher gab, wie mit ihnen umgegangen wurde und ob der Umgang damals ein anderer war als heute.

Wie sieht es also aus mit unserer Seuchenhistorie? Und was ist das überhaupt – eine Seuche?

Das Wort „Seuche“ ist ein Abstraktum zu siech („schwach, krank“) und geht zurück auf das althochdeutsche siuhhī, unter anderem im Sinne von „allgemeine Krankheit, die den ganzen Körper schwächt oder eine Krankheit der ganzen Gegend, der ganzen Sippe oder Herde“ (01).

Als Seuche bezeichnet man früher eine „ansteckende Krankheit, die allgemeiner sich ausbreiten kann, da die Gesunden durch die an derselben Krankheit Leidenden angesteckt werden können“, ab dem 17. Jahrhundert auch den „Krankheitsstoff, der durch den ganzen Körper oder das Land geht“.

Im 18. Jahrhundert wird der Begriff als Ersetzung des Begriffes Pest beziehungsweise Pestilenz in Gebrauch gekommen, wobei letztere als Oberbegriff für massenhaftes Erkranken und Sterben dient. Dieser Seuchenbegriff beschreibt nunmehr mehr oder weniger plötzlich auftretende Massenerkrankungen, Seuche wird nicht von der Ursache her definiert, sondern durch die Intensität und Plötzlichkeit des Auftretens.

Die Kontagiosität (Übertragungsfähigkeit) und Infektiosität (Fähigkeit, bei einem Wirt eine Infektion hervorzurufen) sowie Art, Schweregrad und Letalität (Sterblichkeit) der hervorgerufenen Krankheit bestimmen dabei Art und Ausmaß einer Seuche. Typisch ist ein schwerer Verlauf solch virulenter Infektionskrankheiten, der zu „Siechtum“ oder Tod führen kann.

Heute verwendet man den Begriff Seuche im Sinne einer sich schnell ausbreitenden ansteckenden Infektionskrankheit. In einem engeren Sinne kann man sie auch als eine zeitlich und örtlich gehäuft auftretende Erkrankung zahlreicher Lebewesen an einer bedrohlichen und hochansteckenden Infektionskrankheit verstehen. Der Begriff ist in der modernen Fachsprache weitgehend durch Infektion ersetzt.

Seuchenartige Häufungen von infektiösen Erkrankungen werden in der Epidemiologie je nach Art der zeitlichen und räumlichen Ausbreitung in drei Gruppen unterteilt.

Epidemie bei zeitlich und räumlich begrenzter Häufung

Endemie bei räumlich begrenzter, zeitlich unbegrenzter Häufung

Pandemie bei zeitlich begrenzter, räumlich unbegrenzter

Schaut man sich die „Seuchengeschichte“ auf unserem Globus einmal genauer an, so stellt man fest: So einzigartig, wie es zunächst den Anschein hatte und medial transportiert wurde, ist diese weltumspannende Pandemie gar nicht, die das Gefüge der uns gewohnten Welt so heftig erschüttert.

Epidemien begleiten die Menschheit seit Jahrhunderten und üben einen nachhaltigen Einfluss auf Wirtschaft und Gesellschaft aus. Sie machen einen unausrottbaren und beständig wiederkehrenden Teil der Menschheitsgeschichte aus. Seuchen im alten Sinn waren dabei absolut dramatische Ereignisse. Das liegt auch daran, dass die Erkenntnis der Übertragung durch Erreger erst 1876 durch die Arbeiten von Robert Koch ihren Anfang nimmt.

Einer der frühesten Hinweise auf räumliche Distanzierung stammt aus dem siebten Jahrhundert v. Chr. im Buch Levtikus, 13,46: „Und der Aussätzige, in dem die Pest ist […] er wird allein wohnen; [außerhalb] des Lagers wird seine Wohnung sein.“

Auch Thukydides beschreibt um 400 v.Chr. in seiner Geschichte des Peloponnesischen Kriegs die Wirkung einer rätselhaften Infektionskrankheit, die Athen während der spartanischen Belagerung heimsucht und am Anfang ihres langen Niedergangs steht.

Im kollektiven Gedächtnis besonders verankert ist die Pest, die seit der Antike als verheerende Seuche tradiert. Mitte des 14. Jahrhunderts führt der „schwarze Tod“, der die europäische Zivilisation in so verheerender Form heimsucht, zu einem Massensterben historischen Ausmaßes. Zwischen 1348 und 1353 fordert die Seuche vermutlich über 20 Millionen Todesopfer und rafft ein Viertel bis ein Drittel der damaligen Bevölkerung dahin. Aus Asien kommend, gelangt die Pest über die Hafenstadt Kaffa in das Handelsnetz der Genueser und verbreitete sich so über ganz Europa.

Die Auswirkungen zeigen sich in Politik und Wirtschaft, sie sind auch in Religion, Kultur und Medizin spürbar. Kurzfristig kommt es zu einem fast vollkommenen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens, wie die Novellensammlung «Il Decamerone» des Schriftstellers Giovanni Boccaccio für Florenz bezeugt.

In längerfristiger Perspektive führen die massiven Bevölkerungsverluste zur Aufgabe schlechter und unrentabel gewordener Ackerflächen, sodass ganze Dörfer verlassen und Landstriche zu Wüstungen werden. In den Städten dagegen steigen die Löhne sowie der allgemeine Lebensstandard. Gleichzeitig fördern die höheren Arbeitskosten technische Innovationen wie den Buchdruck, um die kostenintensive Handarbeit zu mechanisieren.

Auswirkungen auf Handel und Wirtschaft hat auch die von den Städten Oberitaliens zum Schutz vor der Pest eingeführte Quarantäne von Schiffen, die für die folgenden Jahrhunderte eine der klassischen Maßnahmen zum Schutz vor Epidemien wird – Kaufleute und Schiffsbesatzungen werden für 30, später 40 Tage meist in Lazaretten isoliert.

Schwere Seuchenzüge, denen in den davon betroffenen Städten regelmäßig Hunderte und Tausende Menschen innerhalb weniger Monate zum Opfer fallen, sind im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit eine wiederkehrende Bedrohung.

Da stellt sich automatisch die Frage: Wie wurde früher mit Seuchen umgegangen?

„Anno 1562 Jar starb es Gewaldig zu / Nurremberg das kein Man gedacht es fohen / die Reichen leud alle auß der stat darinnen/Sturben 10345 Menschen den allen / Gott die frolich aufferstehung gebe.“

Mit diesen Worten verzeichnet die Nürnberger Chronik des Weinschenks Wolf Neubauer d. J. (†1621), die große Pest des Jahres 1562.

Gut dokumentiert ist, wie in der frühneuzeitlichen Bevölkerung mit Seuchen umgegangen wird und welche Maßnahmen ergriffen werden, um ihrer Herr zu werden.

Eine zuverlässig erfolgreiche Behandlung für Erkrankte ist nicht zur Hand. Bekämpfung der Pest bedeutet daher in der Hauptsache den Schutz der nicht-Erkrankten vor der Erkrankung und damit vor allem vor den erkrankten Menschen selbst sowie den Leichen der Verstorbenen.

So werden Erkrankte rasch auf Tragen aus der Stadt geschafft. Es werden Lazarette vor den Stadtgrenzen errichtet, um die Verbreitung der Krankheit durch räumliche Distanzierung zu erschweren. Besonderen Ausdruck finden die Maßnahmen des Ausschlusses Erkrankter schließlich in der Errichtung sogenannter „Pesthäuser“ weit außerhalb der Städte.

Wer kann, flieht aus der Stadt und lässt sich woanders nieder. Denn eine verlässliche Überlebenschance haben insbesondere jene, die gar nicht erst erkranken. Das wiederum lässt sich nur dann halbwegs zuverlässig bewerkstelligen, wenn Pestgebiete gemieden werden. Dies möglichst frühzeitig, möglichst lange und möglichst weit.

Allerdings ist die Seuche meist schneller - den dramatischen Folgen der regelmäßig auftretenden Epidemien ist kaum zu entkommen – weder in der Ferne noch in der Heimat (02).

Die europäische Eroberung der Welt seit der Frühneuzeit beruht ganz maßgeblich auf epidemischen Faktoren. Ohne die genozide Wirkung der Krankheitskeime, die die vordringenden Europäer auf die indigene Bevölkerung übertrugen, gäbe es weder die Staatenvielfalt noch die verschiedenen Kulturkreise, in die Nord- und Südamerika sich heute gliedern.

Das Massensterben an der Pest sorgt nicht nur dafür, dass die überlebenden Bauern schließlich über größere Anbauflächen verfügen, der gleichzeitige Anstieg der Arbeitskosten lässt das Spätmittelalter auch zu einer Epoche technischer Neuerungen mit weitreichenden Wirkungen über die Erfindung des Buchdrucks hinaus werden – auf das Jahrhundert des Schwarzen Todes folgte das Zeitalter der Renaissance.

Der Seuchenausbruch bedeutete auch den Beginn der modernen Hygienewirtschaft, die zur Entstehung der städtischen Kanalisation führte und trieb mit der Einführung der Mineraldüngung die Revolutionierung der Landwirtschaft voran (03).

Seit dem Rückzug der Pest aus Europa ab dem späten 17. Jahrhundert treten Infektionen wie Ruhr, Syphilis, Typhus, Pocken und Malaria vermehrt auf.

Im 19. Jahrhundert sucht dann die Cholera die europäischen Länder heim.

Die Cholera gilt als die klassische Seuche des 19. Jahrhunderts. Eine kurze Inkubationszeit und ein schneller Verlauf begrenzen die Krankheit lange auf Asien. Dies ändert sich im Zeitalter des Welthandels, als sie sich von Indien aus entlang der Handelswege nach Westen hin ausbreitet und Europa seit den 1830er-Jahren heimsucht.

Besonders gut dokumentiert ist die Choleraepidemie der 1890er-Jahre, von der Hamburg als einzige europäische Großstadt betroffen ist. Binnen weniger Wochen fallen rund 8000 Menschen der Krankheit zum Opfer. Da in Hamburg das Trinkwasser nicht gefiltert wird, können sich die Krankheitserreger über die zentrale Wasserversorgung im ganzen Stadtgebiet ausbreiten. So hat die vom Kaufmannsgeist geprägte Stadt an der falschen Stelle gespart.

Die Cholera fungiert als Motor für bedeutende sanitäre Reformen auf dem Gebiet von Wasserversorgung und Kanalisation, die in vielen europäischen Städten ab den 1870er-Jahren systematisch in Angriff genommen werden. Die Kommunen vollbringen dabei technische und finanzielle Pionierleistungen.

Das zwanzigste Jahrhundert schließlich ist das Zeitalter der grippeartigen Epidemien.

Die Spanischen Grippe 1918–1920, die häufig in Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg diskutiert wird und mit einer geschätzten Zahl von 40 Millionen Todesfällen die Anzahl der 17 Millionen Kriegstoten weit übertrifft, sucht sich abweichend von vielen anderen Epidemien ihre Opfer nicht unter Kindern und Senioren, sondern betrifft vor allem junge Männer im besten Alter. Dies löst nach Kriegsende eine tiefgehende Sorge um die Entwicklung der Bevölkerung und der Wirtschaftskraft aus.

Dass die asiatische Grippe 1957/58 über eine Million Menschen das Leben kostet, schreibt sich dem kollektiven Gedächtnis kaum ein. Sie wird noch auf ihrem Höhepunkt sowohl im Osten als auch im Westen unseres damals noch zweigeteilten Landes als eher harmlos verlaufende Krankheit charakterisiert.

Auch die Hongkong-Grippe 1968/69 scheint der seinerzeitigen Berichterstattung zufolge lange einen Bogen um Deutschland gemacht zu haben. „Keine Hongkong-Grippe in der Republik“ titelt das Neue Deutschland noch Anfang 1969.

Zusätzlich zu den grippeartigen Epidemien tauchen Ende des zwanzigsten/Anfang des einundzwanzigsten Jahrhunderts neue Bedrohungen wie HIV, Ehec und Sars und aktuell das Coronavirus auf.

Ebenso wie die Generationen vor uns leidet die moderne Welt bis heute unter periodisch auftretenden Pandemien, die nur erst jetzt stärker in unser Bewusstsein rücken.

Was man derzeit angesichts der Corona-Krise in unseren Breitengraden dabei gerne einmal vermisst: In globaler Perspektive bedrohen nicht nur neue, sondern auch viele wiederkehrende, längst besiegt geglaubte Infektionskrankheiten wie Malaria, Tuberkulose et cetera die Gesundheit der Bevölkerung (04).

Die Weltwirtschaft, internationale Migration und Massentourismus machen neue wie wiederkehrende Seuchen zu weltumspannenden Risiken.

So fördert die Globalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft auch eine Globalisierung der Infektionskrankheiten.

Was nichts anderes heißt als das, worauf ich in Kapitel 30 zum Ende des Buches hin noch ausführlich eingehen werde: Nach der Epidemie ist vor der Epidemie. Das Corona-Virus ist nicht der erste gefährliche Erreger, der uns heimsucht, und er wird nicht der letzte sein.


Im Bann von covid-19

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