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Im städtischen Leichenschauhaus von Bristol lag ein Körper ausgestreckt auf einer Stahlbahre. Im Profil gesehen erinnerte die enorme Wölbung des Bauches geradezu an eine Berglandschaft. Mit etwas mehr Phantasie hätte man sich auch einen Dinosaurier vorstellen können, der in einem kreidezeitlichen Sumpf auf der Lauer liegt, wenn da nicht auf dem kleinen Hügel der braune Filzhut gelegen hätte, ein Hut, wie aus Filmen der vierziger Jahre. Der Körper war mit einem grauen, großkarierten Zweireiher bekleidet, der an den Hauptbelastungspunkten arg zerknittert war und bei der Polizei von Avon und Somerset als die Arbeitskleidung von Detective Superintendent Peter Diamond bekannt war. Sein von silbrigen Fransen gesäumter kahler Kopf ruhte auf einem Gummituch, das er zusammengefaltet auf einem Regal entdeckt hatte. Er atmete gleichmäßig.

Peter Diamond hatte alles Recht der Welt, die Füße hochzulegen. Seitdem das Telefon neben seinem Bett in Bear Flat, einem Vorort von Bath, ihn kurz nach ein Uhr nachts geweckt hatte, war er unermüdlich im Einsatz gewesen. Als er am Chew Valley Lake eintraf, um sich die Leiche anzusehen, hatten die Kripobeamten vor Ort bereits alles veranlaßt, aber noch immer standen Entscheidungen an, die nur Diamond treffen konnte, galt es, Hebel in Bewegung zu setzen, die nur der leitende Ermittler betätigen konnte. Er hatte die Führung übernommen wie ein Dirigent.

Selbstverständlich war eine nackte Leiche im See ein ungeklärter Todesfall, der dazu berechtigte, einen vom Innenministerium offiziell benannten Pathologen hinzuzuziehen. Fest entschlossen, den besten zu bekommen und nicht bloß einen der örtlichen Ärzte, die nur ermächtigt waren festzustellen, daß der Tod eingetreten war, hatte Diamond höchstselbst Dr. Jack Merlin zu Hause in Reading angerufen, immerhin siebzig Meilen entfernt, und ihm die Fakten dargelegt. Auf der Liste des Innenministeriums der forensischen Pathologen für England und Wales standen weniger als dreißig Namen, aber einige davon wohnten näher am Chew Valley Lake als Dr. Merlin. Dennoch hatte Diamond sich auf Jack Merlin versteift. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, sich nur mit dem Besten zufriedenzugeben. Tatsächlich trugen zwei, drei Pathologen die Hauptlast der Arbeit in ganz Südengland, und mitunter mußten sie weite Strecken mit dem Auto zum jeweiligen Tatort zurücklegen. Dr. Merlin war fürchterlich überarbeitet, selbst ohne die Notfälle, weil ihn das System dazu zwang, pro Jahr zahlreiche Routineautopsien durchzuführen, damit sein forensisches Forschungsteam weiterhin Mittel zur Verfügung gestellt bekam. Wenn er zu einer Leiche gerufen wurde, ließ er sich daher von dem leitenden Detective sinnvollerweise versichern, daß seine Anwesenheit unverzichtbar war.

Ohne Diamonds frühmorgendlichem Charme gänzlich zu erliegen, sagte er sofort zu. Um halb vier war er am Fundort der Leiche eingetroffen. Jetzt, zehn Stunden später, führte er gerade im Nebenraum die Autopsie durch.

Der Anblick der leeren Bahre war für Peter Diamond unwiderstehlich gewesen. Eigentlich war er hier, um bei der Autopsie zugegen zu sein. Da in der modernen Polizeiarbeit zunehmend auf wissenschaftliches und technisches Knowhow Wert gelegt wurde, war es mittlerweile üblich geworden, daß die Detectives bei den Ermittlungen in einem ungeklärten Todesfall dem Pathologen bei der Arbeit zusahen. Diamond ergriff die Gelegenheit dazu nicht so bereitwillig wie manche seiner Kollegen; ihm genügte es, wenn er sich auf den Bericht des Pathologen verlassen konnte. Es war nicht das erste Mal, daß er sich auf dem Weg zu einer Autopsie für einen kleinen Umweg entschied und die Geschwindigkeitsbegrenzungen exakt beachtete. Bei seiner Ankunft hatte er eine ganze Weile mit der Suche nach einem Parkplatz verbracht. Als er schließlich das Leichenschauhaus betrat und erfuhr, daß der Pathologe bereits ohne ihn angefangen hatte und Inspector Wigfull, sein verläßlicher Assistent, bereits hineingegangen war, hatte er gegrinst und gesagt: »So ein Pech. Schön für John Wigfull. Ein Päuschen für mich.«

Für den nun schlummernden Detective Superintendent waren jene ersten Stunden so anstrengend gewesen, wie sie es immer waren, wenn er das Chaos, das sich nach dem Fund einer Leiche einstellte, wieder in den Griff bekommen mußte. Jetzt aber surrte das Räderwerk der Kripo, und die üblichen Schritte mit dem Coroner, den Beamten von der Spurensicherung, dem Vermißtenverzeichnis, dem forensischen Labor und der Pressestelle waren eingeleitet. Er konnte sich guten Gewissens ein Nickerchen gönnen, während er darauf wartete, was Jack Merlin ihm zu berichten hatte.

Plötzlich öffnete sich die Tür zum Autopsieraum, und er wachte auf. Ein unangenehmer Geruch lag in der Luft: billiger Blumenduft, den ein übereifriger Techniker aus einer Spraydose versprühte. Diamond blinzelte, reckte sich, griff nach seinem Filzhut und hob ihn zum Gruß.

»Du hättest reinkommen sollen«, hörte er Merlin sagen.

»Zu knapp nach dem Mittagessen.« Diamond hievte sich schwerfällig auf einen Ellbogen. Es stimmte, er war es nicht gewohnt, das Mittagessen zu verpassen. Er hatte sich keine Anzüge mehr von der Stange gekauft, als er mit Rugby anfing und allmählich dicker wurde. Mit Rugby hatte er vor acht Jahren aufgehört, als er dreiunddreißig war. Mit dem Dickerwerden nicht. Es machte ihm nichts aus. »Also, wie lautet dein vorläufiges Urteil – mit den üblichen Einschränkungen?«

Merlin lächelte duldsam. Dieser schmächtige, weißhaarige Mann mit der sanften Stimme und einem West-Country-Akzent, der an blauen Himmel und Schlagsahne denken ließ, verströmte einen solchen Optimismus, daß es ein Jammer war, daß die Menschen, zu denen er gerufen wurde, aufgrund ihres Zustandes nichts davon hatten. »Wenn ich du wäre, Superintendent, wäre ich ganz begeistert.«

Diamond brachte so etwas wie Begeisterung zum Ausdruck, indem er sich in sitzende Position wuchtete, sich seitlich drehte und die Beine über den Rand der Bahre baumeln ließ.

Merlin gab seine Erklärung ab. »Das ist eine Gelegenheit, von der so einer wie du nur träumen kann – eine echte Prüfung deiner kriminalistischen Fähigkeiten. Eine unidentifizierte Leiche. Keine Kleidung, um sie von einer Million anderer Frauen zu unterscheiden. Keinerlei Merkmale von irgendwelcher Bedeutung. Keine Mordwaffe.«

»Was soll das heißen – ›so einer wie du‹?«

»Du weißt ganz genau, was das heißt, Peter. Du bist der Endpunkt einer Ära. Der letzte Detective. Ein echter Schnüffler, nicht bloß irgendein junger Bursche von der Polizeischule mit einem Abschluß in Informatik.«

Diamond ließ sich nicht beirren. »Keine Mordwaffe, hast du gesagt. Heißt das, daß es eindeutig Mord war?«

»Das habe ich nicht gesagt. Würde ich auch nie, oder? In meiner Branche wird seziert, nicht deduziert.«

»Ich möchte bloß, daß du mir hilfst, soweit du kannst«, sagte Diamond, der zu müde war, um sich über berufliche Abgrenzungen zu streiten. »Ist sie ertrunken?«

Merlin stieß Luft zwischen den zusammengepreßten Lippen hervor, als wollte er Zeit schinden. »Gute Frage.«

»Und?«

»Ich will es mal so ausdrücken. Die Leiche läßt ihrem Aussehen nach darauf schließen, daß sie längere Zeit im Wasser gelegen hat.«

»Komm schon, Jack«, drängte Diamond, »du mußt doch wissen, ob sie ertrunken ist. Sogar ich kenne die Anzeichen dafür. Schaum in Mund und Nase, Vergrößerung der Lunge, Schlamm und Schlick in den inneren Organen.«

»Danke«, sagte Merlin ironisch.

»Dann sag’s mir.«

»Kein Schaum, keine übermäßige Lungenaufblähung, kein Schlick. Reicht Ihnen das, Superintendent?« Diamond war es gewohnt, daß er die Fragen stellte, daher ignorierte er an ihn gerichtete meist. Er starrte vor sich hin und sagte nichts.

Jemand kam aus dem Autopsieraum, einen weißen Plastikbeutel in der Hand. Er grüßte, und Diamond erkannte in ihm einen der Männer von der Spurensicherung. Der Beutel, der jetzt zum kriminaltechnischen Labor in Chepstow gebracht wurde, hieß im Fachjargon »Kuttelsack«.

»In der forensischen Pathologie ist Tod durch Ertrinken eine der schwierigsten Diagnosen«, fuhr Merlin fort. »In diesem Fall wird sie durch die fortgeschrittene Verwesung noch mehr zum Glücksspiel. Ich kann Ertrinken nicht ausschließen, bloß weil keines der klassischen Merkmale vorliegt. Schaum und eine aufgeblähte Lunge und so weiter sind etwa dann feststellbar, wenn eine Leiche kurz nach dem Ertrinken aus dem Wasser gezogen wird. Vielleicht aber auch nicht. Und falls nicht, läßt sich Ertrinken trotzdem nicht ausschließen. Die Ertrunkenen, die ich in den letzten Jahren untersucht habe, wiesen in der Mehrzahl keines der sogenannten klassischen Anzeichen auf. Und nach einem längeren Aufenthalt im Wasser ...« Er zuckte die Achseln. »Enttäuscht?«

»Woran könnte sie denn sonst gestorben sein?«

»Kann ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt unmöglich sagen. Man wird sie auf Drogen und Alkohol untersuchen.«

»Sonstige Anzeichen hast du nicht festgestellt?«

»Sonstige Anzeichen, wie du es ausdrückst, fehlen auffällig. Vielleicht kann Chepstow uns weiterhelfen. Der Fall ist auch für mich eine Herausforderung.« Merlin ging zwar nicht so weit, sich die Hände zu reiben, aber seine blauen Augen glänzten vor Vorfreude. »Ein echtes Rätsel. Vielleicht ist es hilfreicher, erst einmal festzuhalten, woran sie nicht gestorben ist. Mit Sicherheit wurde sie nicht erschossen, erstochen, zu Tode geprügelt oder erwürgt.«

»Und sie wurde auch nicht von einem Tiger zerfleischt. Komm schon, Jack, womit soll ich weitermachen?«

Merlin ging zu einem Schrank mit der Aufschrift »Gift«, schloß ihn auf und nahm eine Flasche Malt Whisky heraus. Er goß einen kräftigen Schuß in zwei Pappbecher und reichte einen dem Superintendent.

»Womit du weitermachen sollst? Du hast eine weiße Frau Anfang Dreißig, schulterlanges, natürliches rötlichbraunes Haar, einssiebzig groß und zirka fünfundfünfzig Kilo schwer, grüne Augen, durchstochene Ohren, ein besonders schönes Gebiß mit zwei teuren weißen Füllungen, lackierte Finger-und Zehennägel, eine Impfnarbe direkt unter dem Knie, keine Operationsnarben, Abdruck des Eherings auf dem entsprechenden Finger und, ja, sie war sexuell erfahren. Willst du dir keine Notizen machen? Schließlich ist das die Quintessenz von zwanzig Jahren Berufserfahrung mit der Gummischürze.«

»Also nicht schwanger?«

»Nein. Die Schwellung der Unterleibs war ausschließlich auf die Bildung von Fäulnisgasen zurückzuführen.«

»Hast du feststellen können, ob sie schon mal ein Kind zur Welt gebracht hat?«

»Eher unwahrscheinlich, mehr kann ich nicht sagen.«

»Wie lange hat sie im See gelegen?«

»Was für Wetter hatten wir in der letzten Zeit? Ich war so beschäftigt, daß ich es gar nicht mitbekommen habe.«

»Die letzten vierzehn Tage ziemlich warm.«

»Dann mindestens eine Woche.« Merlin hob abwehrend die Hände. »Und jetzt frag bloß nicht, an welchem Tag sie gestorben ist.«

»Innerhalb der letzten zwei Wochen?«

»Wahrscheinlich. Ich nehme an, ihr seid die Vermißtenmeldungen durchgegangen?«

Diamond nickte. »Da paßt keine.«

Merlin strahlte. »So einfach hättest du es doch auch gar nicht haben wollen, stimmt’s? Jetzt wird sich eure Technologie bewähren müssen. Die vielen sündhaft teuren Computer, von denen ich ständig in der ›Police Review‹ lese.«

Diamond sah ihm die Stichelei nach. Schließlich wußte er, unter welchen Bedingungen Merlin und Kollegen manchmal arbeiten mußten: städtische Leichenhäuser mit mangelhaften Räumlichkeiten, schlechter Beleuchtung und Belüftung, veralteten sanitären Anlagen. Leichenschauhäuser würden bei der Verteilung öffentlicher Gelder nie ganz oben auf der Liste stehen. Diamond hätte zwar durchaus selbst einiges zum Thema Bezahlung und Arbeitsbedingungen bei der Polizei sagen können, aber nicht Jack Merlin gegenüber. Deshalb wiederholte er lediglich in verächtlichem Tonfall: »Computer?«

Merlin grinste. »Du weißt schon, was ich meine. Die Zentraldateien.«

»Zentraldateien, daß ich nicht lache. Gesunder Menschenverstand und Klinkenputzen. So kriegen wir Ergebnisse.«

»Den einen oder anderen Informanten nicht zu vergessen«, meinte Merlin und fügte rasch hinzu: »Also, was wirst du jetzt wegen der Frau unternehmen? Ein Phantombild rausgeben? Ein Foto wird nicht viel bringen, da sie kaum noch so aussieht wie zur Zeit, bevor sie im Wasser gelandet ist.«

»Wahrscheinlich. Aber zuerst warte ich ab, ob wir noch andere Beweismittel finden.«

»Als da wären?«

»Wir suchen natürlich nach ihrer Kleidung.«

»Am Fundort?«

Diamond schüttelte den Kopf. »In unserem Fall ist der Fundort unwichtig. Die Leiche ist dorthin getrieben worden. Nach dem, was du gesagt hast, nehme ich an, daß sie zuerst auf den Grund gesunken und später wieder aufgetaucht ist, wie immer, wenn sie nicht beschwert werden.«

»Korrekt.«

»Sie ist also wieder an die Oberfläche gekommen und dann mit der Brise über den See getrieben. Wir müssen das gesamte Ufer absuchen.«

»Wie viele Meilen sind das?«

»Zehn, um den Dreh.«

»Das heißt ja wohl, jede Menge gestrichener Urlaub.«

»Ist eine Sauarbeit. Aber vielleicht haben wir ja Glück. Am See wird viel geangelt und gepicknickt. Ich werde einen Aufruf im Fernsehen und im Radio veröffentlichen. Wenn wir die Stelle finden, wo die Leiche ins Wasser geschafft wurde, haben wir schon mal einen Anfang.«

Merlin räusperte sich mißbilligend. »Da ziehst du aber ziemlich voreilige Schlüsse.«

»Wieso voreilig?« sagte Diamond mit funkelndem Blick. »Hör mal, was soll ich denn sonst für Schlüsse ziehen – daß die junge Frau ganz allein rausschwimmen wollte, zuerst ihren Ehering und sämtliche Klamotten abgelegt hat und dann ertrunken ist? Wer hier von einer natürlichen Todesursache ausgeht, muß schon verdammt naiv sein.« Er zerquetschte den Pappbecher in der Hand und warf ihn in einen Papierkorb.

Die Frau im See

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