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Jeder Detective wird bestätigen können, daß ein Mordfall in der modernen Polizeiarbeit so gut wie nie durch messerscharfe Schlußfolgerungen gelöst wird, die weniger geniale Menschen in bewunderndes Staunen versetzen. Ist die Identität des Täters nicht so offensichtlich, daß der Fall innerhalb weniger Stunden geklärt wird, ist fast jede Ermittlung mühsam und erfordert Hunderte von Arbeitsstunden von Polizeibeamten, Labortechnikern und Verwaltungsleuten. Falls die Überführung eines Täters überhaupt als Verdienst bezeichnet werden kann, so muß es einer Vielzahl von Einzelpersonen zugesprochen und zugleich aufgrund von verwaltungstechnischen Verzögerungen, falschen Annahmen und mitunter verhängnisvollen Irrtümern eingeschränkt werden. Heutzutage ist die Arbeit bei der Kriminalpolizei kein Sport für Ruhmsüchtige.

Nach dem unergiebigen Gespräch mit Mrs. Pietri kehrte Diamond in die mobile Einsatzzentrale zurück und tigerte ruhelos auf und ab. Er sah sich erneut die Vermißtenliste von Avon und Somerset und den angrenzenden Counties an und ließ seinen Ärger an einer Sekretärin aus, als er feststellte, daß die Liste seit dem letzten Mal nicht auf den neuesten Stand gebracht worden war. Es herrschte dicke Luft im Wohnwagen, während die junge Frau in Tränen ausbrach, als er ihr auch noch weitere Mängel an der Liste zum Vorwurf machte, für die sie absolut nicht verantwortlich war.

Die Rückkehr von Inspector Wigfull hätte die angespannte Atmosphäre eigentlich auflockern müssen. Wigfull, Sonnenschein der Mordkommission, wie er von Diamond abschätzig genannt wurde, hatte stets für jeden ein aufmunterndes Wort parat, auch für die Verwaltungskräfte, die er allesamt mit Vornamen ansprach. Er war sozusagen die Briefkastentante, bei der man sich ausweinen konnte. Er lächelte viel, und selbst wenn er nicht lächelte, sah er immer noch so aus, als würde er es tun, weil die Spitzen seines prächtigen Schnurrbartes sich keck nach oben bogen. Diesmal jedoch bekam Diamond schon beim ersten Anblick von Wigfull, der die Stufen hochkam und dabei mit seinen Wagenschlüsseln Fangen spielte, einen weiteren Wutanfall.

»Das hat aber gedauert.«

»Tut mir leid, Sir. Mrs. Troop war ziemlich fertig mit den Nerven. Sie hat Rat gebraucht.«

»John, wenn Sie in die Partnerschaftsberatung gehen und weinenden Ehefrauen das Händchen halten wollen, dann tun Sie’s doch, zum Donnerwetter. Es mag Ihrer Aufmerksamkeit entgangen sein, aber ich ermittle gerade in einem Mordfall, und falls Ihnen das nicht recht ist, sollten Sie es mir lieber gleich sagen. Dann fordere ich nämlich jemanden an, auf den ich mich verlassen kann.«

»Sie ist von ihrem Mann geschlagen worden, Sir. Ich habe ihr gesagt, daß sie diesmal Anzeige erstatten soll.«

»Sozialarbeit«, sagte Diamond in einem Tonfall, als ob es sich um eine Krankheit handelte, die durch schlechte hygienische Verhältnisse hervorgerufen wird. »Sie sind Detective. Und ich sitze hier die ganze Zeit auf dem trockenen.«

»Hat es irgendwelche neuen Entwicklungen gegeben?«

Diamond winkte mit einer Hand ab und stieß dabei eine Schachtel Büroklammern um. »Natürlich hat es, verdammt noch mal, keine gegeben. Wie denn auch, wenn Sie sich bei einer Tasse Kaffee in Chewton Mendip die Ohren vollweinen lassen? Drei Tage, und ich habe mir bisher nichts als einen Sonnenbrand auf der Glatze geholt. Die Karre sitzt ziemlich im Dreck, solange wir nicht wissen, wer die Leiche ist.«

»Vielleicht sollten wir noch mal die Vermißtenliste durchgehen?« schlug der glücklose Inspector vor.

Der ganze Raum schien den Atem anzuhalten, was sich jedoch als überflüssig erwies. Diamond befand, daß er seinen Blutdruck in gefährliche Höhen getrieben hatte, und sagte in dem milden Tonfall, der, wie er wußte, effektiver war als wildes Gebrüll: »Das versuche ich ja gerade.«

»Aber nur für dieses Gebiet?«

»Und für Wiltshire.« Er grabschte einen Packen dünner Blätter und wedelte damit herum. »Eine verflucht lange Liste, und jede Woche kommen über siebzig dazu.«

Wigfull räusperte sich und sagte: »Der ZPC kann uns bestimmt helfen.«

Diamond mußte einen Augenblick überlegen. Sein Verstand war nicht auf Abkürzungen getrimmt, und alle, die ihn besser kannten, hätten es vermieden, ihn in dieser Situation auch noch auf den zentralen Polizeicomputer anzusprechen. »Ja«, sagte er verächtlich, »indem er uns zwanzigtausend Namen liefert.«

»Die Zahl läßt sich begrenzen, wenn man sämtliche zur Verfügung stehenden Daten eingibt«, erklärte Wigfull. »In diesem Fall: rothaarige Frauen unter Dreißig.«

Tatsächlich wußte Diamond in etwa, wie der ZPC funktionierte; ansonsten hätte er bei der Kripo gar nicht überleben können. Er ärgerte sich bloß über den allgemein verbreiteten Glauben, das Ding sei ein Allheilmittel. »Vorläufig arbeiten wir mit unseren Listen«, entgegnete er. »Ich will die neuesten Informationen zu jedem Namen, den ich markiert habe, und keine dämlichen Daten, wie Sie es nennen. Ich will wissen, was für Menschen das sind. Und zwar bis halb vier heute nachmittag. Dann halte ich eine Konferenz ab.«

»In Ordnung, Mr. Diamond.«

»Das wird sich noch rausstellen. Ihnen ist vielleicht aufgefallen, daß ich nervlich ein wenig angespannt bin, Mr. Wigfull. Irgendwo da draußen läuft ein Mörder herum. Und wir machen herzlich wenig Fortschritte bei dem Versuch, ihn zu schnappen. Himmel, wir wissen ja noch nicht mal, wie er’s gemacht hat.«

»Sieht ganz so aus, als würden wir den ZPC brauchen«, sagte Wigfull.

Diamond wandte sich leise schimpfend ab, um weitere Meldungen zu überprüfen, die seit seinem Aufruf an die Bevölkerung eingegangen waren. Das Phantombild war in der Montagsausgabe des »Bath Evening Chronicle« und der »Bristol Evening Post« erschienen. »Noch zwei weitere zu Candice Milner«, rief er kurz darauf Wigfull zu. »Das sagt einiges über die Werte unserer Gesellschaft aus, wenn die Leute nicht mehr in der Lage sind, zwischen dem wirklichen Leben und einer bescheuerten Fernsehserie zu unterscheiden.« Damit er aus dieser verbitterten Stimmung herauskam, würde ein Durchbruch von kosmischen Ausmaßen erforderlich sein.

Um von dem ständigen Piepen der Telefone wegzukommen, beschloß er, die Konferenz in dem Minibus abzuhalten, der neben der Einsatzzentrale geparkt war. Und so saßen um drei Uhr dreißig vier leitende Beamte der Mordkommission unbequem zusammengedrängt mit ihm im hinteren Teil des Fahrzeugs und trugen ihre Ergebnisse vor.

Wigfull hatte am Telefon einiges erreicht: Er konnte Genaueres über drei vermißte Frauen berichten, deren Beschreibungen vage mit der Toten aus dem See übereinstimmten. »Janet Hepple ist geschieden, dreiunddreißig, arbeitet gelegentlich als Künstlermodell in Coventry. Rotes Haar, einssiebzig. Vor sieben Wochen hat sie ihre Wohnung verlassen, die Miete war unbezahlt, und seitdem ist sie nicht mehr gesehen worden. Anscheinend paßt das nicht zu ihr. Alle haben sie als ehrlich und verläßlich beschrieben.«

Diamond zeigte sich unbeeindruckt: »Und die zweite?«

»Sally Shepton-Howe aus Manchester, seit dem 21. Mai vermißt. An dem Tag hatte sie Streit mit ihrem Mann und ist weggelaufen. Sie verkauft Kosmetika in einem Kaufhaus in der Stadt. Haarfarbe wurde als kastanienbraun beschrieben, grüne Augen, zweiunddreißig, attraktiv. Eine Frau, auf die ihre Beschreibung paßt, wurde am Abend desselben Tages gesehen, wie sie an einer Ratstätte an der M6 Richtung Süden trampte.«

»Das nenn’ ich das Schicksal herausfordern. Wer noch?«

»Die hier ist was Besonderes. Schriftstellerin aus West-London, Hounslow. Schreibt Liebesromane. Wie heißen noch mal die Bücher, die Frauen überall kaufen?«

»Herz-und-Schmerz-Romane?«

»Nein, ich meine den Verlag.«

»Keine Ahnung. Ich lese nur Science-fiction.«

»Egal, sie schreibt sie jedenfalls. Heißt Meg Zoomer.«

»Zoomer. Ist das ein Pseudonym?«

»Nein, echt, offenbar der Name ihres dritten Mannes.«

»Der dritte?« fragte Diamond. »Wie alt ist die Frau?«

»Vierunddreißig. Anscheinend lebt sie wie eine Figur aus ihren Büchern. Hungrig nach Liebe. Sie trägt einen dunkelgrünen Umhang und läßt sich das Haar lang wachsen. Es ist kastanienrot. Jedenfalls fährt sie in ihrem MG-Sportwagen durch die Gegend und sucht nach Eindrücken, die sie in ihren Büchern verwerten kann.«

»Da nimmt dich jemand auf die Schippe, John«, sagte Keith Halliwell, der Inspector, der die Befragung der Anwohner geleitet hatte.

»Das will ich niemandem geraten haben«, sagte Diamond ernst. »Wir sind hier auf Mörderjagd, nicht auf Zechtour. Also weiter. Wann wurde Mrs. Zoomer zuletzt gesehen?«

»Am 19. Mai, auf einer Party in Richmond. Sie ist kurz nach Mitternacht gegangen, und zwar mit einem Mann, der offenbar gar nicht eingeladen war. Alle sind davon ausgegangen, daß er in Begleitung eines geladenen Gastes gekommen war. Groß, dunkelhaarig, ungefähr dreißig, kräftig gebaut, leichter französischer Akzent.«

»Wie einem ihrer Bücher entsprungen«, meinte Halliwell. »Wie ist er denn gekommen – Porsche oder Vierspänner?«

»Schluß jetzt, verstanden?« fauchte Diamond. Für ihn war Halliwell eine Nervensäge, weshalb er ihn zur Befragung der Anwohner verdonnert hatte. »Wer hat die Sache gemeldet?«

»Die Nachbarin, Sir. Sie hat jeden Morgen die Milch reingeholt, bis sie keinen Platz mehr im Kühlschrank hatte.«

»Hat ihr schon jemand das Phantombild gezeigt?«

»Geschieht gerade. Und Scotland Yard versucht, Mrs. Zoomers Zahnarzt ausfindig zu machen, um die Unterlagen einzusehen.«

»Ein Künstlermodell, eine Verkäuferin und eine Schriftstellerin«, faßte Diamond zusammen und rümpfte die Nase. »Ist das alles?«

»Das sind die als vermißt gemeldeten rothaarigen Frauen, auf die unsere Beschreibung mehr oder weniger zutrifft, Sir.«

»Ich hätte mehr von Ihnen erwartet.«

Wigfull konterte mit der Bemerkung: »Bei allem Respekt, Sir, der ZPC hätte uns mehr liefern können.«

Nach kurzem beklommenem Schweigen sagte Diamond friedlich: »Na schön. Kümmern Sie sich drum.«

Wigfull zog vielsagend eine Augenbraue hoch und sah zu Halliwell hinüber. Das hätte er nicht tun sollen.

»Da wir unser Netz nun weiter auswerfen«, fuhr Diamond sachlich fort, »sollten wir vielleicht auch unsere Datenbank erweitern.«

Dieser Terminus aus dem Munde des »letzten Detectives« verschreckte sie alle. »Was genau meinen Sie damit, Mr. Diamond?« fragte Wigfull arglos.

»Brünette. Viele Menschen haben unterschiedliche Vorstellungen von rotem Haar. Unsere Frau ist eigentlich nicht fuchsrot, sondern eher rötlich-braun.«

»Eher rot als braun, Sir.«

»Manche würden es vielleicht braun nennen. Lassen Sie auch die Brünetten vom ZPC überprüfen.«

Wigfull verstummte, was sehr angenehm war. Die Konferenz dauerte noch zwanzig Minuten, in denen die entmutigenden Ergebnisse der Haus-zu-Haus-Befragungen, der Suchaktionen und der Medienappelle vorgetragen wurden. Als sie schließlich alle aus dem Minibus geklettert waren und ihre Glieder reckten, trat der stille, ehrgeizige Inspector Croxley – er hielt sich selbst für den aufsteigenden Stern am Himmel – an Diamond heran und sagte: »Ich wollte das drinnen nicht sagen, Sir, aber mir ist da was eingefallen. Wir gehen alle von einem Mord aus, weil sie nackt aufgefunden wurde, aber es gibt nicht den geringsten Hinweis auf Gewalteinwirkung.«

»Bis jetzt. Der Laborbericht liegt noch nicht vor.«

»Falls sich herausstellt, daß es die Schriftstellerin ist, würden Sie dann nicht vielleicht doch Selbstmord als Möglichkeit in Erwägung ziehen, Sir?«

»Was?«

»Selbstmord. Im Fernsehen hab ich mal eine Sendung über eine berühmte Autorin gesehen. Ich meine eine Dokumentation, kein Fernsehspiel. Sie war irre, zugegeben, aber sie hat sich umgebracht, indem sie ins Wasser gegangen ist. In den vierziger Jahren, während des Krieges. Sie ist ertrunken. Wir wissen, daß Meg Zoomer ziemlich überspannt ist, so wie sie sich kleidet und überhaupt. Angenommen, sie hat Depressionen gehabt und beschlossen, sich das Leben zu nehmen. Würde diese Art nicht zu ihr passen – als dramatische Geste?«

»Splitternackt? Hat sich die Frau im Fernsehen auch ausgezogen, bevor sie ins Wasser gegangen ist?«

»Äh, nein Sir.«

»Das wäre dann des Guten zuviel, nicht?«

»Verzeihung?«

»Die dramatische Geste. Noch einen draufsetzen.«

»So was in der Art. War nur so eine Idee.«

»Eins spricht allerdings für Ihre Theorie, Inspector. Ich habe schon von Fällen gehört, wo Menschen ihre Kleidung am Ufer zurückgelassen haben. Ist nicht ungewöhnlich. Dieser Labour-Abgeordnete ...«

»Stonehouse.«

»Richtig. Bloß hat er seinen Selbstmord vorgetäuscht. Die Leute sollten seine Kleidung finden und annehmen, er wäre ertrunken. Hier aber, Inspector, haben wir keinen Haufen Kleider und keine Leiche. Wir haben eine Leiche und keine Kleider. Sollten Sie am See Frauenkleidung finden, darunter einen langen grünen Umhang, könnte ich Ihre Theorie vielleicht akzeptieren.« Hoch erhobenen Hauptes marschierte Diamond hinüber zur Einsatzzentrale.

Während des langen Sommers hatte er sich gelegentlich, wenn die Arbeitsbelastung nicht allzu groß war, in der Mittagspause ein paar Sandwiches gekauft und sich zwischen den Touristen auf eine der Holzbänke gesetzt, die auf dem gepflasterten Platz vor der Westfront der Abteikirche standen. Dort hatte er dann regelmäßig zwanzig angenehme Minuten mit der Lektüre von »Fabian vom Yard« verbracht, das er für zehn Pence auf einem Wohltätigkeitsbazar gekauft hatte.

»Fabian vom Yard«. Hübscher Titel. Kein Wunder, daß so viele berühmte Detectives, von Fred Cherrill bis Jack Slipper, das Anhängsel »... vom Yard« für ihre Memoiren benutzt hatten. Diamond von der Polizei von Avon und Somerset klang beileibe nicht so schön. Gut, daß er nicht vorhatte, sich schriftstellerisch zu betätigen.

Hin und wieder hatte er bei diesen sommerlichen Mittagspausen von seinem Buch aufgeschaut. Die Türme zu beiden Seiten des großen Westfensters waren mit Steinmetzarbeiten aus dem sechzehnten Jahrhundert verziert, die Engel auf zwei Leitern darstellten. Diamond erschienen diese Arbeiten eher bizarr als dekorativ. Die verwitterten Gestalten schwebten in mathematisch exakten Abständen voneinander auf den Sprossen der beiden Leitern, die in den Himmel hinaufführten. Viele Leute meinten, daß es sich um eine Darstellung der Jakobsleiter handelte. Doch die offizielle Version lautete, daß es sich um Oliver Kings Leiter handelte, denn der gleichnamige Bischof, der 1499 den Neubau des Gotteshauses in Auftrag gab, hatte eisern behauptet, daß der Traum von der Leiter zum Himmel sein eigener gewesen war, und wer wollte schon die Integrität eines Bischofs anzweifeln? Jene unglücklichen Engel, die für immer in ihrer Position erstarrt waren und sich nur durch die zerstörende Einwirkung von Wind, Regen und Luftverschmutzung veränderten, erschienen ihm wie Symbole enttäuschter Hoffnung und nicht wie Boten himmlischer Verheißung. Peter Diamond kannte dieses Gefühl. Als er während einer Mittagspause mal wieder die Westfront der Kirche betrachtete, hatte er sozusagen seine eigene Offenbarung erlebt, denn plötzlich sah er die leitenden Beamten der Kripo von Avon und Somerset an den Sprossen hängen. Das Bild tauchte häufig in ihm auf, wenn er sie alle zusammen sah.

Am späten Mittwoch vormittag kam ein Anruf von Dr. Merlin, dem Pathologen. Aus unerfindlichen Gründen hatte Diamond den Tag in freundlicher Stimmung begonnen. Er schlenderte durch den Raum, dankte der jungen Frau, die ihm den Hörer reichte, und sagte: »Wir haben hier einen wundervollen Morgen, Jack. Wie sieht’s in Reading aus?«

»Hör mal. Deinetwegen bin ich den Leuten im Labor auf die Füße getreten«, berichtete Merlin, offenbar verärgert über Diamonds jovialen Ton. »Sie haben mir unter der Hand ein paar vorläufige Ergebnisse zukommen lassen.«

»Und?«

»Es war unmöglich, definitiv festzustellen, woran sie starb.«

»Das nennst du ein Ergebnis?«

»Es bestätigt meinen ersten Eindruck.«

»Den habe ich doch nie angezweifelt.«

Der fehlende Zweifel bei Diamond schien die Frage für den Pathologen jedoch nicht zu klären. »Es ist nach wie vor denkbar, daß sie ertrunken ist.«

Diamond seufzte. »Das haben wir doch durchgekaut. Läßt sich denn noch nicht genauer sagen, was die Todesursache war? Oder anders gefragt, Jack«, fügte er hastig hinzu, da er nicht wollte, daß Merlin den Hörer aufknallte, »können wir irgendwas ausschließen? Zum Beispiel toxische Substanzen?«

»Dafür ist es noch zu früh. Es sind zwar keine festzustellen, aber du darfst nicht vergessen, daß beim Tod durch Ertrinken, besonders in Süßwasser, das Blutvolumen enorm ansteigt – bis zu hundert Prozent innerhalb weniger Minuten –, und zwar aufgrund der osmotischen Aufnahme von Süßwasser durch die Lungenmembrane. Dadurch wird jede eventuell vorhandene Konzentration von Drogen oder Alkohol im Blut enorm verwässert. Das Analyseergebnis einer Autopsieprobe kann daher unter Umständen bloß die Hälfte des Wertes ausweisen, der kurz vor dem Tod feststellbar gewesen wäre.«

»Jack, mal angenommen, sie ist nicht ertrunken, und die Leiche wurde nach Eintritt des Todes in den See geworfen. Gibt es einen möglichen Hinweis auf die Todesursache?«

»Im wesentlichen scheint sie eine gesunde junge Frau gewesen zu sein. Ausschließen können wir eine Erkrankung der Koronararterien oder Myokarditis oder Diabetikerkoma oder Epilepsie.«

»Ich rieche förmlich, daß du was weißt«, sagte Diamond. »Du spannst mich absichtlich auf die Folter, du Hund.«

»Ich erzähle Ihnen diese Dinge, Superintendent, weil meine Schlußfolgerung ohne sie bestenfalls hypothetisch ist. Bei der Autopsie sind mir eine Anzahl von stecknadelkopfgroßen Blutungen in den Augenmembranen aufgefallen. Außerdem konnte ich einige in der Kopfhaut und in geringerem Umfang in Gehirn und Lunge feststellen. Das Vorhandensein von Kapillarblutungen läßt verschiedene Deutungen zu, die von anderen Ergebnissen abhängen.«

»Also gut, Kumpel, ich hab verstanden. Du bist nicht hundertprozentig sicher. Aber worauf würdest du Geld setzen?«

Merlins Tonfall am anderen Ende der Leitung verriet, daß er seine sachverständige Meinung nicht gern mit Glücksspiel in Verbindung gebracht sah. »Da keine äußeren Verletzungen vorliegen, würde ich dazu tendieren ...«

»Mann, jetzt mach schon!«

»... Asphyxie als Todesursache anzunehmen.«

»Asphyxie?«

»Du siehst also, wie schwierig das ist. Ertrinken ist eine Form von Asphyxie.«

Diamond stöhnte. »Aber Ertrinken hast du doch gerade ausgeschlossen.«

»Das habe ich nicht.« Nach einer Pause sagte Merlin: »Es gibt ein Phänomen, das man trockenes Ertrinken nennt.«

Diamond überlegte kurz, ob man ihn auf den Arm nehmen wollte. »Hast du gerade trockenes Ertrinken gesagt?«

»Das passiert ungefähr bei einem von fünf Fällen. Der Kehlkopf des Opfers verkrampft sich beim ersten Eindringen von Wasser, so daß nur sehr wenig in die Lunge eindringt. Die Leute ertrinken, ohne daß sie wirklich Wasser geschluckt oder eingeatmet hätten. Trockenes Ertrinken, klar?«

»Und was ist mit den Blutungen, die du festgestellt hast?«

»Die würden auch hier auftreten, wie bei jedem Fall von Asphyxie.«

»Was bedeutet, daß sie doch ertrunken sein kann? Das hilft mir nicht viel weiter. Das hilft mir kein bißchen weiter.« Diamond kam allmählich wieder in Rage. »Das war kein Badeunfall, Jack. In den Talsperren ist Schwimmen verboten. Und außerdem war sie nackt. Ihr Ehering fehlte.«

»Würdest du mir einen Moment zuhören?« fragte Merlin.

»Red weiter.«

»Um deine Frage zu beantworten, wenn du Ertrinken ausschließen kannst und wenn wir feststellen können, daß weder Drogen noch Alkohol im Spiel waren, dann wäre die wahrscheinlichste Erklärung die, daß sie mit einem weichen Gegenstand, beispielsweise einem Kissen, erstickt worden ist, bevor man sie ins Wasser gelegt hat.«

»Wir haben’s«, teilte Diamond seiner Zuhörerschaft im Wohnwagen mit.

»Das habe ich nicht gesagt. Ich versuche nur, Wahrscheinlichkeiten abzuwägen. Tod durch Ersticken ist schon im günstigsten Fall schwer festzustellen«, sagte der Pathologe scharf.

»Dasselbe hast du auch vom Ertrinken behauptet. Jack, manchmal frage ich mich, ob du das auch von einem Dolch behaupten würdest, der noch im Herzen steckt.« Diamond knallte den Hörer auf und sah sich um. »Wo zum Teufel steckt Wigfull?«

»Draußen, Sir«, sagte ein Sergeant. »Die Presseleute sind angekommen.«

Diamond fluchte und verließ den Raum. Eine der Sekretärinnen sagte zu niemand Bestimmtem: »Ich wünschte, wir wären wieder im Präsidium.«

»Warum?« fragte der Sergeant sie.

»Weil er mir Angst macht, darum. Ich bin ihm nicht gern so nahe. In diesem engen Wohnwagen kann man ihm nicht ausweichen. In einem richtigen Einsatzraum ist mehr Platz. Und dauernd zerbricht er irgendwelche Sachen. Hast du ihn mal beobachtet? Alles macht er kaputt – Pappbecher, Bleistifte, er nimmt sie in die Hand, und schon macht es knack. Das geht mir auf die Nerven.«

Der Sergeant grinste: »Auf die Weise ist er dahin gekommen, wo er heute ist, weil er Sachen geknackt hat.«

Draußen beendete Wigfull auf einen Wink von Diamond hin das Presseinterview, und die beiden Männer machten einen Spaziergang am See entlang, vorbei an Anglern, die in großen Abständen am Ufer saßen. Wigfull wartete, bis Diamond ihm das Neueste von Merlin berichtet hatte, und sagte dann mit seinem üblichen Optimismus: »Das ist ein großer Schritt nach vorn.«

»Könnte es sein, wenn wir endlich rausfinden würden, wer sie ist«, sagte Diamond und vertraute dann seinem Assistenten an: »Ich kann noch nicht mal Mitleid für die Frau empfinden, solange ich nichts von ihr weiß – ihren Namen, ihren Hintergrund. Ich muß mich von dem, was einem Opfer zugestoßen ist, anrühren lassen, aber in diesem Fall ist das nicht möglich. Sie ist bloß eine Leiche. Und das reicht nicht.«

»Aber einiges wissen wir doch«, wandte Wigfull ein. »Sie war verheiratet. Sie hat Wert auf ihr Äußeres gelegt. Sie war nicht heruntergekommen.«

»Das sage ich mir ja selbst dauernd. Mittlerweile müßte doch jemand bemerkt haben, daß diese Frau vermißt wird. Seit über zwei Wochen. Sie muß Bekannte gehabt haben, Freunde, Familie oder Kollegen. Wo sind die?«

»Ich kümmere mich um die vermißten Frauen, über die wir gestern gesprochen haben, und ich habe noch eine lange Liste von Brünetten, die wir überprüfen sollten.«

Diamond trat wütend gegen einen Tannenzapfen. Sie gingen auf demselben Weg zurück. Bevor sie die Ansammlung von Polizeifahrzeugen erreicht hatten, die im abgesperrten Bereich parkten, kam ein Polizist auf einem Motorrad über den Feldweg gefahren und hielt neben der Einsatzzentrale. Er ging hinein, erfuhr dort offenbar, wem er seine Botschaft überbringen sollte, kam wieder heraus und marschierte auf Peter Diamond zu. Er überreichte ihm einen braunen Umschlag, der laut Absender vom Polizeipräsidium in Bristol abgeschickt worden war.

»Bestimmt meine Beförderung«, witzelte Diamond, während er ihn öffnete. Darin befand sich ein gefaxtes Diagramm. »Nein«, sagte er, »kommt vom Yard. Mrs. Zoomers zahnärztliche Unterlagen. Ich muß Ihnen leider mitteilen, Mr. Wigfull, daß Ihre exzentrische Schriftstellerin zwei überflüssige Weisheitszähne hat. Zwei mehr als unsere Frau im See.«

Am späten Nachmittag wurde beschlossen, das Lager abzubrechen. Die Vernehmung der Anwohner und das Absuchen des Sees waren beendet. Die Leute von der Spurensicherung waren schon lange weg. Es schien sinnvoll, zurück nach Bristol zu fahren.

Abermillionen von Mücken vollführten ihren Abendtanz über dem See, als der letzte Polizeiwagen den Fundort verließ und durch Bishop Sutton in Richtung A37 fuhr. Auf dem Rücksitz bemerkte Diamond: »Wissen Sie, was mich hier am meisten deprimiert hat?«

John Wigfull schüttelte den Kopf.

»Diese verdammten Angler. Die haben mehr gefangen als wir.« Kurz vor Whitchurch kam eine Nachricht über Funk. Es war der diensthabende Sergeant vom Polizeirevier Manvers Street in Bath.

»Ich weiß ja nicht, ob das für Ihren Fall wichtig ist, Sir. Hier hat gerade ein Mann seine Frau als vermißt gemeldet. Sie heißt Geraldine Snoo, Sir.«

»Snoosir?«

»Snoo. Geraldine Snoo.«

Neben ihm öffnete Wigfull den Mund, um etwas zu sagen, aber Diamond hob abwehrend die Hand.

Der Sergeant fügte hinzu. »Sie ist dreiunddreißig, und er beschreibt ihr Haar als kastanienbraun.«

»Wann hat er sie zuletzt gesehen?«

»Vor etwa drei Wochen.«

Diamond schlug die Augen mit beinahe andächtigem Ausdruck der Dankbarkeit gen Himmel. »Ist er noch bei Ihnen?«

»Jawohl, Sir.«

»Behalten Sie ihn da. Lassen Sie ihn um Gottes willen nicht weg. Wie heißt der Mann?«

»Professor Jackman.«

»Professor? Moment mal. Er heißt Jackman, er ist der Ehemann, aber eben haben Sie gesagt, daß die Frau Snoo heißt.«

»Unter dem Namen ist sie bekannt, Sir. Sie ist Schauspielerin. Also, das ist eigentlich untertrieben. Sie ist ein Star. Kennen Sie ›The Milners‹, die Fernsehserie? Geraldine Snoo hat die Candice gespielt.«

Diamond hatte die Fensterkurbel zu fest gepackt. Mit einem Ruck riß sie aus der Halterung.

Die Frau im See

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