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ОглавлениеVon Sonntagmorgen an arbeitete die Mordkommission von einer mobilen Einsatzzentrale aus: ein großer Wohnwagen, der auf der Wiese ganz in der Nähe von dem Schilfgras geparkt war, wo man die Leiche gefunden hatte. Jedesmal, wenn Peter Diamond mit schweren Schritten den Raum durchquerte, klang es so, als würden Bierfässer entladen. Das Geräusch war bis spät in den Abend hinein zu hören, während er die ersten entscheidenden Phasen der Ermittlung koordinierte. Fünf Telefone waren unablässig im Einsatz, und ein spezielles Team übertrug jede Nachricht und jede Information zuerst auf Laufzettel und dann auf Karteikarten. Das herkömmliche vierreihige drehbare Karteikartenregister für bis zu zwanzigtausend Karten stand ehrfurchtgebietend mitten im Raum. Diamond war ein Verfechter des Karteikartensystems, obwohl einige seiner jüngeren Mitarbeiter ständig irgendwas von der Überlegenheit der Computer vor sich hinmurmelten. Wenn der Fall nicht rasch geklärt werden konnte, würde er nicht darum herumkommen, die verhaßten Monitoren aufstellen zu lassen, und Gott helfe denen, die jammerten, wenn die Dinger abstürzten.
Die Suche nach der Kleidung der Toten konzentrierte sich zunächst auf die Uferabschnitte, die man bequem von den drei Straßen aus erreichen konnte, die rund um den See herumführten. Eine skurrile Sammlung von Fundstücken wurde zusammengetragen, stumme Zeugen der vielfältigen menschlichen Aktivitäten. Die einzelnen Kleidungsstücke wurden sorgfältig etikettiert, in Plastikbeuteln versiegelt, auf der Karte markiert und auf die Laufzettel geschrieben, ohne große Hoffnung, daß irgendeines davon mit dem Fall zu tun hatte.
Man ließ Taucher kommen, die den Bereich des Sees absuchen sollten, wo die Leiche angetrieben war. Es war nicht auszuschließen, daß die Kleidung oder andere Beweismittel dort versenkt worden waren. Das mußte gemacht werden, obwohl die meisten, auch Diamond, davon ausgingen, daß die Leiche von einer weiter entfernt liegenden Stelle, vielleicht sogar von der anderen Seeseite her, angetrieben worden war.
Gleichzeitig wurden die Bewohner der umliegenden Dörfer und der Häuser mit Blick auf den See befragt, ob sie im Monat zuvor irgendwann nach Einbruch der Dunkelheit irgendwelche ungewöhnlichen Vorgänge am Ufer beobachtet hatten. Bald bestätigte eine Vielzahl von Aussagen das, was die Kommission bereits wußte, nämlich, daß der See gerade nach Sonnenuntergang ein beliebtes Ziel für Angler, Vogelkundler, Hundebesitzer und Liebespärchen war. Nichts, was auch nur im entferntesten darauf schließen ließ, daß eine nackte Leiche zum Wasser geschleppt oder getragen worden war.
Für Peter Diamond war diese Großaktion der notwendige, wenn auch unergiebige Auftakt zu dem, was in seinen Augen die wahre Arbeit eines Detectives ausmachte: das Feststellen und Vernehmen von Verdächtigen. Obwohl man sich alle Mühe gab, das Geschehene als »Vorfall« zu bezeichnen, handelte es sich doch um einen Mordfall. Dessen war er sich so sicher wie der Tatsache, daß ein Tag auf den nächsten folgte. Seit seiner Versetzung zur Mordkommission von Avon und Somerset vor drei Jahren hatte er fünf Ermittlungen geleitet, drei lokale, zwei landesweite, und mit einer Ausnahme hatten sie alle zur Verurteilung des Täters geführt. Bei dem noch offenen Fall war ein Antrag auf Auslieferung gestellt worden, über den noch nicht entschieden war. Es konnte sich wohl noch ein weiteres Jahr hinziehen. Eine beeindruckende Bilanz, die noch beeindruckender hätte sein können, wenn seine Arbeit in Avon nicht immer wieder durch den Wirbel um die Missendale-Affäre unterbrochen worden wäre.
Vier Jahre zuvor war ein junger Schwarzer namens Hedley Missendale für schuldig befunden worden, bei einem Überfall auf eine Bausparkasse im Londoner Stadtteil Hammersmith einen Menschen getötet zu haben. Ein Kunde, ein ehemaliger Hauptfeldwebel, war bei dem Versuch, den Räuber zu überwältigen, in den Kopf geschossen worden und noch am Tatort gestorben. Die Ermittlungen hatte Detective Superintendent Jacob Blaize von der F-Division geleitet. Diamond, damals noch Detective Chief Inspector, war Blaize’ rechte Hand gewesen. Man hatte den einschlägig vorbestraften Missendale schnell gefaßt, und er hatte während eines Verhörs durch Diamond ein Geständnis abgelegt. Doch über zwei Jahre später, nachdem Diamond bereits zum Superintendent bei der Polizei von Avon und Somerset befördert worden war, hatte ein anderer Mann nach einem religiösen Bekehrungserlebnis gestanden, das Verbrechen begangen zu haben, und die Tatwaffe vorgelegt. Ein neues Team von Beamten nahm die Ermittlungen wieder auf, und Ende 1987 wurde Missendale, nachdem er siebenundzwanzig Monate seiner lebenslangen Freiheitsstrafe abgesessen hatte, auf Empfehlung des Innenministeriums begnadigt.
Natürlich hatte die Presse vernichtende Attacken gegen die Polizei geritten. In den Sensationsblättern wurden Blaize und Diamond beschuldigt, einen unschuldigen schwarzen Jugendlichen zum Geständnis geprügelt zu haben. Eine interne Untersuchung war unausweichlich. Jacob Blaize, der dem Druck nicht gewachsen war, hatte die volle Verantwortung für alle Fehler übernommen und sich in den vorzeitigen Ruhestand versetzen lassen. Daraufhin stürzte sich die Presse auf Diamond. Man verlangte seinen Kopf auf einem Silbertablett, aber er konnte den bohrenden Fragen des Untersuchungsausschusses standhalten. Es war nicht ganz klar, inwieweit er mit seiner dezidierten Zurückweisung der Vorwürfe den Ausschuß überzeugt hatte. Manche behaupteten, daß er nichts zu befürchten habe, denn der Hauptvorwurf lautete, er hätte durch seine einschüchternde Art das falsche Geständnis provoziert, und bei der Anhörung hatte er seinen Standpunkt mit Vehemenz vertreten.
Acht Monate waren seit den Befragungen vergangen, und noch immer hatte der Ausschuß keinen Abschlußbericht vorgelegt. Währenddessen ließ Peter Diamond keinerlei Reue erkennen und war stets bereit, jedem, der so unklug war, ihn herauszufordern, die Korrektheit seines Verhaltens klarzumachen. Was aber niemand tat; die üble Nachrede fand nur in sicherer Entfernung statt. Und so konzentrierte er sich darauf zu beweisen, was für ein guter Detective er war, und das gelang ihm – zwischen seinen Auftritten in London – mit einigem Erfolg. Die Fälle, die er in Avon bearbeitet hatte, waren ohne den geringsten Vorwurf der Einschüchterung abgeschlossen worden.
Noch immer fiel es ihm schwer, sich an seinem neuen Arbeitsplatz einzugewöhnen. Die Kollegen von der Mordkommission akzeptierten ihn zwar beruflich, aber privat sah das anders aus. Er war als der großstadterfahrene Detective von Scotland Yard zu ihnen gekommen, und verständlicherweise hatte das bei den Detectives, die nur den Polizeidienst im West Country kannten, einiges Mißtrauen ausgelöst. Zudem war zum denkbar ungünstigsten Zeitpunkt die Missendale-Geschichte bekanntgeworden.
Trotz aller Widrigkeiten mußte die Arbeit irgendwie weitergehen. Er hatte gelernt, mit Streß zu leben. Bei jeder Mordkommission lagen die Nerven des leitenden Beamten während der ersten Stunden eines neuen Falles blank. Wie bei einem Stellungskrieg, wenn nichts geschah. Der ganze teure Polizeiapparat wurde aufgeboten, mit Beamten, die dringend für andere Aufgaben benötigt wurden. Wie lange konnte man den Einsatz so vieler Kräfte rechtfertigen, wenn nichts dabei herauskam? Natürlich wurden die Kripoleute als die vom Glück Begünstigten betrachtet, die sich im Gegensatz zu den Uniformierten besonderer Arbeitsbedingungen erfreuten, die flexible Dienstzeiten hatten, mobiler waren und nur mit dem Finger zu schnippen brauchten, um Verstärkung anzufordern, wenn jemand vermißt oder eine Leiche gefunden wurde. Ein gewisser Neid war da nur allzu verständlich. Er gehörte zum System und existierte auf allen Ebenen. Vielleicht war er in den höheren Chargen subtiler. Aber es gab ihn. Und man fand sich damit ab.
Diamond hatte gelernt, jeden Gegner so abzuwehren, als spielte er noch immer Rugby. Er war zu einem Mann geworden, der kaum aufzuhalten war, ein stämmiger, schroffer Typ, der mit seiner Meinung nicht hinterm Berg hielt. Computertechnologie war ›Spielerei‹, die er als Hilfsmittel für die echte Detective-Arbeit nur widerwillig akzeptierte. Einige karrierebewußte Leute in seiner Umgebung hielten es für ein Wunder oder eine Laune des Schicksals, daß es ein derart undiplomatischer Mann, über dem noch dazu das Damoklesschwert der Missendale-Untersuchung schwebte, bis zum Superintendent gebracht hatte. Sie übersahen dabei, daß seine Unverblümtheit unter so vielen Intriganten ein kostbares Gut darstellte.
Es war noch nicht vorhersehbar, ob er in Avon und Somerset jemals anerkannt werden würde; dazu war es noch zu früh. Seine Kritiker behaupteten, er hätte seine bisherigen Erfolge nur mit Hilfe bezahlter Informanten erzielt. Sie konnten ihm keinen Strick daraus drehen, daß er mit Spitzeln arbeitete, aber sie warteten hämisch darauf, ihn bei einer Ermittlung zu erleben, bei der er ohne bezahlte Hilfe auskommen mußte.
Vielleicht war die Leiche aus dem Chew Valley Lake ja die ersehnte Gelegenheit.
Der Sonntag verlief enttäuschend. Es wurde nichts Wichtiges gefunden. Am Montag wurde Diamond vom BBC-Fernsehen und dem Lokalsender HTV West für die regionalen Nachrichtensendungen, die gleich nach den Sechs-Uhr-Nachrichten kamen, interviewt. Das Phantombild der Toten wurde gezeigt, gefolgt von Diamond, wie er am See stehend um sachdienliche Hinweise zu ihrer Identifizierung bat. Er forderte jeden auf, sich zu melden, der in den letzten drei Wochen etwas Ungewöhnliches bemerkt hatte. Wie er anschließend der Fernseh-Crew gegenüber bemerkte, war das förmlich eine Aufforderung an alle Voyeure im Tal, sich den Beschlag vom Fernglas zu wischen und alle Welt an ihren Vergnügungen teilhaben zu lassen, aber er mußte zugeben, daß es die Mühe wert war. Ein dreißig Sekunden langer Fernsehspot brachte mehr Hinweise ein, als hundert Polizisten in einer Woche zusammengetragen hätten.
Spät am selben Abend, während die Anrufe ausgewertet wurden, rief er Jack Merlin an und erkundigte sich nach den Ergebnissen der Labortests. »Was genau hast du denn erwartet?« fragte der Pathologe in dem freundlichen, aber aufreizenden Tonfall, der sich anhörte, als gehöre er zu einer anderen, intelligenteren Lebensform.
»Vorläufig würde mir die Todesursache reichen.«
»Das, so fürchte ich, wird eine offene Frage bleiben, bis alle Ergebnisse vorliegen, und selbst dann ...«
»Jack, willst du mir etwa erzählen, daß diese verdammten Tests noch immer nicht abgeschlossen sind? Die Autopsie war gestern morgen, vor sechsunddreißig Stunden.«
Zur Strafe für diesen gereizten Ausbruch mußte Diamond sich einen Vortrag über den erforderlichen Zeitrahmen einer histologischen Gewebeuntersuchung anhören, die mindestens eine Woche brauchte, sowie über den Druck, unter dem das forensische Zentrallabor arbeitete. »Derzeit haben die so viel zu tun, daß es unter Umständen noch Wochen dauern kann, bis sie ein Ergebnis vorlegen.«
»Wochen? Hast du denen gesagt, daß die Todesursache ungeklärt ist? Begreifen die denn nicht, wie dringend es ist?« Diamond hatte einen Bleistift aufgehoben und zwischen die Zähne geklemmt. Er biß ins Holz. »Du willst also noch immer nicht bestätigen, daß sie ertrunken ist?«
»Ich kann nur sagen, daß die Todesursache nicht eindeutig ist.« Merlin zog sich hinter die Formulierung zurück, die er bei seinen Zeugenaussagen vor Gericht verwendete.
»Jack, alter Freund«, flötete Diamond. »Mit mir kannst du doch inoffiziell reden. Würdest du mir vielleicht mit einer ungefähren Schätzung des Todestages weiterhelfen?«
»Tut mir leid.«
»Na prima!« Der Bleistift zerbrach in zwei Hälften.
Es trat ein langes Schweigen ein. Dann: »Ich tue mein Bestes unter den gegebenen Umständen, Superintendent. Ich lasse mich nicht überrollen. Du mußt nun mal Rücksicht darauf nehmen, daß wir total unterbesetzt sind.«
»Jack, verschone mich bitte mit der Mitleidstour, ja? Ruf mich einfach an, sobald du was rausgefunden hast.«
»Das war stets meine Absicht.«
Diamond ließ den Hörer fallen, so daß er unterhalb der Arbeitsplatte baumelte. Der Telefonist hob ihn anstandslos auf und sammelte die Überreste des Bleistifts ein. Diamond stapfte quer durch den Raum, um festzustellen, welche Ergebnisse sein Fernsehaufruf bislang gezeitigt hatte, und stieß dabei das Karteikartenregister aus der Halterung.
John Wigfull, sein Stellvertreter, faßte zusammen: »Wir haben sieben Anrufer, die fest davon überzeugt sind, daß es sich bei dem Opfer um Candice Milner handelt.«
Nach einer Bedenkpause, ob die Sache überhaupt einer Erklärung bedurfte, sagte Wigfull: »›The Milners‹ – das ist eine Fernsehserie der BBC. Candice ist schon vor mindestens zwei Jahren aus der Story rausgeschrieben worden.«
»Herr, schenke mir Geduld! Sonst noch was?«
»Zwei sitzengelassene Ehemänner haben angerufen. Im einen Fall hat die Frau eine Nachricht hinterlassen, daß sie eine Woche verreisen wollte, um mal auszuspannen. Der Mann wohnt in Chilcompton. Und das ist sechs Monate her.«
»Sechs Monate. Die müßte längst vermißt gemeldet sein.«
»Ist sie auch. Das Foto ist nicht sehr ähnlich. Wir haben es weitergeleitet.«
»Ich werd’s mir auch mal ansehen. Schicken Sie morgen jemanden zu dem Ehemann. Sonst noch was?«
»Das hier ist ein bißchen vielversprechender. Ein Farmer namens Troop aus Chewton Mendip hatte vor drei Wochen Streit mit seiner Frau, und sie hat sich von dem LKW-Fahrer, der die Milchkannen abholt, mitnehmen lassen. Seitdem hat der Gatte sie nicht mehr gesehen.«
»Hat er es nicht gemeldet?«
»Er wollte ihr Zeit lassen, wieder zur Vernunft zu kommen. Ist wohl nicht das erste Mal, daß sie so abgehauen ist.«
»Und er meint, daß das Bild seiner Frau ähnlich sieht?«
»Er nicht, Sir. Seine Schwägerin denkt das. Sie hat uns auch angerufen.«
Diamonds Augen weiteten sich ein wenig. »Irgendwas in den Akten? Beschwerden wegen Gewalttätigkeit?«
Wigfull nickte. »Eine. Am 27. Dezember 1988 hat Troop seine Frau anscheinend mit Fußtritten aus dem Haus befördert und sie nicht wieder reingelassen. Die Schwester hat das gemeldet. Ein Constable von Bath wurde rausgeschickt und hat die Blutergüsse gesehen. Aber die Frau wollte ihn nicht anzeigen. Sie hat gesagt, es sei schließlich Weihnachten.«
»Und den Menschen ein Wohlgefallen.« Diamond holte tief und mißbilligend Luft und atmete dann langsam wieder aus. »Was will man machen? John, wir beide kümmern uns am besten selbst um die Sache. Chewton Mendip ist kaum mehr als fünf Meilen vom See entfernt. Morgen vormittag unterhalte ich mich mit der Schwägerin – finden Sie den Namen des edlen Ritters von der traurigen Milchkanne raus.«
Wigfull grinste anerkennend. Jedes Anzeichen guter Laune seitens des Superintendent mußte bestärkt werden. Sie waren nicht gerade Busenfreunde. Wigfull war unter ungünstigsten Umständen zu Diamonds Assistent ernannt worden, genau zu dem Zeitpunkt, als der Missendale-Skandal erste Schlagzeilen machte. In den wenigen Monaten zuvor hatte Diamond ein beeindruckendes Debüt bei der Polizei von Avon und Somerset gegeben und zwei Morde aufgeklärt. Sein Assistent war ein Inspector namens Bill Murray gewesen, mit dem er sich gut verstand. Doch nur wenige Stunden nachdem Diamonds Beteiligung am Missendale-Fall bekannt geworden war, hatte man Murray nach Taunton versetzt, wo gerade ein Posten frei geworden war. Statt seiner kam John Wigfull von der Kripo-Verwaltung. Ob zu Recht oder Unrecht, Diamond war der festen Überzeugung, daß Wigfull ein Spitzel war, der der obersten Polizeibehörde jede Übertretung sogleich melden sollte. Anders als Bill Murray hielt Wigfull sich stets streng an die Vorschriften. Er hatte sich nach Kräften bemüht, sich bei seinen Kollegen lieb Kind zu machen. Bei seinem Vorgesetzten war ihm das bislang noch nicht gelungen.
»Sonst noch was?« fragte Diamond.
»Einige Anrufer, die was gesehen haben.«
»Und was, wenn ich fragen darf?«
»Überwiegend Horizontalgymnastik.«
»Keine Meldungen von Gewalttätigkeiten?«
»Bis jetzt noch nichts.«
»Nicht sonderlich viel, was? Möglicherweise muß ich Ende der Woche wieder in den Zeugenstand. Mal sehen, ob wir in Chewton Mendip irgendwas rausfinden. Wohnt da auch die Schwester?«
Es handelte sich um Mrs. Muriel Pietri. Ihr Mann Joe besaß eine Autowerkstatt an der A39, wo ein Schild versprach: »Preiswerte und zuverlässige Reparaturarbeiten. Wir bringen Sie wieder in Fahrt!« Die Polizei kam häufig vorbei, wenn sie Fälle von Fahrerflucht untersuchte. Diamond selbst fuhr früh am nächsten Morgen dorthin. Das Gespräch hätte auch von einem rangniedrigeren Beamten geführt werden können, aber die Aussicht auf ein Frage-und-Antwort-Spiel war sehr viel verlockender als wieder ein Morgen im Wohnwagen.
Der unangenehm süßliche Dunst von Lackfarbe hing in der Luft, als Diamond seinen massigen Körper ungeschickt zwischen beschädigten Fahrzeugen hindurchschob und dabei seinen grauen Anzug mit Rost beschmierte. Er hatte einen Sergeant dabei, der die Aussage zu Protokoll nehmen sollte.
Mrs. Pietri stand in der offenen Tür und trug ein geblümtes Kleid, das sie vermutlich nur anzog, wenn sie Besuch erwartete. Sie hatte sich für den besonderen Anlaß zurechtgemacht – nach allen Regeln der Kunst: Make-up, Lippenstift, Wimperntusche und irgendein billiges Parfüm, im Vergleich mit dem die Lackfarbe einen angenehmen Duft verbreitete. Sie war schlank, dunkelhaarig, sprach langsam und war zutiefst erschüttert von der Ungeheuerlichkeit dessen, was ihrer Meinung nach geschehen war. »Diesmal befürchte ich wirklich das Schlimmste«, sagte sie in ihrem breiten Somerset-Akzent, während sie die beiden Polizisten in ihr penibel aufgeräumtes Wohnzimmer führte. »Was Carl gemacht hat, ist eine richtige Schande. Der hat meine Schwester schlimm verdroschen. Schrecklich. Ich kann Ihnen Fotos zeigen, die mein Mann das letzte Mal gemacht hat, als die arme Elly zu uns gekommen ist. Grün und blau, sag’ ich Ihnen. Ich hoffe bloß, daß Sie mit dem Scheißkerl das gleiche machen, wenn Sie zu ihm fahren. Der hat’s echt nicht besser verdient, kein Stück. Setzen Sie sich doch.«
»Sie haben das Phantombild der tot aufgefundenen Frau gesehen?« fragte Diamond.
»Gestern abend in den Nachrichten. Das war Elly, da können Sie Gift drauf nehmen.«
»Sergeant Boon hat eine Kopie von dem Bild. Sehen Sie es sich bitte in Ruhe an. Und bedenken Sie, daß es sich lediglich um eine Zeichnung handelt.«
Sie reichte es fast sofort wieder zurück. »Ich schwöre, das ist Elly.«
»Was für eine Haarfarbe hat Ihre Schwester, Mrs. Pietri?«
»Rot – ein tolles Feuerrot. Das war das Schönste an ihr, und außerdem war es Natur. Andere Frauen geben ein halbes Vermögen beim Friseur aus, um so eine Farbe zu kriegen, und dann ist es nicht halb so schön, wie es das von Elly war.«
Die Vergangenheitsform untermauerte ihre Überzeugung, daß es sich bei der Toten um ihre Schwester handelte. Diamond machte jedoch deutlich, daß die Sache für ihn alles andere als klar war. »Feuerrot, sagen Sie. Heißt das knallrot?«
»Ich hab doch gesagt, daß es Natur war, oder? Kein Mensch hat knallrotes Haar, außer Punks und Popstars.«
»Ich muß es aber genau wissen.«
Sie deutete auf ein Zierkästchen aus Rosenholz, das auf dem Sideboard stand. »Ungefähr die Farbe.«
»Und die Augen – welche Farbe haben die?«
»Manche haben gesagt, sie seien haselnußfarben. Mir sind sie immer grün vorgekommen.«
»Wie groß ist sie?«
»So wie ich – einssiebzig.«
»Alter?«
»Momentchen – Elly ist zwei Jahre nach mir geboren. Dann muß sie vierunddreißig gewesen sein.«
»Sie sagten, daß Ihr Mann Fotos von ihr gemacht hat.«
»Nicht von ihrem Gesicht, guter Mann. Ihre Beine von hinten, wo sie Striemen hatte. Falls sie Beweise gebraucht hätte für die Scheidung. Ich glaube nicht, daß ich ein Bild von ihrem Gesicht habe, jedenfalls nicht seit der Schulzeit. Bei uns in der Familie haben wir nie viel Fotos gemacht.«
»Aber Sie sagten, daß Ihr Mann eine Kamera besitzt.«
»Fürs Geschäft. Er macht Schadensaufnahmen, falls die Versicherungsfritzen Ärger machen.«
»Ich verstehe.«
»Die Fotos von Ellys Beinen waren seine Idee.«
»Schadensaufnahmen.«
»Wenn Sie wollen, such’ ich sie.«
»Jetzt nicht. Erzählen Sie mir, wie Sie erfahren haben, daß Ihre Schwester vermißt wird.«
»Tja, wo wir doch so nah beieinander wohnen, ist sie jeden Dienstagmorgen auf ein Schwätzchen hier gewesen. Letzten Dienstag ist sie nicht gekommen, und den Dienstag davor auch nicht, also hab ich angerufen und den Dreckskerl von Schwager gefragt, was mit meiner Schwester ist.«
»Und?«
»Der Mistkerl hat mir doch allen Ernstes erzählt, daß Elly mit Mr. Middleton, der immer die Milch abholt, abgehauen ist. Deine Schwester ist eine schamlose Person, hat er zu mir gesagt, schlimmer als die Huren von Babylon. Er hat sich auch noch andere Bezeichnungen für sie einfallen lassen, die nicht in der Bibel stehen. Ich kann Ihnen sagen, der hat von mir was zu hören gekriegt.«
»Wann soll das passiert sein?«
»Montag vor zwei Wochen, hat er gesagt. Ich habe ihm kein Wort geglaubt, und ich hatte recht. Da muß sie schon tot gewesen sein, schwamm schon nackt im Chew Valley See, die Arme. Soll ich mitkommen, um sie zu identifizieren?«
»Das wird vielleicht nicht nötig sein.«
»Fahren Sie jetzt rüber und verhaften den Scheißkerl?«
»Ich möchte, daß Sie Ihre Aussage unterschreiben, Mrs. Pietri. Der Sergeant wird Ihnen zeigen, wo.« Diamond stand auf und ging nach draußen.
Über Funk erreichte er Inspector Wigfull. »Was Neues?«
»Ja«, antwortete Wigfull. »Ich war gerade bei dem Milchmann zu Hause.«
»Middleton?«
»Ja.«
»Und?«
»Elly Troop hat mir die Tür aufgemacht.«