Читать книгу achtsam, ruhig und gelassen - Petra Altmann - Страница 7
ОглавлениеKenne ich mich eigentlich selbst? Eigene Stärken und Schwächen
In Studentenzeiten haben wir manchmal im Kreis von Kommilitonen ein Gesellschaftsspiel gemacht. Ein Teil der Gruppe musste in einen anderen Raum gehen und sich eine Person heraussuchen, die im ersten Zimmer geblieben war. Die anderen mussten mit ihren Fragen versuchen herauszubekommen, wer die oder der Betreffende war.
Es begann dann meist mit harmlosen Fragen, beispielsweise zu Haar- oder Augenfarbe. Je länger nachgefragt werden musste, umso mehr ging es dann um Charaktereigenschaften der zu ratenden Person. „Mit welchem Tier würdest du die betreffende Person vergleichen“, konnte zum Beispiel eine solche Frage sein, oder: „Ist sie sehr verschlossen und schottet sich von anderen ab?“ Auch: „Ist sie eitel oder eher locker?“ Je mehr Fragen man stellen musste, umso tiefgründiger wurden diese. Besonders, wenn der Kreis groß war, konnte es manchmal ganz schön lange dauern, bis man das Rätsel gelöst hatte. Nicht selten benannte die Fragegruppe zunächst einmal eine falsche Person.
Ich erinnere mich, dass ich manchmal völlig überrascht war, wie meine Freunde die ausgewählte Person charakterisierten. Ich hatte sie ganz anders gesehen. Oft fühlte ich mich in den Angaben, die die anderen machten, aber auch bestätigt. Hin und wieder war man selbst die Person, die erraten werden musste, und wusste es nicht. Man gehörte dann zur Gruppe der Fragesteller und kam oft nicht dahinter, dass man mit den Beschreibungen der anderen selbst gemeint war. Wenn das Geheimnis dann gelüftet war, war man manchmal sehr überrascht, wie die anderen einen einschätzten. Häufig gab es Charakterisierungen, die einem schmeichelten. Aber manchmal hatte man an einer Aussage auch ganz schön zu knabbern.
Ich erinnere mich an einen solchen Abend, an dem die Frage kam: „Mit welcher Pflanze würdest du die betreffende Person vergleichen?“ „Mit einem Kaktus“, war die spontane Antwort. Die Kommilitonin, um die es sich handelte, war tief getroffen, als herauskam, dass sie gemeint war. Es schloss sich eine lange Diskussion an. Bis in die Nacht verteidigte sich die Betroffene und versuchte das Bild, das einige der anderen von ihr hatten, zurechtzurücken.
Wie kommt es eigentlich, dass man sich manchmal völlig anders sieht als die anderen? Zuweilen kann es daran liegen, dass man versucht, etwas darzustellen, das der eigenen Persönlichkeit gar nicht entspricht. Bei oberflächlichen Kontakten mag das funktionieren. Bei tiefer gehenden Verbindungen, zumal bei Freundschaften, bekommt eine solche Fassade ziemlich schnell Risse. Wer über eine gewisse Menschenkenntnis und Lebenserfahrung verfügt, bemerkt sehr schnell, wenn der andere einem etwas vormacht. Und es ist gut so, dass es sich rasch bemerkbar macht, wenn jemand nicht authentisch ist. Sonst könnte sich ja jeder hinter einer Fassade verstecken.
Manchmal hat eine falsche Selbsteinschätzung aber auch ganz andere Ursachen. Meine Bekannte Charlotte erzählte mir kürzlich, dass sie eine neue Kollegin in ihrer Abteilung einarbeiten musste. Eigentlich wäre es ihr lieber gewesen, jemand anderes hätte diese Aufgabe übernommen. „Ich weiß gar nicht, ob ich alles so rüberbringen kann, dass es die neue Kollegin versteht“, sagte sie mir. Nach ein paar Tagen bekam Charlotte jedoch von mehreren Seiten positives Feedback. Die neue Kollegin konnte alles sehr gut nachvollziehen und sich deshalb rasch in die Arbeitsabläufe einarbeiten. Die Abteilungsleiterin lobte Charlotte, weil sie ihr Wissen so gut und für das Unternehmen nutzbringend eingesetzt hatte. Und die anderen Kollegen waren ihr dankbar, dass sie ihnen die Einarbeitung der neuen Mitarbeiterin abgenommen hatte. „Da wurde mir erst einmal klar, was ich eigentlich alles weiß“, erzählte mir Charlotte nach einigen Tagen. „Ich dachte immer, dass ich kein großes Wissen habe.“ Dass Charlotte von ihren Kenntnissen nach 20 Jahren Mitarbeit in derselben Firma so wenig hielt und ihren Wissensstand so schlecht bewertete, ist schon erstaunlich.
Aber wer ihren familiären Hintergrund kennt, kann daraus schon seine Schlüsse ziehen. „Wir waren zu Hause drei Schwestern und wurden sehr streng erzogen. Viele Freiheiten hatten wir nicht. Wenn ich am Nachmittag nach den Hausaufgaben mal raus wollte, um mich mit meinen Freundinnen zu treffen, fragte meine Mutter: ‚Hast du schon die Treppe geputzt und die anderen Hausarbeiten erledigt, die ich dir aufgetragen habe?‘ So musste ich dann meist im Haus bleiben. Mein Vater ließ immer wieder einmal durchblicken, dass wir ja ‚nur‘ Mädchen waren. Wir durften unsere Meinung nicht ungefragt äußern und hatten zu befolgen, was er uns vorgab.“ So wuchs Charlotte in dem Bewusstsein auf, nicht gleichwertig zu sein. Sie wurde zu Hause immer kleingehalten. „Ich weiß noch, dass ich als junges Mädchen gar nicht wusste, wie ich reagieren sollte, wenn mir mal jemand ein Kompliment über mein Aussehen gemacht hat. Ich dachte dann immer gleich: ‚Was will der von mir?‘“ Dass man jemanden einfach so lobte, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, war sie nicht gewohnt. Erst nach langer Zeit brachte sie es fertig, sich für ein Kompliment zu bedanken. „Die Worte: ‚Danke, das freut mich!‘ haben mich ganz schön viel Mühe gekostet.“
Charlotte ist ein Beispiel für anerzogene, überzogene Bescheidenheit. Sie kann sich an ein einziges Lob des Vaters erinnern, das er aussprach, als sie bereits 20 Jahre alt war. Ihrem damaligen Freund erklärte sie im Beisein ihres Vaters, wie er ein Regal einbauen solle. Der Freund war zunächst skeptisch, aber dann kam der Ausspruch des Vaters, der Charlotte bis heute unvergessen ist: „Wenn Charlotte so was sagt, kannst du ihr glauben!“ Der Vater war nie in der Lage gewesen, ihr direkt ein Lob auszusprechen. Auch in diesem Fall transportierte er diese positive Aussage über den zukünftigen Schwiegersohn. Aber immerhin machte er sie.
Nach vielen Jahren ist Charlotte heute in der Lage, auch mal zu erwähnen, wenn ihr etwas besonders gut gelingt. Und sie freut sich ohne schlechtes Gewissen über ein Lob.
Bei manchen Menschen ist es genau umgekehrt. Sie haben ein überzogenes Selbstbewusstsein und glauben sich immer im Recht. Kritik ertragen und akzeptieren sie nicht. Dadurch isolieren sie sich selbst, denn der Umgang mit einem selbstgerechten Menschen ist nicht einfach.
Wenn man nur um sich selbst kreist und sich selbst zum Mittelpunkt allen Denkens und Handelns macht, verliert man den Kontakt zur Außenwelt.
„Die Selbsterkenntnis ist die Bedingung praktischer Tüchtigkeit“, ist von dem griechischen Philosophen Sokrates überliefert. In der Tat, wer sich selbst kennt, weiß auch, wo seine Stärken liegen, und kann sie nutzbringend einsetzen. Er ist sich aber auch im Klaren über seine Schwächen und versucht nicht, sie zu vertuschen, sondern daran zu arbeiten. Aber sind wir mal ehrlich, sich selbst mit allen Eigenheiten wahrzunehmen, ist nicht ganz einfach. Ein arabisches Sprichwort bringt es auf den Punkt: „Das Schwerste für den Menschen ist die Selbsterkenntnis.“
Viele Menschen sehen Kritik als etwas Abwertendes. Und so manch einer glaubt, die Welt habe sich gegen ihn verschworen, wenn er eine kritische Rückmeldung erhält. So ist es aber nicht immer gemeint. Statt die Schuld dem anderen zuzuschieben, wenn er auf zwischenmenschliche Probleme zu sprechen kommt, ist es doch vielleicht eine bessere Idee, erst einmal zu hinterfragen, ob es nicht auch an einem selbst liegt, wenn Sand im Getriebe ist. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es sich in der Regel bewährt, ein offenes Gespräch zu führen, wenn es zwischenmenschliche Probleme gibt. Dann hat jeder die Chance, seine Sicht der Dinge darzulegen. Manchmal habe ich in solchen Gesprächen festgestellt, dass ich etwas missverständlich gedeutet habe. Und so manche wirklich existierende Schwierigkeit ließ sich im Gespräch leicht aus der Welt schaffen. Ein offenes Gespräch bewährt sich übrigens in allen Lebensbereichen, sei es im beruflichen oder privaten Umfeld. So kann man die Energien, die das Problemewälzen bindet, viel besser nutzen. Das ist übrigens eine Erfahrung, die sich gerade Führungskräfte zu eigen machen sollten. Denn Mitarbeiter sind doch mit einem offenen Gespräch, in dem sie sich und ihre Probleme ernst genommen fühlen, viel besser zu motivieren als mit einer unkommentierten Anordnung.
Um sich die eigenen Verhaltensweisen immer mal wieder bewusst zu machen, empfehle ich Ihnen, gute Freunde hin und wieder zu fragen, wie sie Sie einschätzen. Regelmäßige Rückmeldung von Menschen, die einem nahestehen und von denen man weiß, dass sie einem nichts Böses wollen, kann jeder von uns brauchen. Eine ehrliche, ungeschminkte Meinung von diesen Menschen ist Gold wert, auch wenn sie vielleicht auf den ersten Blick nicht immer angenehm ist. Ich würde mich auch nicht postwendend rechtfertigen, wenn mal ein negatives Feedback kommt, sondern darüber nachdenken. Denn ein guter Rat ist bekanntlich teuer, also wertvoll, und hat es verdient, ernst genommen zu werden. Er hilft, sich selbst mit seinen Schwächen und Stärken besser kennenzulernen.
„Auch Geben und Nehmen liefern Anzeichen für die Selbsterkenntnis der Seele. Ob sie voll Gemeinschaftssinn schenkt und gewährt, als wolle sie unter den Menschen Gleichheit erreichen, oder – wie es heißt – aus Traurigkeit oder aus Zwang oder doch, indem sie nach Lohn fragt bei Empfängern und Hörern. Aber auch beim Nehmen muss die Seele zu ihrer Selbsterkenntnis fragen, ob sie gleichmütig ansieht, was sie erhält, oder sich darüber wie über ein Gut von Herzen freuen kann.“
Origines (185–254)