Читать книгу achtsam, ruhig und gelassen - Petra Altmann - Страница 8

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Aufmerksam sein – Was tut mir gut, und wo muss ich mein Verhalten auf den Prüfstand stellen

Ich habe die ganze Nacht durchgefeiert und so abgetanzt, wie ich das seit Langem nicht mehr gemacht habe. Ich habe mich selbst nicht wiedererkannt“, erzählte neulich eine Bekannte, die am Wochenende vorher auf einer Geburtstagsparty gewesen war. Während sie erzählte, strahlte sie noch so, als ob das Fest gerade erst zu Ende gegangen wäre. Dieses positive Erlebnis hat sie geradezu beflügelt.

Manchmal kann es auch genau umgekehrt sein. Zum Beispiel in Situationen, in denen Streit aufkommt. Wenn dann ein Wort das andere gibt, die Emotionen sich hochschaukeln, kann es schon mal vorkommen, dass jemand sich selbst vergisst. „Ich geriet so außer mir, dass ich mich selbst nicht wiedererkannte“, habe ich zuweilen von Streithähnen gehört, wenn die Gemüter sich wieder beruhigt hatten. Im Gegensatz zu dem freudigen Rückblick auf die durchtanzte Partynacht ist die Erinnerung an eine Auseinandersetzung, in der man vor Wut seinen Kopf verlor, eher ein Schock. Beide Situationen können jedoch durchaus heilsame Wirkungen haben.

Die Partynacht kann einem zeigen, wie gut es tut, sich einfach einmal Spaß zu gönnen, sich zu freuen, ausgelassen zu sein. Natürlich ist dies kein Event für jeden Tag. Dann würde es ja auch „all“-täglich und damit vermutlich langweilig. Aber sicherlich hat jeder von uns schon die Erfahrung gemacht, dass solche Stunden, in denen alle Sorgen und Verpflichtungen in den Hintergrund rücken, gut und notwendig sind, um die Batterien aufzuladen.

Der Streit hingegen kann uns klarmachen, dass es Situationen geben kann, in denen man sich nicht mehr im Griff hat. Das kann jedem von uns passieren, aber in solchen Fällen ist erhöhte Achtsamkeit angesagt. Wenn Emotionen hochkochen, ist es besser, die Auseinandersetzung abzubrechen. Denn sonst könnte sie eskalieren. Ein Rückzug in sich selbst und in die Stille ist dann die richtige Maßnahme. Nach meiner Erfahrung hat es sich bewährt, die Diskussion – wenn notwendig – erst dann fortzusetzen, wenn die Gemüter wieder abgekühlt sind.

Wer häufiger in Situationen gerät, in denen er den Kopf verliert, muss verstärkte Aufmerksamkeit walten lassen.

Aufmerksam sein heißt „aufmerken“, wenn etwas nicht stimmt. Erhöhte Wachsamkeit ist dann vonnöten. Damit man „bemerkt“, wenn das eigene Verhalten aus der Spur gerät. Aufmerksam sein bedeutet auch „anzumerken“, wie und an was sich die eigenen Emotionen hochschaukeln können. Das ist natürlich leichter gesagt als getan. Gerade, wenn man in einer sehr angespannten Lage ist. Deshalb ist es wichtig, immer wieder innezuhalten, die Stille zu suchen und in sich zu gehen.

Es gibt Menschen, die mit ihrem Verhalten und ihren Äußerungen immer wieder bei anderen anecken. Ich habe dies vor einer Weile bei einem Seminar erlebt. Einer der Teilnehmer, nennen wir ihn Helmut, hatte gravierende Eheprobleme und erzählte jedem anderen in jeder freien Minute sehr detailliert davon. Unabhängig davon, ob es gerade passte oder nicht. Ich kannte Helmut bereits von zwei früheren Seminaren und wusste von seinen Eheschwierigkeiten. Er dominierte die Gruppe merklich mit seinem Problem. In den ersten Tagen hörte ihm jeder zu. Viele von uns versuchten, sich in seine Lage zu versetzen, gaben ihm Hinweise oder konkrete Tipps, wie er weiterkommen könne. Wir wollten Helmut wirklich helfen. Als dieser jedoch nach einigen Tagen immer wieder in gleicher Weise seine Probleme auf den Tisch legte und dieselben Argumente wiederholte, war klar, dass unsere Impulse bei ihm auf taube Ohren gestoßen waren. Er wiederholte einfach immer nur seine Sicht der Dinge. Das Wohlwollen, das Helmut anfangs entgegengebracht worden war, schlug dann in Unmut um. Helmut bekam die Rückmeldung, dass er einigen in der Gruppe massiv auf die Nerven ging.

Natürlich ist eine solche Rückmeldung in dem Moment ärgerlich und frustrierend. Aber es bringt niemanden weiter, sich dann in einen Schmollwinkel zurückzuziehen und die Schuld bei den anderen zu suchen. Für einen achtsamen Menschen ist es viel hilfreicher, erst einmal das eigene Verhalten unter die Lupe zu nehmen. Sinnvoll ist es beispielsweise, sich am Abend einmal in Ruhe hinzusetzen und zu überlegen, welche Ursachen ein negatives Feedback haben könnte. Mir bringt es manchmal etwas, einzelne Situationen schriftlich zu skizzieren, so kann ich mir eigene Verhaltensmuster und auch diejenigen der anderen besser vor Augen führen.

Manchmal wird dann deutlich, dass man sich vielleicht einfach nur missverständlich ausgedrückt und deshalb eine negative Reaktion erhalten hat. Ich erinnere mich da an eine ganz persönliche Erfahrung. Eine Cousine hatte sich verpflichtet, ein Familienfest zu organisieren, erkrankte dann aber schwer. Ich bot ihr daraufhin an, die Organisation in die Hand zu nehmen. Und wurde von ihr brüsk abgewiesen. Ehrlich gesagt war ich ein wenig konsterniert, denn schließlich hatte ich es nur gut gemeint. In einem langen Telefonat machte mir die Cousine dann aber klar: „Weißt du, die Organisation des Festes ist für mich sehr wichtig. Ich sehe sie als eine Art Meilenstein auf dem Weg zur Genesung. Wenn ich das alleine schaffe, dann wissen meine Familie und ich, dass es mit mir bergauf geht.“ Das hatte ich so nicht gesehen. Aber in dem Gespräch konnte ich die Argumente der Cousine absolut nachvollziehen und ihr abwehrendes Verhalten auf mein Hilfsangebot verstehen. Dies hat mir wieder einmal deutlich gemacht, wie wichtig offene Gespräche sind, damit menschliches Zusammenleben funktionieren kann.

Wenn jemand immer wieder aneckt, ist es auch möglich, dass er sich mit Menschen umgibt, die nicht zu ihm passen. Vielleicht haben sie eine andere Lebensorientierung. Dann ist es klar, dass man mit seinen Einstellungen an Grenzen stößt, die auch mit noch so vielen Worten nicht zu überwinden sind.

Manche Menschen erfahren auch Ablehnung, weil sie sehr auf sich selbst bezogen sind und ihre Interessen in den Vordergrund stellen. Helmut, von dem ich vorher erzählte, ist so ein Fall. Dies kommt bei den meisten Mitmenschen natürlich nicht gut an. „Individualismus heißt, einfach das eigene Ding zu machen, auf die eigene Weise und ohne Rücksicht auf andere Menschen. Individualität dagegen bedeutet, den eigenen Beitrag in das Gemeinschaftsleben einzubringen.“1 Niemand von uns lebt auf einer einsamen Insel, auf der er tun und lassen kann, was er will. Wir alle gehören Gemeinschaften an – Lebensgemeinschaften, Bürogemeinschaften, Bürgergemeinschaften, Freizeitgemeinschaften. Gemeinschaftsleben kann aber nur funktionieren, wenn jeder bereit ist, auf die anderen zuzugehen. Dazu gehört auch, sein eigenes Verhalten immer wieder einmal auf den Prüfstand zu stellen und bereit zu sein, sich zu ändern. Diese Bereitschaft muss ein Leben lang anhalten. Eine mütterliche Freundin beeindruckt mich immer wieder, weil sie mit ihren 92 Jahren noch lernfähig ist: „Ich bin so gerne mit jungen Leuten zusammen, weil ich von ihnen so viel Neues erfahre und lernen kann“, höre ich oft von ihr.

Jeder von uns strebt dauerhafte Beziehungen an. Sie geben uns Halt, sie bestätigen und stärken uns. Am erfüllendsten sind solche Beziehungen, bei denen man sich quasi „ohne Worte“ versteht. Ein Blick genügt, und man weiß, was der andere in diesem Moment denkt. Dies ist in der Regel nur der Fall, wenn man sich schon sehr lange kennt. Hin und wieder ist es mir aber auch passiert, dass ich ein solches Erlebnis mit einem unbekannten Menschen hatte. Neulich in der U-Bahn beispielsweise. Ich beobachtete eine amüsante Szene und schaute rein zufällig einem anderen Fahrgast, der mir gegenübersaß, in die Augen. Plötzlich mussten wir beide schmunzeln und wussten, was der andere dachte – ohne uns vorher jemals gesprochen oder gesehen zu haben. Wir brauchten keine Worte oder Gesten, ein Blick genügte. Dann ging jeder wieder seines Wegs. Sprache des Herzens könnte man das nennen.

Die Sprache des Herzens hört man nur in der Stille – der äußeren und der inneren. Wenn wir innerlich einen anderen Menschen ständig bewerten und eine Flut von Worten die äußere Stille unmöglich macht, können wir die Sprache des Herzens nicht hören.

Wer aber aufmerksam ist und sein Verhalten immer wieder einmal hinterfragt, wird auch die leisen Töne erkennen. Hilfreich ist es, sich zuweilen mit einem vertrauten Menschen auszutauschen, wenn man bezüglich des eigenen Verhaltens im Zweifel ist. „Ein gutes Gespräch erfordert nicht nur gutes Reden, sondern auch gutes Hinhören. Die Schweigsamkeit … ist also die notwendige Ergänzung zum guten Sprechen, nicht ihr Gegensatz“, stellte der Kapuzinerpater Thomas Dienberg fest.2 Im Gespräch erkennt man die Beweggründe des anderen. Man kann ihn motivieren, ihn fördern, auch korrigieren. Nur so kann Gemeinschaftsleben, das geprägt ist durch einen achtsamen Umgang miteinander, funktionieren.

„Wir machen uns so viele Gedanken um unsere Identität, dass wir nur noch mit unserer Einzigartigkeit beschäftigt sind … Gleichzeitig erahnen wir aber auch, dass das Leben vielleicht mehr ist, als einfach nur zu leben. Solche Entdeckungen erinnern uns an unseren bescheidenen Platz im Plan und Lauf der Dinge. Sie bewahren uns vor Selbstüberschätzung. Vielleicht ist die Notwendigkeit, das Leben nicht krampfhaft, sondern am losen Zügel zu halten, nirgends deutlicher zu erkennen als in unseren ganz alltäglichen Beziehungen.“

Henri Nouwen (1932–1996)3

achtsam, ruhig und gelassen

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