Читать книгу Dieses viel zu laute Schweigen - Petra Bunte - Страница 12

Felix

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Nachdem Anna gegangen war, lehnte ich mich mit dem Rücken an die Wohnungstür und sackte erschöpft in mich zusammen. Das Gespräch mit Lukas‘ Nachbarin hatte mir die letzte Kraft geraubt. Ich kannte sie nicht und wusste nicht, was zwischen ihr und Lukas eigentlich lief. Aber diese paar Minuten hatten ausgereicht, um zu erkennen, was für ein liebenswürdiger Mensch sie war, und ich würde meinen Bruder ordentlich zur Sau machen, wenn er es wagen sollte, sie nur als eine seiner Gespielinnen zu benutzen. Wenn er es denn überhaupt noch konnte …

Ich verbot mir, den Gedanken weiterzuverfolgen, und griff stattdessen zum Handy, um Martin zurückzurufen. Anschließend schleppte ich mich ins Bett und fiel in einen unruhigen Schlaf. Im Traum wirbelten zahlreiche Erinnerungsfetzen durcheinander und vermischten sich mit allerhand Blödsinn, den das Chaos in meinem Kopf dazwischenwarf: Es klingelte an der Tür, und als ich öffnete, lag ein völlig zertrümmerter Lukas davor; meine verstorbene Oma hielt mich im Arm und sagte: „Du musst jetzt ganz tapfer sein, mein Junge“; und dann war da Anna, die mir den Schlüsselbund reichte, mir mit der anderen Hand so sanft über die Wange strich, wie sie es vorhin bei dem kleinen Holz-Hai getan hatte, und erklärte, dass alles wieder gut werden würde.

Schweißgebadet wachte ich auf und wusste im ersten Moment nicht, wo ich war. Es war halb sechs Uhr morgens. Keine Nachrichten oder verpassten Anrufe auf meinem Smartphone. Das wertete ich als gutes Zeichen. Trotzdem packte mich sofort wieder die Ruhelosigkeit. Also zog ich mich an, legte einen kurzen Zwischenstopp im Bad ein, schloss äußerst vorsichtig die Wohnungstür zu, um nicht mit dem Hai an den Rahmen zu poltern, und machte mich dann auf den Weg ins Krankenhaus.

Lukas‘ Zustand war unverändert schlecht, und die Ärzte hielten ihn weiterhin im künstlichen Koma, damit sich sein Körper in Ruhe auf die Heilung konzentrieren konnte.

Nach wie vor fassungslos, wie jemand so gewalttätig sein konnte, beobachtete ich, wie sich der Brustkorb meines Bruders im Takt der Beatmungsmaschine hob und senkte. Anschließend harrte ich erneut stundenlang im Wartebereich vor der Intensivstation aus. Während ich dort saß und nichts anderes tun konnte, als zu warten, tauchten aus meinem Gedächtnis bruchstückhaft Bilder aus der Vergangenheit auf. Szenen aus unserer Kindheit und Jugend, die trotz des frühen Todes unserer Eltern glücklich gewesen waren und geprägt von der Liebe unserer Großeltern und absolutem Zusammenhalt. Feli und Luka gegen den Rest der Welt, mit allem Jungs-Blödsinn, der dazugehörte.

Wie gerne würde ich die Zeit dorthin zurückdrehen. Aber jetzt waren wir erwachsen und spätestens seit dem Tod von Oma Grete vor sechs Monaten auf uns alleine gestellt – so, wie man es mit Ende zwanzig bzw. Anfang dreißig eigentlich ohnehin sein sollte. Trotzdem war es ein Unterschied, ob da noch jemand war, den man jederzeit um Rat fragen konnte, oder nicht. Besonders in einer Situation wie dieser, auch wenn Oma gerade dafür vorgesorgt hatte.

Nach dem frühen Unfalltod unserer Eltern hatte sie darauf bestanden, dass wir uns jeweils mit achtzehn mit dem Thema Patientenverfügung, Vorsorgevollmacht und Organspendeausweis befassten, und ließ dabei keine Ausrede gelten. Sie wollte nicht diejenige sein, die eines Tages darüber entscheiden musste, ob unser Leben unnötig verlängert werden sollte oder unsere Organe gespendet werden durften. In unserem jugendlichen Leichtsinn hatten wir natürlich amüsiert die Augen verdreht und das alles ausgefüllt, als hätte es nichts mit uns zu tun. Doch jetzt saß ich hier und wusste seit dem Gespräch mit dem Arzt heute Morgen, dass ich nachher in Lukas‘ Wohnung einen ganz bestimmten Ordner suchen musste, auch wenn sich alles in mir dagegen sträubte. Was, wenn die Ärzte aufgrund der Unterlagen die Maschinen abstellen wollten, ich aber nicht bereit dazu war? Bis zu diesem Gespräch hatte ich den Gedanken erfolgreich verdrängt, dass es dermaßen schlimm um Lukas stand. Doch die Realität war leider eine andere.

Am Nachmittag brauchte ich dringend eine Pause von der erdrückenden Krankenhausatmosphäre und dem Dunst aus Desinfektionsmitteln. Ich holte mir in der Cafeteria einen Kaffee und ein belegtes Brötchen und setzte mich damit draußen im Park in die Sonne.

Als ich mein Handy aus der Tasche zog, sah ich, dass den Tag über zahlreiche Nachrichten eingetroffen waren. Ich hatte das Gerät auf der Intensivstation in den Flugzeugmodus und auf lautlos gestellt und erschrak, als ich unter anderem die Nachricht über drei verpasste Anrufe einer Nummer hier aus der Stadt entdeckte. Die Polizei? Sonst kannte hier niemand außer dem Krankenhaus meine Kontaktdaten.

Ich holte tief Luft und tippte nervös auf das Display. Wie erwartet musste ich erst weiterverbunden werden, dann landete ich bei Frank Oppermann, dem leitenden Ermittler in Lukas‘ Fall. Er bedankte sich für meinen Rückruf und erklärte mit ernster Stimme, dass es neue Informationen gab. Statt mich gleich darüber aufzuklären, fragte er jedoch: „Wissen Sie zufällig, ob Ihr Bruder am Samstagabend mit der S-Bahn unterwegs war? Und falls ja, wann er ungefähr von zu Hause weggefahren ist?“

Ich hätte beinah spontan „Nein“ gesagt, doch dann fiel mir ein, dass ich mit Lukas telefoniert hatte, als er gerade loswollte … und dass ich den Maklertermin absagen musste, weil ich momentan andere Sorgen hatte, als das Haus meiner Oma zu verkaufen.

„Ähm … ja“, antwortete ich und zwang mich zur Konzentration. „Er muss so gegen acht mit der Bahn gefahren sein. Lukas hat seit seinem Umzug kein eigenes Auto und meinte, dass er in der Stadt auch keins braucht.“

„Hmhmm“, brummelte der Beamte vor sich hin.

„Warum wollen Sie das wissen?“, hakte ich irritiert nach. „Der Überfall war doch erst viel später, und zwischendurch war er wie geplant beim Public Viewing, hatte Ihr Kollege gesagt.“

„Ja, das ist richtig. Aber es gibt möglicherweise einen Zusammenhang zu einem Vorfall, der sich bereits vorher an der Haltestelle Georgstraße ereignet hat“, sagte er. Dann erzählte er mir von einer Zeugenaussage, laut der eine junge Frau an eben jener Haltestelle, an der Lukas eingestiegen war, von ein paar Männern belästigt worden war. Mein Bruder hatte anscheinend eingegriffen, um ihr zu helfen, und war anschließend selbst zur Zielscheibe der jungen Männer geworden. Bevor es allerdings zu weiteren Handgreiflichkeiten kommen konnte, wäre die Bahn eingetroffen und jeder seiner Wege gegangen, erklärte der Beamte. Es sei nicht sicher, ob es dabei einen Zusammenhang zu dem Überfall gab, aber sie müssten der Spur nachgehen.

Ich sackte in mich zusammen und stieß geräuschvoll die Luft aus. Nein! Bitte nicht!

Ich konnte mir allzu gut vorstellen, wie Lukas dieser jungen Frau geholfen hatte. Er hatte schon immer einen ausgeprägten Beschützerinstinkt gehabt und war unerschrocken genug, um bei einer solchen Szene beherzt einzugreifen. Besonders, wenn es sich dabei um eine gut aussehende junge Frau handelte. Aber beim Gedanken daran, dass er für diese gute Tat so übel zugerichtet worden sein könnte, stellten sich mir die Nackenhaare auf.

„Und … wie geht es jetzt weiter?“, fragte ich zögernd. „Gibt es überhaupt eine Chance, die Täter zu kriegen und herauszufinden, ob beides miteinander zu tun hat?“

„Wir tun, was wir können“, sagte Frank Oppermann. „Es gibt ein paar vage Beschreibungen der Männer, mit denen wir morgen an die Öffentlichkeit gehen. Wir hoffen dadurch auf weitere Zeugenaussagen. Aber einfach wird es tatsächlich nicht. Ich wünschte, der Vorfall wäre uns sofort gemeldet worden, dann hätten wir die Videoaufzeichnung vom Bahnsteig sichern können. Aber so werden die Aufnahmen bedauerlicherweise nach vierundzwanzig Stunden überschrieben.“

Was?! Oh, shit!

„Aber … da waren doch bestimmt noch mehr Leute an der Haltestelle, oder?“, überlegte ich laut. „Hat denn von denen niemand eingegriffen?“

„Leider nein“, antwortete der Beamte knapp. „Aber wir hoffen wie gesagt darauf, dass uns der Zeugenaufruf weiterbringt. Ich gebe Ihnen Bescheid, sobald es etwas Neues gibt.“

„Okay, danke.“ Ich beendete die Verbindung und starrte fassungslos das Smartphone in meiner Hand an, als wäre das Gerät für irgendetwas von dem verantwortlich, was ich gerade erfahren hatte. Gleichzeitig überlegte ich, was schlimmer wäre: Wenn Lukas das Zufallsopfer eines Räubers geworden war oder wenn es wirklich einen Zusammenhang zu seiner Hilfsaktion am Bahnsteig gab. Letztendlich war es jedoch egal. Denn das Einzige, was im Moment zählte, war, dass er überlebte.

Ich fuhr mir mit der Hand müde übers Gesicht, atmete tief durch und machte mich auf den Weg zurück zur Intensivstation. Nach Absprache mit den Ärzten durfte ich zum Glück auch außerhalb der Besuchszeiten zu Lukas rein, wenn ich nicht zu lange am Stück blieb oder die Schwestern und Pfleger gerade etwas bei ihm zu erledigen hatten. Doch länger als ein paar Minuten hielt ich es diesmal ohnehin nicht bei ihm aus. Nachdem ich erfahren hatte, dass mein Bruder möglicherweise nur deshalb so zugerichtet worden war, weil er helfen wollte, konnte ich es noch weniger ertragen, so hilflos neben seinem Bett zu sitzen und einfach nichts tun zu können. In mir kochte die Wut hoch, und am liebsten hätte ich um mich geschlagen und irgendetwas zertrümmert. Dabei war ich eigentlich eher ein friedlicher Mensch. Aber die ganze Situation warf mich völlig aus der Bahn. Deshalb verabschiedete ich mich kurz darauf von Lukas und versprach ihm, später wiederzukommen. Ich musste dringend raus an die Luft, mich bewegen und diese überschüssige Energie in mir loswerden. Also marschierte ich los, ließ den Klinikparkplatz links liegen und folgte der Straße, die am ehesten ein bisschen Grün zwischen all dem Teer und Beton zu bieten hatte. Sie führte aus der Stadt raus Richtung Außenbezirke, und während der Verkehr sich immer mehr lichtete, wurde auch ich allmählich etwas ruhiger.

Ich hatte keine Ahnung, wie weit ich gelaufen war oder wo ich mich überhaupt befand, als die ersten Regentropfen auf meine nackten Arme fielen. Überrascht blickte ich zum Himmel rauf, an dem sich in der Zwischenzeit dicke graue Wolken zusammengeballt hatten. Und wie aufs Stichwort fing es an zu donnern.

Fluchend suchte ich nach einem schützenden Unterstand und entdeckte ein Stück weiter das Wartehäuschen einer S-Bahn-Haltestelle. Wie sich herausstellte, hatte ich Glück im Unglück und die Linie führte direkt zum Klinikum.

Nichtsdestotrotz war ich ziemlich nass, als ich dort ankam, deshalb ging ich nicht zu Lukas rauf, sondern gleich zu meinem Auto. Alles in mir drängte zwar danach, noch einmal nach ihm zu sehen. Aber wenn ich keine Erkältung riskieren wollte, sollte ich jetzt lieber fahren und mir etwas Trockenes anziehen, bevor ich in den nächsten Tagen gar nicht mehr zu ihm durfte. Denn selbst einem Laien wie mir war klar, dass die kleinste Infektion meinen Bruder mit größter Wahrscheinlichkeit umbringen würde.

Dieses viel zu laute Schweigen

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