Читать книгу Dieses viel zu laute Schweigen - Petra Bunte - Страница 13

Anna

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Als ich am späten Mittwochnachmittag Feierabend machte, regnete es in Strömen. Deprimiert beobachtete ich, wie die Tropfen an der Fensterscheibe der S-Bahn herunterliefen, und hing meinen Gedanken nach. Die Sache mit Lukas ließ mich einfach nicht los, von daher passte das Wetter perfekt zu meiner Stimmung. Wenigstens hatte ich heute Morgen in weiser Voraussicht einen Schirm eingepackt, sodass ich auf dem Weg zum Supermarkt und nach Hause nicht klatschnass wurde.

An unserem Wohnblock angekommen, sah ich in der Parkreihe davor ein Auto mit fremdem Kennzeichen stehen. Das war an und für sich nichts Ungewöhnliches, denn die Studenten bei uns im Haus kamen oft von weiter weg. Merkwürdig war jedoch, dass das Licht daran brannte und eine Gestalt vollkommen reglos hinter dem Lenkrad kauerte. Beim Näherkommen erkannte ich, dass es Felix war. Er starrte durch die Windschutzscheibe raus in den Regen und schien in Gedanken meilenweit weg zu sein. Wenn ich mich nicht täuschte, sah er noch schlechter aus als am Abend zuvor, und prompt schlug mir das Herz bis zum Hals. Was, wenn etwas mit Lukas war? Wenn er …

Nein!, unterbrach ich mich selbst. Es gab sicherlich eine ganz simple Erklärung dafür, warum er nicht ausstieg und nach oben ging. Vielleicht hatte er keinen Schirm dabei und wollte nicht nass werden. Außerdem konnte ich sein Gesicht durch die leicht beschlagene und vollgetropfte Scheibe gar nicht richtig erkennen und mir alles Mögliche einbilden.

Entschlossen holte ich Luft und klopfte vorsichtig an die Seitenscheibe, um Felix nicht zu erschrecken. Aber natürlich tat ich es doch. Ruckartig drehte er den Kopf zu mir herum, schien einen Moment zu brauchen, bis er regis­triert hatte, wer ich war, und ließ dann das Fenster herunter.

„Hey“, sagte ich lächelnd. „Willst du hier warten, bis der Regen aufhört, oder kann ich dir ein Stück von meinem Schirm anbieten?“

Felix blickte wieder nach vorne, als hätte er gar nicht bemerkt, dass es überhaupt regnete. Dabei war sein ganzes Shirt voll mit nassen Flecken.

„Alles okay bei dir?“, vergewisserte ich mich zögernd.

Er zuckte mit den Schultern, und so hilflos und verloren, wie er dabei wirkte, hätte er auch gleich den Kopf schütteln können.

„Felix? Bitte sag was! Ist mit Lukas alles in Ordnung?“

Daraufhin stieß er ein bitteres Lachen aus. „Nein. Ganz bestimmt nicht.“

„Aber er lebt?“, bohrte ich weiter.

Für einen Moment passierte gar nichts, und ich befürchtete schon das Schlimmste, dann nickte er.

Ich atmete erleichtert auf. So weit, so gut. Aber irgendetwas musste trotzdem geschehen sein.

„Kommst du mit rein?“, versuchte ich es erneut. „Dann können wir in Ruhe reden. Hier ist es grad etwas ungemütlich.“

Außerdem wollte ich sowieso mit ihm sprechen. Jedenfalls war das bis vorhin mein Plan gewesen. Doch jetzt war ich unsicher, wie viel ich ihm in seinem Zustand noch zumuten konnte.

Felix sah mich an, ließ die Fensterscheibe wieder hochfahren, zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg aus.

Auf dem Weg die Treppe rauf bemerkte ich, dass sein Shirt auf dem Rücken ebenfalls nass war. Doch als ich ihn darauf ansprach, nuschelte er bloß etwas vor sich hin, das wie „verlaufen“ klang. Ich fragte nicht weiter nach, schlug ihm vor, sich erst mal umzuziehen, und bot ihm an, dass er danach gerne zu mir rüberkommen und später mit mir essen konnte.

„Danke“, erwiderte er leise, und ich rechnete fest mit einem Aber, doch es kam nicht.

Eine knappe halbe Stunde verging, und ich fragte mich gerade, ob Felix wirklich kommen würde, als es endlich klingelte. Er hatte sich nicht nur umgezogen, sondern auch geduscht, denn er roch frisch nach Shampoo oder Seife. Genauso wie Lukas am Samstagabend im Treppenhaus. Die Erinnerung daran war wie ein Schlag in die Magengrube, doch ich versuchte, mir nichts anmerken zu lassen, hielt ihm einladend die Tür auf und sagte: „Komm rein! Essen dauert noch einen kleinen Moment. Willst du was trinken?“

„Nein, danke.“ Er folgte mir in die Küche und beobachtete schweigend, wie ich meinen Auflauf in den Ofen schob. „Anna … Das mit der Einladung zum Essen ist wirklich nett von dir“, bemerkte er, nachdem ich mich wieder aufgerichtet hatte. „Aber … Ehrlich gesagt habe ich überhaupt keinen Appetit, und ich glaube, ich bin heute auch keine so gute Gesellschaft.“

Da war es, das Aber. Ich sah ihn an und wartete, bis er mich ebenfalls anschaute. In seinen Augen tobte ein Sturm an Gefühlen, doch ich konnte unmöglich erkennen, was genau darin vor sich ging.

„Was ist passiert?“, fragte ich leise.

Felix musterte mich einen Augenblick lang stumm, ehe er niedergeschlagen antwortete: „Es war vielleicht doch nicht nur ein Raubüberfall.“

„Was?! Aber was … Ich meine, wieso …“ In meinem Kopf überschlug sich plötzlich alles. Es konnte nicht sein, dass er schon von dem Vorfall am Bahnsteig gehört hatte. Ich wollte ihm doch gleich erst davon erzählen.

„Die Polizei hat mich heute angerufen“, begann er und erklärte mir genau das, was ich ihm bisher verschwiegen hatte.

Atemlos hörte ich ihm zu und überlegte nebenbei fieberhaft, wer diese Zeugin war, die den Vorfall an der Haltestelle gemeldet hatte. Die blonde Frau aus dem Drogeriemarkt? Oder eine von den beiden Alten? Auf jeden Fall jemand, der mutiger gewesen war als ich, denn nach den ganzen Grübeleien der Nacht hatte ich beschlossen, erst mit Felix zu reden und dann zur Polizei zu gehen, vielleicht sogar mit ihm zusammen. Aber jetzt war die Situation eine völlig andere.

Ich schluckte schwer. „Felix, ich …“, setzte ich an, ihm endlich zu sagen, was ich wusste. Doch er war zu sehr in seinen eigenen Gedanken gefangen und redete unbeirrt dazwischen.

„Kannst du dir vorstellen, dass die anderen Leute wirklich nur zugeguckt und nichts getan haben? Sie haben diese junge Frau einfach ihrem Schicksal überlassen und Luka genauso. Ich würde ja sagen, er hat Glück gehabt, dass die Bahn in dem Moment kam, aber … Was, wenn der Überfall wirklich damit zu tun hat und sich der Racheakt dieser Truppe bloß auf später verschoben hat?“

Jeder einzelne Satz von ihm fühlte sich an wie eine Ohrfeige, und genau die hatte ich verdient. Verbissen presste ich die Lippen aufeinander und spürte, wie mich der Mut verließ. Statt ihm alles zu erklären, sagte ich deshalb nur vorsichtig: „Vielleicht hatten sie Angst, da auch mit reingezogen zu werden.“

Felix schnaubte. „Ja. Das würde mir alleine bestimmt genauso gehen. Und vielleicht war es zu leichtsinnig von Luka, so vorzupreschen. Aber da war niemand alleine! Und zusammen hätten sie es ja wohl mit vier Halbstarken aufnehmen können oder die Polizei rufen oder was weiß ich was.“

Ich schrumpfte immer mehr in mich zusammen und wollte wie schon bei Nele ins Feld werfen, dass die Polizei ohnehin zu spät da gewesen wäre. Aber ich brachte keinen Ton heraus. In meiner Kehle sammelte sich ein riesengroßer Kloß an Tränen, und wenn ich es selbst nicht tat, würde der mich jeden Moment verraten. Und mit seiner nächsten Bemerkung verpasste Felix mir den Gnadenstoß.

„Wenn bloß einer rechtzeitig den Mund aufgemacht hätte, hätte die Polizei jetzt wenigstens die Aufnahmen von der Überwachungskamera. Aber so ist es zu spät.“

Was?! Ich riss erschrocken den Kopf hoch, doch er merkte es nicht einmal, weil er völlig in Gedanken versunken auf die Tischplatte starrte. Eine eisige Hand schnappte sich mein Herz und drohte es zu zerreißen.

„Warum ist es zu spät?“, fragte ich mit belegter Stimme.

„Weil die Aufzeichnungen nur vierundzwanzig Stunden gespeichert und dann überschrieben werden“, antwortete er niedergeschlagen.

Nein! Das war jetzt nicht wahr, oder?

Vierundzwanzig Stunden. Sonntagabend. Wenn mir bis dahin doch bloß aufgefallen wäre, dass Lukas nicht nach Hause gekommen war. Oder wenn ich meinem Bauchgefühl gefolgt wäre, als ich erkannt hatte, dass die Pöbeltruppe mit ihm zusammen am Berliner Platz ausgestiegen war.

„Ich … Entschuldige mich kurz“, presste ich mit letzter Kraft heraus, verließ fluchtartig die Küche und stürzte ins Bad. Mir war plötzlich furchtbar übel, doch letztendlich waren es nur Tränen, die in Sturzbächen aus mir herausschossen. Wie gerne hätte ich meine Schuldgefühle einfach ausgekotzt, aber so leicht wollte es mir mein Gewissen nicht machen.

Ich hatte schon eine ganze Weile zusammengekauert auf dem Klodeckel gesessen, als es leise an der Tür klopfte.

„Anna?“, hörte ich Felix gedämpft durch das Holz. „Ist alles okay?“

„Ja“, rief ich mit zittriger Stimme. „Bin gleich wieder da.“

„Gut. Ich habe den Ofen schon mal abgestellt“, sagte er.

Unwillkürlich musste ich lächeln. Und weinen. Wie sehr hatte ich mir gewünscht, mit Lukas näher in Kontakt zu kommen, ihn zu besuchen oder zu mir einzuladen, gemeinsam zu essen, zu reden, zu lachen. Stattdessen war es jetzt sein Bruder, der hier war und sich wie selbstverständlich in meiner Küche zu schaffen machte. Nur das Lachen fehlte. Und das mit dem Reden war so eine Sache, an der ich dringend arbeiten musste.

Ich atmete tief durch, putzte mir die Nase und klatschte mir kaltes Wasser ins Gesicht, um meine verheulten Augen wenigstens einigermaßen zu kaschieren. Es war allerdings vergeblich, also gab ich es auf, band mir die Haare neu zusammen und ging zurück in die Küche.

Felix saß am Küchentisch und starrte gedankenverloren vor sich hin. Als er mich kommen hörte, hob er den Kopf und musterte mich einen Moment schweigend.

„Sorry“, murmelte ich verlegen und wandte mich geschäftig dem Schrank zu, um ein paar Teller und Gabeln herauszuholen. Ich spürte seinen Blick in meinem Rücken und fragte mich, was er gerade dachte. Doch ich musste gar nicht weiter überlegen, denn die Antwort darauf gab er mir selbst.

„Anna, ich will dir ja nicht zu nahetreten“, begann er zögernd. „Aber … Ich fürchte, dass das, was du für Luka empfindest, ziemlich einseitig ist. Er ist einfach so ein Typ …“ Er stockte. „Keine Ahnung, wie ich das am besten ausdrücken soll.“

Ich drehte mich zu ihm um und lächelte traurig. „Meinst du, ich weiß nicht, dass jemand wie er nicht zu haben ist? Mir ist schon klar, dass Männer wie Lukas entweder vergeben oder bloß auf ein Abenteuer aus sind. Aber darum geht es nicht. Es ist …“

Sag’s ihm!, wisperte eine Stimme in mir.

Felix hielt meinen Blick fest und wartete schweigend ab, dass ich weiterredete. Verstohlen wischte ich mir eine Träne aus dem Augenwinkel.

„Es ist nur im Moment alles etwas viel auf einmal“, quetschte ich heraus, wandte mich von ihm ab und hasste mich selbst für meine Feigheit.

„Ja, das ist es“, hörte ich ihn leise hinter mir sagen.

Verzweifelt biss ich mir auf die Unterlippe und wünschte mir plötzlich, dass er doch lieber wieder gehen würde. Ich erstickte beinah an meinem Schweigen, aber ich bekam einfach nicht heraus, was ich ihm eigentlich sagen wollte. Sagen sollte. Sagen musste.

Geistesabwesend griff ich nach der heißen Auflaufform und merkte in allerletzter Sekunde, dass ich die Topflappen vergessen hatte. Das wäre schmerzhaft geworden.

Ich zwang mich zur Konzentration, atmete tief durch und stellte das Essen auf den Tisch. Felix beobachtete mich still dabei und lächelte verlegen, als sein Magen im selben Moment ein eindeutiges Knurren von sich gab. Der beste Beweis dafür, dass Appetit und Hunger zweierlei Dinge waren. Auch mir war nicht nach Essen zumute, aber dem Körper war das leider herzlich egal.

Schweigend füllte ich uns auf, stellte zwei Gläser und eine Flasche Wasser auf den Tisch und setzte mich. Felix bedankte sich leise, darüber hinaus waren uns die Worte irgendwie ausgegangen.

Als ich die Stille nicht länger aushielt, versuchte ich es mit Small Talk und fragte ihn: „Was ist mit dir? Hast du eine Freundin?“

„Nein.“ Sein Gesicht verdüsterte sich und war Antwort genug. Es war, als wäre eine Klappe heruntergefallen, auf der stand: heute keine Sprechstunde. Ich war mir ziemlich sicher, dass er im Gegensatz zu seinem Bruder sehr wohl der Typ für eine feste Beziehung war. Aber wie es aussah, hatte ihm jemand das Herz gebrochen. Da war ich ja schön ins Fettnäpfchen getreten. Vielleicht sollte ich auch lieber den Mund halten.

Eine Weile aßen wir schweigend unseren Auflauf, bis Felix nur noch in seinen restlichen Nudeln herumstocherte, schließlich die Gabel zur Seite legte und sagte: „Tut mir leid. Ich schaffe nicht mehr.“

„Ist schon okay.“

Wir sahen uns an, und in meinem Bauch fing es an zu rumoren. Ich hätte allerdings nicht sagen können, ob es an meinen Schuldgefühlen, an seiner Ähnlichkeit zu Lukas oder diesem herzzerreißend melancholischen Blick lag. Vermutlich alles zusammen.

„Also dann.“ Felix räusperte sich und rückte seinen Stuhl nach hinten. „Danke für das Essen. Ich fahre jetzt noch mal in die Klinik. Zu Luka, und weil ich den Ärzten ein paar Unterlagen bringen muss.“

Mit einem stummen Nicken beobachtete ich, wie er aufstand, und folgte ihm in den Flur. Ich wusste nicht, was für Unterlagen er meinte, doch es musste etwas Bedeutsames sein, denn ich spürte, wie sehr er sich dagegen sträubte.

An der Wohnungstür blieb Felix stehen, schien über etwas nachzudenken und drehte sich noch einmal zu mir um. „Der Überfall …“, sagte er zögernd. „Ich würde mir gerne angucken, wo das war. Kannst du mir vielleicht zeigen, wie ich da hinkomme?“

„Ja … klar“, antwortete ich, schließlich hatte ich mir die Karte von dem Tatort im Internet so oft angesehen, dass sie sich schon auf meiner Linse festgebrannt hatte. „Das ist eigentlich ganz leicht zu finden“, fügte ich hinzu. „Mit der Bahn jedenfalls. Oder willst du lieber mit dem Auto hin?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein. Wenn es mit der Bahn einfacher ist, mache ich das.“

„Okay. Also, dann nimmst du …“

„Anna?“, unterbrach er mich.

„Ja?“

Felix schaute mich an, und ich sah, dass in seinen Augen ein wahrer Kampf tobte. Er wollte anscheinend etwas loswerden, rang jedoch mit sich, ob er es wirklich wagen konnte, mich darauf anzusprechen. Es war bloß ein kurzer Augenblick, aber mir kam es vor wie eine Ewigkeit, denn je länger sein Schweigen andauerte, umso mehr beschlich mich eine dunkle Vorahnung, und mein Herz fing an zu rasen. Er wollte doch wohl nicht, dass ich …

„Würdest du mitkommen?“

Oh nein, bitte nicht! Ich hatte es kommen sehen, und trotzdem riss mir seine Frage den Boden unter den Füßen weg. Ausgerechnet ich sollte mit ihm zum Berliner Platz fahren, wo sein Bruder fast totgeprügelt worden war? Ich hätte an dem Abend dorthin fahren sollen, dann wäre es vielleicht gar nicht so weit gekommen! Stattdessen stand ich jetzt hier und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte. Alles in mir schrie Nein, weil ich Angst vor meiner eigenen Reaktion hatte, wenn ich mit dem Schauplatz des Überfalls konfrontiert wurde. Mal abgesehen davon, dass ich, um dorthin zu kommen, zunächst mit Felix zusammen zur S-Bahn-Station musste. Es war so schon schwer genug, jeden Tag wieder an den Bahnsteig zu kommen, die Szene vor mir zu sehen, wie diese Pöbeltruppe Lukas vor die Brust stieß, und nicht von meinem schlechten Gewissen erdrückt zu werden. Und das ausgerechnet mit Felix zusammen? Nein!

Doch dann machte ich den Fehler und schaute Felix in die Augen, und diese quälende Angst und Ungewissheit darin zwangen mich in die Knie. Ich merkte, dass ich nickte, ehe ich weiter darüber nachdenken konnte.

„Passt es dir vielleicht morgen?“, fragte er zögernd.

„Ja. Aber erst abends“, hörte ich mich sagen. „Ich bin so gegen sechs zu Hause, dann könnten wir gleich los.“

„Danke.“ Ein leichtes Lächeln zuckte um seine Lippen. Dann drehte er sich um und ging.

Dieses viel zu laute Schweigen

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