Читать книгу Dieses viel zu laute Schweigen - Petra Bunte - Страница 14

Felix

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Zurück in der Wohnung meines Bruders, fühlte ich mich plötzlich schrecklich einsam. Seit Steffi nicht mehr bei mir war, war ich es gewohnt, alleine zu leben, aber hier war es viel zu still, und in jeder Ecke lauerten die Gedanken an Lukas und das, was passiert war.

Nachdenklich betrachtete ich die Wohnzimmerwand und wünschte, ich könnte durch sie hindurchgucken. Was Anna jetzt wohl machte? Einerseits wäre ich gerne bei ihr geblieben. Andererseits war ihre Verzweiflung mehr, als ich ertragen konnte. Ich fragte mich, ob sie sich tatsächlich so hoffnungslos in meinen Bruder verliebt hatte oder ob sie bloß ein sehr empathischer Mensch war, dass ihr seine Geschichte so naheging. Wahrscheinlich beides. Ich hatte mich wirklich zusammenreißen müssen, um sie nicht tröstend in meine Arme zu ziehen und festzuhalten. Vielleicht auch, um selbst etwas Halt bei ihr zu finden. Aber ich wusste, dass es ein Fehler wäre. Sie war schließlich nur die Nachbarin meines Bruders und eine völlig Fremde für mich. Es hatte gutgetan, mit jemandem reden zu können, aber alles Weitere würde die Sache unnötig verkomplizieren. Ich musste mich auf Lukas konzentrieren und brauchte meine gesamte Kraft für ihn. Da konnte ich es mir nicht leisten, mich darüber hinaus um die Gefühle von jemand anderem zu kümmern. Es hatte mal eine Zeit gegeben, in der ich davon überzeugt gewesen war, dass geteiltes Leid halbes Leid sein könnte. Doch diese Illusion wurde auf brutale Weise zerstört, und ich würde einen Teufel tun, mich ein weiteres Mal auf so etwas einzulassen.

So weit die Theorie. In der Praxis ging mir Anna allerdings nicht aus dem Kopf. Immer wieder sah ich ihren verschreckten Blick vor mir und hörte ihr Weinen durch die Badezimmertür. Oh Mann! Das musste dringend aufhören!

So abgelenkt, verpasste ich auf dem Weg zum Krankenhaus die richtige Kreuzung und musste eine extra Runde um den Block fahren, wobei ich mich im Gewirr einiger Einbahnstraßen verfranste und tatsächlich mein Navi brauchte, um wieder zurückzufinden. Zähneknirschend lenkte ich meinen Wagen schließlich auf den Parkplatz und bemerkte, dass ich an genau derselben Stelle stand wie heute früh. An dem Morgen, an dem ich noch nichts von Lukas‘ heldenhaftem Einsatz und der Angreifergruppe an der S-Bahn gewusst hatte. Oder davon, was für eine unglaublich nette und gefühlvolle Nachbarin hinter seiner Wohnzimmerwand lebte. Es hatte ein bisschen was von dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier. Ich drückte im Kopf auf den imaginären Repeat-Knopf und überlegte, in welcher Situation ich etwas anders machen könnte, wenn ich die Chance dazu hätte. Wahrscheinlich an dem Punkt, an dem ich nach dem Telefonat mit der Polizei einfach weggelaufen war, statt bei Lukas zu bleiben.

Im selben Moment fiel mir siedend heiß ein, dass ich seitdem nicht ein Mal auf mein Handy geguckt hatte und es seit dem Nachmittag auf lautlos gestellt war. Was, wenn das Krankenhaus in der Zwischenzeit versucht hatte, mich zu erreichen, weil etwas mit Lukas war? Ich verdammter Idiot!

Hektisch zog ich das Smartphone hervor und warf einen Blick auf das Display. Drei WhatsApp-Nachrichten, zwei E-Mails, fünf entgangene Anrufe. Shit! Ich war drauf und dran, sofort zur Intensivstation loszurennen, tippte dann aber doch erst das Telefonprotokoll an und sah, dass es mein Chef war, der versucht hatte, mich zu erreichen. Gott sei Dank!

Erleichtert atmete ich auf und wartete darauf, dass sich mein Puls wieder normalisierte. Es war allerdings einiges an Adrenalin, das mein Kreislauf verarbeiten musste. Und ich schwor mir, mein Handy ab sofort keine fünf Minuten mehr aus den Augen zu lassen.

Als ich mich wieder beruhigt hatte, rief ich trotz der späten Stunde meinen Chef zurück, der eine dringende Frage zur Rezeptabrechnung einer meiner Patientinnen hatte. Anschließend redeten wir über Lukas und den Überfall und wie ich mir das Ganze in den nächsten Wochen vorstellte mit der Arbeit und dem Krankenhaus. Ich hatte ehrlich gesagt keine Ahnung. Aber Thomas versprach, sich etwas zu überlegen, und wünschte mir bzw. Lukas alles Gute. Ja, das konnten wir brauchen.

Ich steckte das Handy weg und griff schweren Herzens nach dem Umschlag auf dem Beifahrersitz. Ob ich wollte oder nicht, ich musste den Ärzten diese ganzen Vorsorgeunterlagen übergeben. Was auch immer danach passierte.

In der Zwischenzeit hatte es erneut angefangen zu regnen, und als ich aus dem Auto stieg, überfiel mich prompt die Erinnerung an Anna und daran, wie wir uns vor ein paar Stunden zusammen unter ihren Schirm gedrängt hatten. Unwillig schob ich den Gedanken zur Seite, brachte den Umschlag unter meiner Jacke vor dem Regen in Sicherheit und lief mit eingezogenem Kopf auf das Klinikportal zu.

Entgegen meinen Befürchtungen war Lukas‘ Zustand unverändert, was paradoxerweise gut war. „Nicht schlechter“ war in seiner Situation offenbar das neue „Gut“. Ich war eigentlich ein ziemlich geduldiger Mensch, aber ich ahnte, dass mir dieses untätige Warten auf Besserung alles abverlangen würde. Und tatsächlich musste ich allmählich anfangen, darüber nachzudenken, wie ich diesen Spagat zwischen Job und Krankenhaus schaffen sollte. Hundert Kilometer waren zu weit, um täglich hin und her zu pendeln, vor allem da ich dienstags und donnerstags bis in den späten Abend hinein zwei Therapiegruppen leitete. Das konnte man vielleicht eine Woche lang machen oder zwei, bevor man selbst auf dem Zahnfleisch ging. Aber die Ärzte hatten unmissverständlich erklärt, dass das hier weitaus länger dauern würde. Und eine Verlegung kam nicht infrage. Erstens war Lukas bisher nicht transportfähig, und zweitens gab es keine vergleichbar geeignete Klinik in meiner Nähe.

Ratlos fuhr ich mir mit den Händen übers Gesicht und wünschte, ich hätte eine große Familie, um wenigstens ein bisschen von dieser Sorge und Verantwortung abgeben zu können. Stattdessen war ich seit vielen Jahren Waise und im schlimmsten Fall demnächst Einzelkind. Von meinem Singledasein ganz zu schweigen. Wie schön es doch wäre, wenn da jedes Mal beim Nachhausekommen jemand warten würde, mit dem man zusammen essen und reden konnte wie vorhin mit Anna. Obwohl sie mich überhaupt nicht kannte, hatte sie mich spontan zu sich eingeladen, sich um mich gekümmert und unglaublich viel Verständnis gezeigt, auch wenn sie selbst mächtig unter der Situation litt. Nach meiner Erfahrung gab es wenige solcher Frauen. Und dann musste sie ihr Herz ausgerechnet an meinen Bruder verlieren.

„Weißt du Depp eigentlich, was du dir mit deiner Nachbarin entgehen lässt?“, flüsterte ich Lukas über das Piepen der Maschinen hinweg zu. Doch auf eine Antwort oder sonstige Reaktion hoffte ich vergeblich.

Und letztendlich landete ich wieder bei der Frage, wie das alles passieren konnte und wer ihm das angetan hatte. Vielleicht würden wir es nie vollständig erfahren. Aber ich wollte so viel wie möglich darüber wissen und war froh, dass Anna morgen mit mir zusammen zum Tatort fahren würde. Natürlich hatte ich ihr Zögern bemerkt und wusste, dass ich sie mit der Frage ziemlich überrumpelt hatte. Umso dankbarer war ich ihr, dass sie sich trotzdem dazu bereit erklärt hatte und ich mir das nicht alleine antun musste. Es war feige. Und es war nicht fair, sie weiter mit in meinen Sumpf reinzuziehen. Aber ich würde es wiedergutmachen. Wie auch immer.

Dieses viel zu laute Schweigen

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