Читать книгу Dieses viel zu laute Schweigen - Petra Bunte - Страница 9
Anna
ОглавлениеAls ich am Montagabend von der Arbeit nach Hause kam, stand vor unserer Haustür ein junger Mann, der an der Fassade hochblickte und etwas ratlos wirkte. Ich hatte ihn nie zuvor hier gesehen, aber er machte einen recht harmlosen Eindruck, deshalb trat ich ohne zu zögern neben ihn, zog meinen Schlüssel aus der Tasche und sagte: „Hallo.“
„Hallo“, erwiderte er automatisch und drehte sich zu mir um.
Wir musterten uns schweigend, und ich fragte mich, ob er eventuell Hilfe brauchte. Vermutlich wollte er zu einem der Studenten aus der WG im Dachgeschoss, bei der so oft die Bewohner wechselten, dass sich längst keiner mehr die Mühe machte, die Namensschilder an der Klingel auszutauschen. Kein Wunder, dass man da als Besucher überfordert war.
„Suchst du jemanden?“, erkundigte ich mich freundlich.
Der junge Mann runzelte nachdenklich die Stirn und antwortete etwas zerstreut: „Ja … das heißt, nein. Ich wollte eigentlich zu Lukas Engelhardt, aber er scheint nicht da zu sein.“
„Ach so“, gab ich möglichst neutral zurück, während mein Herz alleine bei der Erwähnung seines Namens einen kleinen Hüpfer außer der Reihe machte. „Wart ihr denn verabredet?“
„Nein.“
„Tja, dann hast du wohl einfach Pech gehabt.“ Ich steckte meinen Schlüssel ins Schloss und erwartete, dass er sich daraufhin verabschieden und gehen würde. Doch er rührte sich nicht von der Stelle, und ich spürte, dass er noch etwas loswerden wollte.
„Kennst du Lukas?“, fragte er, ehe ich die Tür aufschließen und im Haus verschwinden konnte. „Also, wenigstens vom Sehen, meine ich? Er ist erst vor ein paar Wochen hierhergezogen.“
„Ja“, sagte ich und drehte mich wieder zu ihm um. „Er wohnt direkt neben mir. Wieso?“
Er zögerte kurz. „Hast du ihn zufällig seit dem Wochenende mal gesehen?“
Ich sah ihn überrascht an: „Warum willst du das wissen?“
Ich hatte schließlich keine Ahnung, wer er war, und da konnte ja jeder daherkommen, um die Nachbarn auszuhorchen. Andererseits … Jetzt, wo er danach fragte, fiel mir auf, dass ich tatsächlich nicht wusste, ob Lukas seit unserer letzten Begegnung am Samstagabend noch einmal hier gewesen war. Und das, obwohl ich ihn dank seines polternden Hais eigentlich immer hörte, wenn er nach Hause kam. Allerdings war ich selbst ebenfalls unterwegs gewesen, überlegte ich im Stillen. Gestern bei Flo, der mir wirklich alles abverlangt und bloß eine erschöpfte Hülle von mir übrig gelassen hatte, und heute bei der Arbeit. Aber mich beschlich plötzlich ein dumpfes Gefühl, dass hier etwas nicht stimmte.
„Ich bin ein Kollege von Lukas“, erklärte der Fremde, der meine Unsicherheit zu spüren schien. „Wir waren Samstagabend mit ein paar anderen aus unserem Team zum Public Viewing verabredet und …“
„Ja, ich weiß“, unterbrach ich ihn auf einmal seltsam angespannt. „Und da wollte er auch hin. Wir haben uns direkt vorher zufällig getroffen und darüber geredet.“
Der junge Mann lächelte nachsichtig. „Er war auch bei uns, und wir hatten einen coolen Abend miteinander“, meinte er. „Aber seitdem habe ich nichts mehr von ihm gehört. Dabei hatten wir uns eigentlich für Sonntag bei mir verabredet, weil die Jungs Lukas von meiner Plattensammlung erzählt haben und er sie unbedingt mal sehen wollte. Aber er ist nicht gekommen und hat sich auch nicht gemeldet. Ich habe erst gedacht, er hat es verpennt, weil wir am Samstag schon ziemlich was gebechert hatten. Aber nachdem er heute bei der Arbeit auch nicht aufgetaucht ist und keiner was von ihm gehört hat, dachte ich, ich gucke mal lieber, ob bei ihm alles in Ordnung ist.“
„Oh“, machte ich überrascht und zermarterte mir das Hirn darüber, ob ich Lukas nicht doch gehört und es nur vergessen hatte. Er konnte ja nicht spurlos verschwunden sein.
„Hast du mal versucht, ihn anzurufen?“, fragte ich und fühlte mich ziemlich dumm und naiv, als er antwortete: „Ja, klar. Aber er ist nicht zu erreichen, sondern es geht sofort eine Bandansage ran.“
Merkwürdig, dachte ich, während in meinem Hinterkopf eine Erinnerung an die Pöbelszene von der S-Bahn-Haltestelle aufblitzte. Vor mir sah ich das Bild, wie der Anführer der Truppe Lukas mit der Hand vor die Brust stieß, doch ich verdrängte es schnell wieder. Was sollte diese Szene damit zu tun haben, dass Lukas nicht zu erreichen war? Er war am Samstag schließlich vollkommen unversehrt bei seinen Kollegen angekommen, selbst wenn diese Halbstarken an derselben Haltestelle wie er ausgestiegen waren.
„Ich kenne Lukas ja noch nicht lange, aber das passt nicht zu ihm“, fügte der junge Mann hinzu. „Er ist eigentlich eher so ein Kumpeltyp, mit dem man Pferde stehlen kann, und keiner, der sich plötzlich wieder vom Acker macht.“
„Hmhmm“, murmelte ich nachdenklich. „Den Eindruck hatte ich auch. Aber als er bei euch war, war alles normal? Oder ist dir etwas Komisches aufgefallen?“
Er musterte mich neugierig, und ich fürchtete, mich damit etwas zu weit aus dem Fenster gelehnt zu haben. Natürlich hätte ich ihm von dem Vorfall an der S-Bahn-Haltestelle erzählen können. Aber das tat hier doch gar nichts zur Sache, oder? Außerdem schämte ich mich dafür, dass ich an dem Abend nicht anders reagiert hatte.
Doch zu meiner Erleichterung schüttelte er gleich darauf entschieden den Kopf. „Nein. Im Gegenteil. Lukas war wie immer total gut drauf. Der Scherzkeks hat sogar behauptet, dass ihm Fußball komplett am Arsch vorbeigeht. Kannst du dir das vorstellen?“, feixte er, und ich konnte mir nur mühsam das Kichern verkneifen.
„Was du nicht sagst!“
„Ja. Schräg, oder? Jedenfalls haben wir das Spiel geguckt und danach etwas den Sieg gefeiert. Anschließend wollten ein paar von uns in der Innenstadt durch die Kneipen ziehen, aber Lukas hatte was mit einer Frau am Gange und ist geblieben. So wie die ihn angehimmelt hat, ging es wahrscheinlich bloß noch um das Zu-mir-oder-zu-dir, nachdem wir weg waren.“ Er verzog den Mund zu einem verunglückten Grinsen, in dem eindeutig etwas Neid lag.
Ich lachte leise und versuchte dabei, dieses eifersüchtige Pieken in meiner Brust zu ignorieren. Es war doch klar, dass einem Mann wie Lukas die Frauen reihenweise zu Füßen lagen. Und nur, weil er mit jeder von ihnen flirtete, musste das ja nicht gleich etwas zu bedeuten haben. Also atmete ich tief durch und konzentrierte mich wieder auf das eigentliche Problem, denn diese Aussage von seinem Kollegen erklärte trotzdem nicht, warum Lukas heute unentschuldigt bei der Arbeit gefehlt hatte.
Ich zuckte erschrocken zusammen, als plötzlich die Haustür von innen geöffnet wurde und die alte Frau Schulze mit ihrem Rollator herauskam.
„Huch“, sagte sie, nachdem sie beinah in mich hineingelaufen wäre. „Entschuldigen Sie, Fräulein Anna. Ich habe gar nicht gemerkt, dass jemand vor der Tür steht.“ Sie blickte an mir vorbei zu Lukas‘ Kollegen. „Guten Tag, junger Mann.“
„Guten Tag“, grüßte er höflich zurück, hielt ihr die Tür auf und trat einen Schritt zur Seite, um sie vorbeizulassen. Frau Schulze rührte sich jedoch nicht von der Stelle und musterte ihn skeptisch von Kopf bis Fuß. Wahrscheinlich hielt sie ihn für meinen Liebhaber, und der musste natürlich erst mal genauestens unter die Lupe genommen werden, bevor er hier im Haus ein und aus gehen durfte.
„Frau Schulze, haben Sie Lukas Engelhardt heute zufällig schon gesehen?“, fragte ich schnell. Zum einen, um sie von irgendwelchen abwegigen Gedanken abzubringen. Zum anderen, weil der alten Frau selten entging, wenn jemand das Haus betrat oder verließ. In ihrer kleinen Erdgeschosswohnung hatte sie die beste Sicht auf den Eingangsbereich, und seit ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war, hatte sie leider kaum etwas anderes zu tun, als sich um das Leben ihrer Nachbarn zu kümmern.
„Den Herrn Engelhardt?“, überlegte sie laut. „Nein. Schon länger nicht mehr. Warum fragen Sie?“
„Nur so“, erwiderte ich ausweichend, um sie nicht zu beunruhigen. „Er hat anscheinend eine Verabredung vergessen, aber das kann ja mal vorkommen.“
Frau Schulze wiegte nachdenklich den Kopf hin und her und meinte: „Jaja, immer diese jungen Leute. Haben einfach zu viel um die Ohren heutzutage. Aber eins sag ich Ihnen, Fräulein Anna: Passen Sie immer gut auf sich auf. Es gibt viele böse Menschen da draußen. Dieser arme Mann, den sie da gerade erst gefunden haben. Fast totgeprügelt haben sie den.“
Was?! Ich erstarrte innerlich, während sich die Gedanken in meinem Kopf überschlugen. Fast totgeprügelt? Wen? Wann? Wo? Schockiert sah ich zu Lukas‘ Kollegen rüber, dessen Namen ich nach wie vor nicht kannte. Der blieb im Gegensatz zu mir gelassen, schien aber selbst bisher nichts davon gehört zu haben und wandte sich an Frau Schulze: „Was meinen Sie damit?“
Die Alte blickte etwas ratlos zwischen uns hin und her. „Ja, hört ihr jungen Leute denn keine Nachrichten mehr? Das kommt doch seit gestern ständig durchs Radio. Sie haben gesagt, dass ein junger Mann überfallen und zusammengeschlagen wurde. Irgendwo in der Stadt … Aber wo war das auch noch … Ach, ich habe es leider vergessen.“
Eine eisige Faust griff nach meinem Brustkorb und drückte immer weiter zu.
Lukas!, war mein einziger Gedanke. Was, wenn es sich dabei um ihn handelte? Wenn die Pöbeltruppe ihm doch aufgelauert hatte, um sich an ihm zu rächen?
Am liebsten hätte ich meine Nachbarin geschüttelt, damit sie mir sagte, wo dieser Überfall passiert war. Stattdessen kam dem kläglichen Rest meiner funktionsfähigen Hirnzellen eine andere Idee. Hektisch wühlte ich in meiner Tasche nach dem Handy und rief mit zitternden Fingern die Google-Suche auf. Währenddessen bekam ich gar nicht mehr mit, wie Lukas‘ Kollege sich weiter mit Frau Schulze unterhielt und sie schließlich ihrer Wege zog. Erst als er mich vorsichtig am Arm berührte, wurde mir bewusst, dass er mit mir redete.
Wie erwachend blickte ich zu ihm auf und musste dabei einen ziemlich panischen Eindruck gemacht haben, denn er legte mir besänftigend eine Hand auf die Schulter. „Hey“, sagte er ruhig. „Jetzt mach dich nicht gleich verrückt. Das muss überhaupt nichts mit Lukas zu tun haben.“
„Und wenn doch?“, stieß ich heiser hervor. Er wusste ja nichts von der Szene am Bahnsteig, sonst wäre er sicher auch nicht mehr so gelassen.
Der junge Mann deutete mit einer Kopfbewegung auf mein Handy. „Hast du was gefunden?“
Ich schaute zurück auf das Display und schüttelte frustriert den Kopf. „Nein. Bis jetzt bloß eine Überschrift, und wenn man weiterlesen will, muss man bezahlen.“
„Beim Anzeiger?“, hakte er nach.
„Ja.“
„Ich hab da ein Abo“, sagte er und zog sein eigenes Handy aus der Tasche.
Im selben Moment ging die Haustür ein weiteres Mal auf, und die fünfjährigen Zwillinge aus dem ersten Stock stürmten laut kreischend zwischen uns hindurch, gefolgt von ihrer gestressten Mutter. Auch das noch! Die Jungs waren bekannt dafür, dass sie einen in Grund und Boden quatschten, dabei lagen meine Nerven sowieso schon blank. Aber zum Glück schien es meine Nachbarin eilig zu haben, denn sie scheuchte ihre Söhne energisch weiter Richtung Auto.
Nachdem sie weg waren, schlug ich Lukas‘ Kollegen vor, zu mir nach oben zu gehen, bevor wir erneut gestört wurden. Ich kannte ihn zwar überhaupt nicht, doch ich hatte jetzt andere Sorgen, als darüber nachzudenken, ob er möglicherweise ein Frauenschänder oder Serienmörder sein könnte. Und wie zum Beweis dafür, dass er es nicht war, hörte ich ihn auf dem Weg die Treppe rauf hinter mir sagen: „Ich bin übrigens Olli.“
Wie von selbst verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln. „Anna“, erwiderte ich, und auch wenn Nele mich dafür garantiert zur Schnecke machen würde, reichte mir das, um diesen Wildfremden mit in meine Wohnung zu nehmen.
Schweigend gingen wir durch ins Wohnzimmer, wo Olli sich in seinen Account bei unserer Tageszeitung einloggte und ich gleichzeitig nach anderen, uneingeschränkten Artikeln suchte, aber nicht fand. Bis Olli mir sein Smartphone reichte, auf dessen Display mir der Artikel über den Überfall ins Auge sprang. Ängstlich nahm ich es entgegen und las den Text, während mir die eisige Faust immer weiter die Luft abdrückte.
Von einem bisher nicht identifizierten jungen Mann war dort die Rede, der am frühen Sonntagmorgen mit lebensgefährlichen Verletzungen hinter ein paar Müllcontainern eines Wohnblocks in der Nähe des Berliner Platzes gefunden worden war. Es hieß, er sei möglicherweise das Opfer eines Raubüberfalls geworden, da er weder Handy noch Portemonnaie bei sich trug. Die Verletzungen stammten laut Aussage der behandelnden Ärzte von zahlreichen Schlägen und Tritten gegen den gesamten Körper. Es wurden Zeugen gesucht, die in der Nacht etwas Verdächtiges beobachtet hatten bzw. jemanden vermissten, auf den die Personenbeschreibung passte.
„Oh mein Gott“, flüsterte ich fassungslos und las ein weiteres Mal die Angaben zum Aussehen des Opfers: Mitte zwanzig bis Anfang dreißig, groß, blond, sportlicher Körperbau, blaue Jeans, dunkelblaues T-Shirt mit grauem Aufdruck auf der Brust.
„Das alles passt genau auf Lukas. Und er war da, am Berliner Platz.“
„Ja, das schon“, gab Olli zu bedenken. „Aber beides trifft auf zig andere Leute auch zu. Du hast keine Ahnung, was da beim Public Viewing los war. Und blaue Jeans und dunkelblaues Shirt sind keine außergewöhnlichen Klamotten.“
Er wollte mich beruhigen, aber ich meinte in seiner Stimme ein leichtes Zögern zu hören. So viel Zufall konnte es außerdem gar nicht geben, dass Lukas ausgerechnet in dem Moment von der Bildfläche verschwand, in dem so ein schreckliches Verbrechen geschah. Schon für sich alleine klang das ziemlich unwahrscheinlich, geschweige denn, wenn man die Vorgeschichte kannte.
Erzähl es ihm!, wisperte eine leise Stimme in mir. Aber ich konnte nicht. Ich war wie gelähmt vor Angst und Entsetzen und dachte immer wieder nur: Bitte, lass es nicht Lukas sein! Bitte, bitte, lass es nicht Lukas sein!
„Anna?“
Ich hob den Kopf und bemerkte Ollis fragenden Blick. Er spürte anscheinend, dass etwas in mir vorging, was über die bloße Sorge um einen Nachbarn hinausging.
Verzweifelt presste ich die Lippen aufeinander und gab ihm schweigend sein Handy zurück. Dabei erstickte ich fast an all den ungesagten Worten, die mir in der Kehle steckten und rauswollten, aber nicht konnten. Nicht durften. Weil meine Befürchtungen dann Realität geworden wären. Vor meinem geistigen Auge sah ich die vier üblen Gestalten von der Haltestelle, wie sie Lukas beim Einsteigen in die Bahn ihre Drohungen hinterhergerufen hatten. Was, wenn es da einen Zusammenhang gab? Was, wenn es wirklich Lukas war, der dort schwer verletzt gefunden worden war? Verdammt, warum hatte ich mich nur von Nele beruhigen und ablenken lassen, wo ich von Anfang an dieses mulmige Gefühl gehabt hatte? Was, wenn wir doch zurückgefahren wären, um uns zu vergewissern, dass es ihm gut ging? Andererseits war ja zunächst alles bestens gewesen, solange er bei seinen Kollegen war …
„Okay“, riss Olli mich aus den Gedanken. „Was hältst du davon, wenn wir zur Polizei gehen und ihnen von Lukas erzählen, bevor wir uns hier weiter verrückt machen? Wenn er es wirklich ist, dann werden sie es schnell herausfinden können. Und wenn nicht, dann müssen wir uns darum wenigstens keinen Kopf mehr machen.“
Ich zuckte kaum merklich zusammen. Polizei? Alles in mir sträubte sich dagegen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gab, denn ich hatte mir bisher nichts zuschulden kommen lassen. Aber das ging mir plötzlich alles zu schnell. Wenn ich dorthin ginge, müsste ich auch von dem Vorfall an der Haltestelle erzählen. Und dann würden sie fragen, warum ich nicht früher etwas gesagt hatte. Und … keine Ahnung, was noch alles. Ich war mit der ganzen Situation vollkommen überfordert und hätte mir am liebsten die Decke über die Ohren gezogen, bis dieser Albtraum vorbei war und Lukas wieder quicklebendig mit seinem Hai an die Tür polterte. Mir war klar, dass das keine sehr erwachsene Reaktion war. Aber ähnlich wie an der Haltestelle war ich in völliger Hilflosigkeit erstarrt.
Zögernd schaute ich zu Olli und bemerkte, dass er mich forschend beobachtete. Unter seinem Blick schrumpfte ich immer mehr zusammen und fühlte mich furchtbar schlecht.
„Das nimmt dich alles ganz schön mit, was?“, sagte er mitfühlend. „Also, wenn du willst, kann ich auch alleine gehen. Aber darf ich deinen Namen angeben, wenn die Beamten danach fragen?“
Ich schluckte trocken und nickte langsam. „Glaubst du, dass sie das wissen wollen? Ich kann doch auch nicht mehr dazu sagen als du.“
Er zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Nur für den Fall. Und vielleicht sollten wir auch unsere Handynummern austauschen, damit wir uns auf dem Laufenden halten können. Nicht, dass Lukas plötzlich hier auftaucht, während ich mich da mit der Polizei rumschlage.“
Meine Lippen verzogen sich zu einem winzig kleinen Lächeln. „Schön wär’s.“
Olli lächelte ebenfalls, tippte die Kontaktliste auf seinem Smartphone an und ließ sich meine Nummer diktieren. Nachdem wir unsere Daten gegenseitig gespeichert hatten, stand er auf und sagte: „Tja, dann will ich mal.“
Ich brachte ihn zur Tür, wo wir beide kurz innehielten und zu Lukas‘ Wohnung rüberschauten.
„Ich geb dir nachher Bescheid, was sie gesagt haben“, versprach Olli, bevor er ging.
„Danke“, erwiderte ich leise.
Er war schon die ersten drei Stufen runter, als mir etwas einfiel. „Olli?“
„Ja?“ Er blieb stehen und schaute über die Schulter zu mir zurück.
„Kannst du die Polizei bitte fragen, ob sie bei dem Mann von dem Überfall einen Schlüsselanhänger mit einem geschnitzten Hai dran gefunden haben?“
Er zog fragend die Stirn in Falten, nickte wortlos und ging.
Zurück in meiner Wohnung, ließ ich mich kraftlos aufs Sofa fallen, zog die Knie an die Brust und vergrub aufgewühlt mein Gesicht dazwischen. Das Herz pochte hart gegen meinen Brustkorb und pumpte rauschend das Blut durch meinen Körper. Lukas’ rätselhaftes Verschwinden und die Nachricht über den Überfall in der Nähe vom Berliner Platz hatten mich vollkommen schockiert, und ich wusste auch genau, warum. Was mir allerdings völlig schleierhaft war, war die Frage, wie ich nach dem Vorfall an der Haltestelle zwei Tage lang so tun konnte, als wäre nichts gewesen. War ich wirklich so oberflächlich, dass ich nach dem ersten Panikmoment die Szene einfach abhaken konnte? Oder war es ein fieser Trick meiner Psyche, das Ganze so gut zu verdrängen und zu hoffen, dass nie wieder jemand darauf zurückkommen würde? Tja, das hatte definitiv nicht funktioniert, und die schlagartige Erinnerung daran hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Ich wusste nicht, wie lange ich so dort gesessen hatte, als mein Handy plötzlich klingelte und ich beinahe einen Herzinfarkt bekam. War das etwa schon die Polizei? Und falls ja, was sollte ich denen sagen?
Zögernd rappelte ich mich auf, beugte mich über den Tisch, um nach dem Smartphone zu greifen, und stieß erleichtert die Luft aus, als ich den Namen meiner Schwester auf dem Display las.
„Hey“, sagte ich leise, und irgendetwas daran ließ bei ihr die Alarmglocken läuten, denn sie wollte sofort wissen, was passiert war. Also erzählte ich es ihr, angefangen bei der Szene am Bahnsteig, bis hin zu Olli und der Nachricht über den Überfall.
„Oh Gott! Warum hast du das denn nicht gestern schon erzählt?“, rief Kathi entrüstet.
„Ihr musstet doch weg“, verteidigte ich mich wenig überzeugend. „Außerdem habe ich selbst nicht mehr daran gedacht, weil es aussah, als wäre alles gut gegangen. Aber jetzt …“ Unter Tränen brach ich ab und zog schniefend die Nase hoch.
„Ach, Anni“, sagte sie sanft. „Mach dich nicht verrückt, hörst du? Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass das eine etwas mit dem anderen zu tun hat. Meinst du, diese Typen hätten sich deinen Nachbarn nicht sofort gekrallt, wenn sie das vorgehabt hätten? Die hatten bestimmt etwas Besseres vor, als ihn stundenlang zu beobachten und auf die passende Gelegenheit zu warten.“
„Keine Ahnung. Aber würdest du so einen Überfall ernsthaft am helllichten Tag in der Nähe von Tausenden Fußballfans machen oder nicht doch eher abwarten, bis es dunkel und weniger bevölkert ist?“
„Hm“, machte Kathi ratlos. „Jetzt warte erst mal ab, bis die Polizei das Opfer identifiziert hat. Mit dem Hinweis von diesem Olli müsste das ja ziemlich schnell zu klären sein. Aber selbst wenn es wirklich Lukas ist, dann muss das nicht unbedingt etwas mit den Typen aus der Bahn zu tun haben. Letztendlich kann das wahrscheinlich sowieso nur er selbst sagen.“
„Wenn er es noch kann“, erwiderte ich niedergeschlagen, denn der Zeitungsartikel hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass das Opfer des Überfalls lebensgefährliche Verletzungen erlitten hatte und eine weitere Stunde hilflos hinter den Müllcontainern kaum überlebt hätte.
Für einen Moment blieb es still zwischen uns. Dann bemerkte Kathi zögernd: „Sag mal, Schwesterherz, kann es sein, dass wir hier nicht bloß über einen deiner Nachbarn reden?“
Ich gab ein kleines, trauriges Lachen von mir. Meine große Schwester witterte anscheinend potenziellen Familienzuwachs. In meinem Alter war sie bereits seit zwei Jahren verheiratet, und sie hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, mich ebenfalls möglichst bald unter die Haube zu bringen. Zu dumm, dass mir dafür bisher der richtige Partner fehlte. Und selbst wenn Lukas doch auf verworrenen Wegen des Schicksals derjenige sein sollte, der für mich bestimmt war, dann hatten wir jetzt gerade andere Probleme als ein Kleid in Weiß oder Champagnerfarbe.
„Das kommt wahrscheinlich darauf an, ob du ihn oder mich fragst“, erklärte ich ausweichend.
„Also magst du ihn“, schlussfolgerte sie messerscharf, und da es eine Feststellung und keine Frage war, musste ich nicht darauf antworten.
„Ich fühle mich einfach so mies, weil ich nichts getan habe, um ihm oder der jungen Frau zu helfen“, gestand ich ihr leise.
„Aber was hättest du denn tun sollen?“, entgegnete Kathi entschieden. „Dich selbst in Gefahr bringen? Man hört doch immer wieder, wie so etwas endet. Irgendwer will irgendwem helfen und ist am Ende selbst tot. Nee, Anni. Das ist auch keine Option.“
Mir lief bei ihren Worten ein eisiger Schauer über den Rücken. Ja, davon hatte ich auch schon einmal gehört. Aber es musste doch noch etwas anderes geben zwischen Nichtstun und Sein-Leben-riskieren, oder?
„Vielleicht hättest du ganz simpel die Polizei rufen sollen“, meinte Nele, als ich später mit ihr telefonierte.
„Die Polizei?“, wiederholte ich ungläubig. „Bis die da gewesen wäre, war doch längst alles vorbei.“
„Na und?“, erwiderte sie gelassen. „Aber sie hätten eine Spur gehabt und an jeder Haltestelle ein paar Beamte hinstellen können oder so was. Du hättest jedenfalls deine Pflicht getan und müsstest dich jetzt nicht mit deinem schlechten Gewissen rumschlagen. Mal ganz abgesehen davon, dass du überhaupt nicht weißt, ob es wirklich einen Zusammenhang gibt.“
„Hmmm“, murmelte ich unschlüssig. Einerseits klang das logisch, andererseits viel zu einfach. Außerdem war es dafür jetzt sowieso zu spät.
„Hey“, sagte Nele sanft. „Beruhig dich, Anna-Maus. Manchmal passieren halt mehrere blöde Sachen zufällig auf einmal. Jede Wette, dass dein Lukas sich gerade irgendwo vergnügt und keinen Schimmer von dem Überfall hat.“
„Ich möchte dir so gerne glauben.“
„Dann tu es! Und wenn es anders sein sollte, kannst du dir später immer noch den Kopf darüber zerbrechen. Sieh es mal so: Vielleicht musste das alles passieren, damit du endlich deinen süßen Hintern hochkriegst, um den nächsten Schritt bei deinem Traumprinz zu machen.“
„Na toll. Dann verzichte ich lieber, als so einen Scheiß zu erleben.“
„Grummel, grummel, grummel“, machte sie. „Ich kann verstehen, dass dich das alles ziemlich fertigmacht. Aber dieses ganze Was-wäre-wenn bringt doch nichts.“
Ich wusste, dass sie recht hatte, und trotzdem konnte ich nicht damit aufhören. Meine Freundin schien das zu spüren, denn als ihr mein Schweigen zu lange dauerte, sagte sie: „Soll ich zu dir kommen? Ich hab zwar eigentlich gleich ein Telefon-Date mit Timm, aber wenn du willst …“
„Nein“, unterbrach ich sie schnell. „Ist schon okay, ich komme klar. Ich warte bloß auf eine Nachricht von Olli, und dann versuche ich ein bisschen abzuschalten.“
Bei diesen Worten kugelte sich tief in mir ein kleines Teufelchen vor Lachen am Boden. Wem wollte ich eigentlich etwas vormachen?
Nele dagegen kaufte mir mein haltloses Versprechen scheinbar ab, sagte: „Braves Mädchen“, und verabschiedete sich.
Eine halbe Stunde später war es so weit, dass mir mein Handy die erlösende Nachricht anzeigte. Nur, dass sie nicht wirklich erlösend war, denn Olli schrieb: Alles erledigt, aber mehr kann ich dir leider nicht sagen. Die bei der Polizei haben sich alles angehört, sich bei mir bedankt und werden sich drum kümmern. Bin nicht sicher, ob ich jemals was von denen hören werde.
Ich schluckte meine Enttäuschung runter und antwortete: Na toll! Also sind wir genauso schlau wie vorher. Hast du nach dem Schlüsselanhänger gefragt?
Ja. Aber der Typ, mit dem ich zu tun hatte, hatte entweder ein gutes Pokerface oder echt keine Ahnung. Er wird das überprüfen …
Das sind ja tolle Aussichten. Im schlimmsten Fall liegt Lukas also halb tot im Krankenhaus, und wir kriegen es nicht mal mit? Er hat hier doch niemanden sonst. Soweit ich weiß, ist er von weiter weg hierhergezogen.
Ja, schrieb Olli. Aber ich werde morgen mal eine Kollegin aus der Personalverwaltung anstiften, dass sie sich bei mir meldet, wenn sie etwas hört. Irgendwer muss die Firma ja benachrichtigen, falls Lukas länger ausfallen sollte.
Gute Idee, erwiderte ich. Gibst du mir Bescheid, sobald du etwas Neues weißt?
Natürlich. Du auch? Kann ja sein, dass die Polizei oder ein Verwandter an seiner Wohnung auftaucht. Wenn er es denn überhaupt ist …
Ja klar, antwortete ich mit einem traurigen Lächeln. Dieser Olli gefiel mir. Er nahm die Sache wirklich ernst, hatte dabei aber so eine praktische Art, statt wie ich kopflos in Panik zu verfallen.
Nachdem wir uns voneinander verabschiedet hatten, blieb ich einen Moment reglos auf dem Sofa sitzen und beschloss dann, ins Bett zu gehen, auch wenn ich sowieso kein Auge zubekommen würde.
Ich kannte Lukas kaum. Zwischen uns war bisher nichts gewesen außer diesem unglaublich schönen gemeinsamen Frühstück nach dem Feueralarm und ein bisschen Treppenhausflirterei. Und trotzdem könnte ich es nicht ertragen, wenn ihm etwas zugestoßen wäre. Vielleicht auch deshalb, weil tief in mir ein hauchzartes Zipfelchen meines Unterbewusstseins darauf beharrte, dass ich es hätte verhindern können.
Die Nacht wurde wie erwartet furchtbar. Statt zu schlafen, lauschte ich auf jedes kleine Geräusch im Treppenhaus, doch nie blieben die Schritte an der Tür nebenan stehen, sondern polterten jedes Mal weiter rauf ins Dachgeschoss.
Als ich am Dienstagmorgen zur Arbeit kam, war ich wie gerädert. Und ausgerechnet heute hatten wir nach Feierabend eine weitere Schulung für die neue Buchungssoftware. Das perfekte Timing, denn meine Konzentration ging mit jeder Stunde mehr Richtung null. Aber auf wundersame Weise schaffte ich es, auch diesen Tag zu überstehen.
Zwischendurch schaute ich ständig auf mein Handy und hoffte, dass Olli sich mit Neuigkeiten gemeldet hatte. Doch alles, was er am frühen Nachmittag schrieb, war, dass er bisher nichts gehört hatte.
Abends um halb zehn hatte ich endlich Feierabend. Auf dem Weg nach Hause versuchte ich vergeblich, meine hoffnungsvolle Erwartung, dass Lukas wiederaufgetaucht sein könnte, zu bremsen und mich gegen die Enttäuschung zu wappnen, wenn es eben nicht so sein sollte. Alles in mir kribbelte vor Nervosität, und sobald unser Wohnblock in Sichtweite kam, suchte ich mit den Augen die Fassade nach den Fenstern von Lukas‘ Wohnung ab. Die zwei außen rechts waren meine und daneben …
Ich schnappte überrascht nach Luft. Da war Licht hinter einem der Fenster! Vorsichtshalber zählte ich noch einmal nach, aber es war definitiv das vierte Fenster von rechts im zweiten Stock, also die Wohnung von Lukas!
Schlagartig schoss mein Puls in die Höhe. Am liebsten wäre ich sofort losgerannt, um bei ihm zu klingeln und mich erleichtert in seine Arme zu stürzen. Stattdessen blieb ich wie erstarrt stehen und blickte mit wild klopfendem Herzen weiter nach oben. So ganz traute ich der Sache nicht über den Weg. War das wirklich Lukas da in der Wohnung? Sollte tatsächlich auf einmal alles wieder gut sein? Oder war es vielleicht doch bloß ein Angehöriger, der gekommen war, um ihm ein paar Sachen fürs Krankenhaus zu holen?
Während ich noch zögerte, tauchte eine Silhouette am Fenster auf, und ich keuchte vor Erleichterung auf. Größe, Statur, Haare – alles, was ich von hier unten erkennen konnte, passte. Das war Lukas! Er war wieder da! Ihm war nichts passiert!
In Rekordzeit legte ich das letzte Stück bis zur Haustür zurück und schaffte es nur mit Mühe, sie aufzuschließen, weil meine Finger vor Aufregung so stark zitterten. Ich hätte heulen können vor Freude, zwang mich aber, es nicht zu tun. Was sollte Lukas denn denken, wenn ich plötzlich tränenüberströmt vor seiner Tür stand? Es würde schon schwer genug sein, ihm nicht sofort um den Hals zu fallen.
Ohmeingottohmeingottohmeingott! Er war wirklich wieder da. Die ganze Angst war umsonst gewesen. Völlig überwältigt taumelte ich die Treppe rauf, während auf jeder einzelnen Stufe ein Lukas-ist-da in meinem Kopf herumtanzte.
Als ich schließlich vor seiner Wohnungstür stand, flatterten unzählige Schmetterlinge in aufgeregter Vorfreude in meinem Bauch herum. Ich freute mich so wahnsinnig darauf, ihn zu sehen. Nur dass das in diesem Fall wenig mit Verliebtheit zu tun hatte, sondern mit der unfassbaren Erleichterung, dass ihm nichts passiert war. Dass die Szene an der Haltestelle kein Nachspiel gehabt hatte und ich deshalb dieses furchtbare Was-wäre-wenn-Karussell in meinem Kopf endlich abstellen konnte.
Ich atmete tief durch und drückte mit zitternden Fingern auf die Klingel.
Hinter der Tür hörte ich Schritte näher kommen, dann ein „Hallo?“ und ein leises Fluchen: „Wie funktioniert denn dieses Mistding?“
Im selben Moment rutschte mir das Herz in die Hose. Das war nicht Lukas. Es war nicht seine Stimme. Außerdem hätte er im Gegensatz zu dem Mann in seiner Wohnung gewusst, wie man die Gegensprechanlage im Flur bediente. Aber wer war es dann? Und wo war Lukas?
Für einen Augenblick stand ich wie gelähmt vor der Tür und fragte mich, ob es das zu bedeuten hatte, was ich glaubte. Dann hob ich wie in Zeitlupe die Hand und klopfte sacht an die Wohnungstür, um dem Fremden zu verstehen zu geben, dass ich hier oben direkt davor stand. Die Tür öffnete sich, und dahinter kam ein Mann zum Vorschein, der einerseits unglaubliche Ähnlichkeit mit Lukas hatte und andererseits überhaupt nicht. Er war genauso groß, genauso blond, genauso gut trainiert, doch damit hörten die Gemeinsamkeiten bereits auf. Seine Augen waren zwar auch blau, aber wesentlich weniger intensiv, eher schon grau und glanzlos, statt so strahlend und funkelnd wie die von Lukas. Überhaupt wirkte er furchtbar blass und matt und war das genaue Gegenteil von diesem lebenslustigen Strahlemann, der normalerweise hier wohnte. Es musste sein älterer Bruder sein, von dem Lukas mir bei unserem gemeinsamen Frühstück erzählt hatte. Und in dem Zustand, in dem er sich befand, wurde mir schlagartig klar, dass sich jeden Moment alle meine Befürchtungen bestätigen würden.