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Ankunft

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Göttermond

Der Reiter näherte sich Undidor über die Hochebenen. Das Land war weit und nur wenige Dörfer unterbrachen die braune Eintönigkeit der Steppe. In seiner Kargheit erinnerte es ein wenig an seine Heimat. Er mied menschliche Behausungen so gut es ging, ohne ihnen auffällig auszuweichen. Später einmal würden sich die Menschen erzählen, dass er dort vorbei geritten sei, hier Brot und Käse, dort Bier oder Wein gekauft hatte, ohne jemals die Nacht unter einem Dach zu verbringen. Man würde sich an die befehlsgewohnte Stimme erinnern, die unbestimmte Aura von Gefährlichkeit und Gewalt, die jegliche Fragen im Keim erstickte.

Obwohl er eben diesen Weg gewählt hatte, weil er ihn weit nach Brandai hineinführte, ohne dass er befürchten musste, aufgehalten zu werden, war er doch verwundert, wie leicht es war, bis zur Hauptstadt vorzudringen. Daheim hätte man ihn wenige Stunden nach Überschreiten der Grenze abgefangen. Daheim hätte...DAHEIM GAB ES NICHT MEHR.

Durch das fruchtbare Tiefland ritt er nachts. Felder erstreckten sich soweit das Auge reichte, dann wieder breiteten sich lichte Buchenwälder aus und wölbten ihre Kronen wie ein Dach über dem einsamen Reiter. Alles war sanft und gebändigt, selbst die Luft schien ihm weich und süß und er fragte sich, wie in einem solchen Land Krieger aufwachsen konnten, die seinen Heeren widerstanden.

In der letzten Nacht ritt er nur so lange, bis er die Mauern von Undidor vor dem breiten Band des Branduin erkennen konnte. Der Hellmond nahm bereits ab, aber noch gab seine Sichel genug Licht für einen ersten Eindruck. Er musterte die vorgelagerten Verteidigungswälle, die zyklopenhaften äußeren Mauern, den aufsteigenden Ring der inneren Festungswälle und schließlich die schlank wirkenden Türme der Burg Telmhorst, die sich aus der Mitte der Stadt erhob. Ganz versunken in den Anblick war er in diesem Augenblick nur Stratege, schätzte die Verteidigungsstärke der Stadt, verglich die Möglichkeiten einer Belagerung mit denen eines direkten Angriffs, überschlug Aufwand und Verluste, alles innerhalb weniger Herzschläge, und setzte sich schließlich seufzend im Sattel zurecht. Die Berichte seiner Spione stimmten mit den alten Mythen überein. Undidor war praktisch nur durch einen Verrat zu erobern. Fürst Elder hatte zurecht einen Feldzug gegen die Hauptstadt des Reiches abgelehnt. „Besiege das Land. Treibe die Flüchtlinge in die Stadt und lass sie dort verhungern. Wir brauchen nicht Undidor, wenn uns das Land gehört. Sollen die Derengolds doch eine Weile hinter den Mauern weiter herrschen, irgendwann fällt uns die Stadt in die Hände wie ein reifer Apfel.“

Es war schwerer geworden, als Elder von Gorderley prophezeit hatte. Natürlich war jeder Gorderleyritter soviel wert wie drei Brandai, aber der König wurde von den meisten einflussreichen Häusern unterstützt. Die Krieger aus Gorderley hatten das Land verwüstet, Dörfer verbrannt, tausende von Brandai in die Sklaverei verschleppt, aber das eroberte Gebiet entglitt der Kontrolle, sobald sie weiterzogen. „Wir gewinnen die Schlachten, aber wir verlieren stets mehr als unser Gegner. Jeder tote Gorderley reißt ein Loch, jeder tote Brandai wird durch einen anderen ersetzt. Mögen sie noch so schlecht ausgebildet sein, ihre Masse wird uns irgendwann in Schwierigkeiten bringen.“ Wann hatte er diese Worte gesagt? Ihm schien es hundert Jahre her, dass er mit dem Fürsten über die Änderung ihrer Strategie gesprochen hatte, und doch hatte er erst vor kaum einem Monat Burg Witstein verlassen.

Er verscheuchte die Erinnerung an die klare kalte Helligkeit der Hochebene mit einem unwilligen Kopfschütteln. Auch das würde es für ihn nicht mehr geben.

Die Stute schnaubte und wandte den Kopf, um ihn anzusehen. Er stieg ab und zog sie in die Büsche. Diese Nacht konnte er noch unter freiem Himmel verbringen, seine Mission würde weitaus wirkungsvoller sein, wenn er Undidor am Vormittag erreichte.

Als er am folgenden Morgen aufstand, war ihm weder Eile noch Zögern anzumerken. Er sattelte die Stute sorgfältig, kämmte die auf der Reise verwilderte Mähne glatt und prüfte den Sitz seines Schwertgurtes, bevor er durch die Büsche zur Straße hinab ritt. Noch herrschte dort wenig Verkehr. Die Bauern, die ihre Waren auf den Markt nach Undidor brachten, waren schon längst vorbei gezogen, um bei Sonnenaufgang ihre Stände in der Stadt aufzuschlagen. Für fahrende Händler und Reisende war es noch zu früh, so dass nur wenige Menschen dem Reiter begegneten. Aber je näher er den Toren von Undidor kam, desto lebhafter wurde das Getriebe. Dennoch musste er nicht einmal sein Pferd zügeln oder gar anhalten. Entgegenkommende Reiter und Fahrzeuge wichen zur Seite und hinter ihm hing Schweigen über der Straße. Die Menschen steckten flüsternd die Köpfe zusammen und sahen ihm furchtsam nach. Nicht wenige riefen die Unsterblichen um Schutz an, wenn sie seinen unbeteiligten Blick über sich gleiten spürten. Längst mussten die Wachen vor den Stadttoren ihn bemerkt haben. Mit jenem rationalen Teil seines Verstandes, der unbeeindruckt von allem Geschehen ständig Informationen sammelte und wertfrei betrachtete, fragte er sich, ob der König von Brandai dem üblichen Fehler der feudalen Gesellschaft erlegen war: Im Allgemeinen waren es nicht die fähigsten Leute, die zum Wachdienst bestellt wurden. Er schob auch diese Gedanken fort, denn es spielte keine entscheidende Rolle, wer ihn empfing. Der Weg war vorgezeichnet und er musste ihn gehen, eine unfähige Wache mochte eine Verzögerung bedeuten, aufhalten konnte sie ihn nicht.

Die beiden Posten sahen ihm aufmerksam entgegen. Er ritt auf sie zu, bis sie die Lanzen erhoben. Die Stute verhielt ohne ein sichtbares Zeichen ihres Reiters eine Handbreit vor der vordersten Lanzenspitze. Der zweite Posten legte seine rechte Hand auf den Knauf seines Schwertes und ließ dabei den Ankommenden keinen Herzschlag lang aus den Augen.

Für einen Moment war es still, es schien, als drängen die Geräusche der schweren Wagen, die Stimmen der Menschen hinter den Toren, selbst die morgendlichen Vogelrufe nicht mehr zu den drei Männern vor. Dann sprach der Reiter: „Ich bin Roman von Gorderley. Ich komme, um mit Melgardon Derengold zu sprechen.“

Hinter ihnen kreischte eine Frau auf, Raunen erhob sich und erstarb wieder. Es hatte sich ein freier Raum um sie gebildet, doch nun wichen die Menschen noch weiter zurück. Die beiden Wachen waren blass geworden und die Hände des einen krampften sich um den Lanzenstiel. Die Stute bewegte sich keinen Millimeter, aber Roman spürte ihre Unruhe und fragte sich, was er tun würde, wenn dieser Mann sie verletzte. Er starrte den Posten an und befahl ihm wortlos, die Lanzenspitze zu senken.

Es funktionierte beinahe. Der Mann schluckte und richtete die Waffe auf den Reiter. „Wagt nicht, Euch zu bewegen. Ich habe keine Angst vor Euch“, der hysterische Ton strafte seine Worte Lügen. Der zweite Posten hatte sich besser in der Gewalt. Er war einen Schritt zurückgetreten und musterte den Fremden, der sich für den meistgehassten und gefürchteten Mann im Reich ausgab. Roman von Gorderley. FÜRST Roman von Gorderley - wenn man den Gerüchten glauben wollte, hatte er sogar Anspruch auf einen Prinzentitel - wurde als vollkommener Krieger beschrieben. Nicht einmal seine Feinde bestritten seine Fähigkeiten. Kein Mensch konnte ihn im Zweikampf schlagen und es gab unzählige Geschichten, in denen er Drachen und Dämonen bekämpfte, allein ganze Heere besiegte und niemals auch nur einen Kratzer davontrug. Erek hatte die Erzählungen bisher für Märchen oder zumindest Übertreibungen gehalten, aber nun stand dieser Mann leibhaftig vor ihm. Würde er sich in die Hauptstadt seiner Feinde wagen, wenn er nicht sicher war, unbeschadet zu entkommen? Vielleicht stimmten ja auch die Erzählungen über sein Geisterpferd, das sich in eine Gewitterwolke verwandeln konnte und seinen Herrn darin aus jeder Gefahr davontrug.

Langsam löste Erek die Hand vom Schwertgriff. Bo, sein Kamerad, sah aus, als würde er jeden Moment die Nerven verlieren. Was immer Fürst Gorderley vorhaben mochte, sicher ließ er sich nicht von einer Torwache aufspießen. Erek schluckte, um seinen trockenen Hals anzufeuchten und sagte dann so ruhig er vermochte: „Bo, melde dem Kommandanten, dass Fürst Gorderley hier auf ihn wartet.“ Dabei blickte er bittend den Reiter an und hoffte, dieser würde keine der hektischen Bewegungen seines Kameraden falsch verstehen.

Bo streifte mit der Lanze beinahe das Pferd, als er sich zurückzog und in panischer Hast durch das Tor verschwand.

Erek fühlte den Blick des Fürsten nun auf sich ruhen. Einen Augenblick starrte er zurück, aber die schwarzen Augen zwangen ihn auszuweichen. „Ich bin ein freier Krieger des Reiches und diene dem rechtmäßigen König. Er ist nur ein Rebell aus einem ganzen Geschlecht von Rebellen“, redete er sich ein, ohne sich deswegen weniger unterlegen zu fühlen.

Der Fürst sah weder furchterregend aus, noch tat er irgendetwas Furchtbares. Nach den Schilderungen hätte er riesig sein müssen, breit wie ein Schrank, mit bluttriefenden Fingern und hassverzerrten Gesichtszügen. Konnten die Hände, die sogar in den schwarzen Lederhandschuhen schlank aussahen, wirklich hunderten Menschen eigenhändig den Tod gebracht haben? Und mussten solche Taten nicht auch Spuren im Gesicht eines Mannes hinterlassen? Doch in der ganzen Haltung des Fürsten lag nur Selbstsicherheit und Unnahbarkeit. Je länger sie warteten, desto mehr kroch die Angst in Erek auf. Nur er stand zwischen den Menschen in der Stadt und ihrem Todfeind, und das war nicht besonders viel. Ob er überhaupt sein Schwert ziehen konnte, bevor er starb? Erstaunlicherweise gab der Gedanke, möglicherweise in dieser Stunde sein Leben zu verlieren, Erek einen Teil seiner Selbstbeherrschung wieder. Unwillkürlich straffte er sich. „Ich bin ein Brandai“, dachte er und fühlte zum ersten Mal im Leben die wirkliche Bedeutung dieses Satzes, „dafür lohnt es sich sogar zu sterben, und wenn es diesem Kerl nur zeigt, dass ein Brandai nicht vor einem verdammten Rebellen davon läuft.“

Roman beobachtete belustigt den Wachposten, dessen Gedanken sich mühelos an seinem Gesicht ablesen ließen. Ihm entging weder die Angst noch der verzweifelte Mut, mit dem der Mann offensichtlich den Weg in die Stadt allein verteidigen wollte.

„Bisher ausgeglichen, Melgardon“, dachte er und folgerte ungerührt, dass er bei einer Eroberung diesen Krieger sofort töten würde, während der andere - Bo, er legte den Namen im Gedächtnis ab - wahrscheinlich einen guten Sklaven abgab.

In der Menschentraube, die sich in einiger Entfernung vom Tor gebildet hatte, entstand Bewegung. Schließlich teilte sie sich und schnellen Schrittes kam ein Ritter in der Uniform des Königs heran. Fünf schwer gerüstete Wachen begleiteten ihn. Erek trat erleichtert in den Hintergrund. Der Kommandant der Stadt sah den Fürsten eine Weile prüfend an. „Roman von Gorderley also.“

Roman nickte kaum merklich. Es kam so viel darauf an, was nun geschehen würde. Äußerlich ungerührt erwiderte er den Blick und legte seine ganze Autorität hinein. Aber der Kommandant war nicht so leicht zu beeindrucken wie seine Wachen. Er zweifelte keine Sekunde, dass es tatsächlich der Fürst war, der hier vor ihm stand, doch er war überrascht, wie jung dieser war. Der Gorderley konnte kaum mehr als 30 Jahre zählen, und das schien einfach zu wenig für einen Mann seines Rufes. Das einzige Zeichen seiner Herkunft war die muschelförmige Spange, die den schwarzen Mantel zusammen hielt und das Wappensymbol des Hauses Gorderley darstellte.

Die Gorderleyritter besaßen nur selten verzierte Rüstungen oder gar Schmuck, doch unter dem weich fallenden Tuch des Mantels blitzte ein fein geschmiedetes Kettenhemd. Am rechten Arm schimmerte ein Rüstschutz aus kupferfarbenen Schuppen und die Oberschenkel schützten doppelte Lederhüllen, in die ein Gewebe aus Metall eingenäht war. Zusammen mit den hohen Lederstiefeln war die Rüstung ideal für den Kampf vom Pferd, bot aber ebenfalls die notwendige Bewegungsfreiheit, wenn sich der Krieger zu Fuß fortbewegen musste. In dieser zweckmäßigen Schlichtheit lag eine unheimliche Bedrohung und so wie sich Roman von Gorderley verhielt, war ihm dieser Eindruck durchaus bewusst. Der Stadtkommandant fragte sich, seit Bo völlig außer sich von dem Ankömmling berichtet hatte, was er tun sollte. Die Gelassenheit, mit der der Fürst wartete, war zutieftst beunruhigend.

„Grund von Zollberg“, stellte er sich nach einer langen Pause vor und es fiel ihm schwer, nicht nach den Wünschen des Fürsten zu fragen. Stattdessen gab er den Wachen einen Wink und sie verteilten sich um den Reiter, wahrten aber respektvollen Abstand. „Mir wurde berichtet, dass Ihr den König zu sprechen wünscht. Ich werde Euch eine Unterkunft anweisen bis der König über Eure Bitte...“, er verstummte, denn der Blick des Gorderley erdolchte ihn beinahe. „Man hat Euch falsch unterrichtet, Graf Zollberg“, unterbrach Roman den Kommandanten und freute sich über dessen Erstaunen, „ich verlange mit dem König zu sprechen. Bis er dazu bereit ist, dürft Ihr mir eine Unterkunft stellen, zu der ich Euch folgen werde.“ Innerlich verfluchte Graf Zollberg den Fürsten, aber es gelang ihm seinen angefangenen Satz so unbewegt zu beenden, als hätte es die Unterbrechung nicht gegeben: „ ….entschieden hat. Und solange Ihr in meiner Stadt weilt, werdet Ihr Euer Schwert abgeben.“

Das war der kritischste Moment. Roman hatte mit solch einer Aufforderung gerechnet, aber genau das durfte nicht geschehen. Er richtete sich auf und legte die Hand auf den Schwertknauf. „Ein Gorderley gibt sein Schwert nur freiwillig ab, oder tot. Wollt Ihr es auf die zweite Möglichkeit ankommen lassen?“ Ein winziger Stich Spott schwang in den Worten. Der Kommandant wurde blass. Der Fürst beleidigte ihn bereits das zweite Mal und forderte ihn auch noch offen heraus.

Doch Grund von Zollberg verdankte seine Stellung neben seinen Qualitäten als Krieger auch seiner besonnenen Klugheit. Sicher lag es nicht in der Absicht des Fürsten, den Stadtkommandanten vor den Toren Undidors zu töten. Er wollte in die Stadt hinein, es stellte sich nur die Frage, welchen Preis er zu zahlen bereit war. Vielleicht würde er sein Schwert auf einen zweiten Befehl hin doch abgeben. Vielleicht aber auch nicht. Die Wachen würden ihn kaum aufhalten und wenn erst einmal Blut geflossen war, würde sich der Fürst sicher nicht mehr friedlich ergeben. Kälte kroch dem Grafen den Rücken hinauf, wenn er an die Menschen dachte, die ahnungslos hinter den Mauern ihren Geschäften nachgingen. Dieser eine Mann konnte ein Blutbad unter ihnen anrichten, noch bevor der König von seiner Ankunft erfahren hatte.

Roman behielt in den Augenwinkeln die Wachen im Blick. Er hätte es dem Grafen leichter machen können, aber bei allem was geschehen musste, fühlte er doch einen zornigen Stolz. Dieses Mal noch verlangte er die Achtung, die ihm gebührte, und er würde sie bekommen!

Grund von Zollberg fasste einen Entschluss. „Behaltet Euer Schwert, Fürst Gorderley. Für diesmal trete ich zurück. Folgt mir….bitte!“

Betont langsam wandte er sich um und schritt auf das Tor zu, ohne sich noch einmal umzusehen. Die Stute setzte sich auf einen unsichtbaren Schenkeldruck in Bewegung, während die Wachen dichter aufrückten und eine eng gedrängte Eskorte bildeten.

Roman betrachtete den Rücken des Kommandanten. Graf Zollberg reagierte, wie er es von ihm erwartete. Er stellte seine persönlichen Interessen hinter denen des Reiches zurück. Wenn er mit Melgardon fertig war, würde er sich um diesen Mann kümmern müssen, wenn… Es hatte keinen Sinn, für die Zukunft zu planen.

Er ließ seinen Blick über die Menschenmenge in den Straßen schweifen. Zwei- sogar dreistöckige Häuser säumten den Weg. In den untersten Stockwerken waren meist Geschäfte oder Kontore eingerichtet und die Türen standen weit offen. Überall hielten Fuhrwerke und wurden be- oder entladen. Auf dem Pflaster der breiten Straße mischten sich Abwässer mit verwehten Getreidekörnern, Pferdeäpfeln und Gemüseschalen. Aus einer Färberei spritze ein Schwall braunen Wassers über vorbei schlendernde Fußgänger und die Stute tänzelte erschrocken auf den nassen Steinen. Graf Zollberg ging ungerührt durch das Treiben und bahnte ihnen einen Weg. Ob er wirklich glaubte, mit fünf Wachen einen berittenen Krieger aus Gorderley in Schach halten zu können?

Wohl nicht. Die Eskorte diente eher zur Beruhigung des Volkes als seiner Bewachung. Roman strich seinem Pferd über den glatten Hals. Der Lärm, der unglaubliche Gestank von Exkrementen, die feuchte Luft, all das machte sie übernervös. Wie anders als Fern, immerhin Gorderleys größte Stadt, bot sich die Hauptstadt des Reiches dar, wie wenig königlich! Und sein analytischer Verstand fügte hinzu: Wie unsicher und leicht auszuspionieren. In dieser Menge konnte jeder Agent untertauchen, in den unübersichtlichen Straßenwirren vermochten einige gezielt gelegte Brände mehr Panik verursachen, als jeder offene Angriff. Es musste praktisch unmöglich sein, diese Stadt zu kontrollieren.

Beinahe unmerklich stieg die Straße an und der Trubel des Markttages blieb langsam hinter ihnen zurück. Sie durchquerten ein ausgedehntes Handwerksviertel, in dem ebenfalls geschäftiges Leben herrschte. Im Vorbeireiten nahm er die Auslagen war und kam nicht umhin, die Auswahl und offensichtliche Qualität der Angebote zu bewundern.

Allen Beschreibungen nach, näherten sie sich langsam der Burg. Obwohl er Undidor aus den Berichten seiner Spione kannte, war er beeindruckt von der Ausdehnung der Stadt. Ihre Fläche mochte dreimal die Größe Ferns übertreffen und was die Bewohner anging, so lebten allein hier soviel Menschen wie in allen Städten Gorderleys zusammen.

Schließlich blieb der Stadtkommandant vor einem einstöckigen, strohgedeckten Haus stehen, das in einer Seitengasse zwischen zwei größeren Gebäuden eingezwängt lag, ohne deshalb schäbig zu wirken. Zwei verglaste Fenster und eine Holztür zeigten zur Straße. Grund von Zollberg trat unter das überhängende Strohdach und öffnete die Türe. Wortlos sah er den Fürsten an, der vom Pferd glitt und eintrat. Innen gab es zwei Räume. In dem ersten standen ein Tisch, zwei Stühle und einige leere Regale. Neben dem Kamin war Holz aufgeschichtet. Durch die geöffnete Türe sah man in dem zweiten Raum ein flaches Bett. Eine weitere Türe schien in die Küche zu führen. Alles war unpersönlich und kalt aber sauber, offensichtlich brachte man hin und wieder Gäste der Stadt auf diese Weise unter.

Nach einem kurzen Blick nickte Roman und wollte wieder hinaustreten. Der Graf stellte sich in den Weg. „Ihr werdet hier bleiben, bis der König Euch rufen lässt. Ihr werdet dieses Haus bis dahin nicht verlassen!“ Diesmal, das ging aus seinem Tonfall deutlich hervor, war es ihm ernst. Roman lächelte spöttisch und deutete nach draußen: „Ich nehme an, Ihr werdet mein Pferd versorgen lassen. Es wird Schwierigkeiten geben, wenn ich das der Stute nicht klarmache.“

Grund von Zollberg zögerte nur einen Augenblick. Über dieses Pferd gab es beinahe so viele Legenden wie über den Mann, ohne Befehle seines Herrn würde es wahrscheinlich eher den Stall zertrümmern, als sich bändigen zu lassen. Fasziniert beobachtete er, wie der Gorderley in die schwarze Mähne griff und den Kopf der Stute zu sich zog. Sie schnoberte an seiner Hand und drückte ihre weichen Nüstern gegen seinen Hals. Er kraulte sie eine kurze Zeit zwischen den aufmerksam nach vorn gerichteten Ohren und wies sie leise an, mit den Fremden zu gehen. „Sie werden dich gut behandeln, meine Schöne. Die Brandai verstehen etwas von Pferden.“ Der Abschied fiel ihm beinahe schwerer als alles andere. Sie waren so weit zusammen geritten, dass er sich nicht vorstellen konnte, sie unter einem anderen zu sehen. Aber den Weg, der vor ihm lag, musste er allein gehen. Mit einem letzten Klaps auf den Hals wandte er sich ab und ging in das Haus, den Grafen sah er dabei nicht mehr an.

Der Tag verging, ohne dass der König ihn zu sich bat. Roman hatte es nicht anders erwartet. Er saß auf der Bank am Kamin und beobachtete das Sonnenlicht, das durch das Fenster breite Streifen auf den blankgeputzten Dielenboden warf. Langsam wanderten die Streifen durch das Zimmer bis die Häuser auf der anderen Straßenseite die tief stehende Sonne abdeckten und es dunkel wurde. Er kümmerte sich nicht um die Gesichter, die huschend am Fenster auftauchten, um einen Blick auf den berühmten Besucher zu erhaschen und zwang sich, weder daran zu denken, was geschehen war, noch daran, was ihn erwartete. Stundenlang beobachtete er die Staubkörnchen in der Luft und konzentrierte sich darauf, alle Gefühle hinter sich zu lassen.

Zweimal unterbrach der Eintritt einer Wache seine erzwungene Ruhe, einmal brachte man ihm Brot, Schinken und einen Krug Wasser, das zweite Mal Suppe, Braten, Obst und Wein. Er zündete die Kerzen nicht an, als die Nacht anbrach, sondern saß über Stunden in der Dunkelheit, bevor er sich niederlegte. Lang geübte Disziplin ließ ihn einschlafen, obwohl er keine Müdigkeit verspürte.

Noch vor dem Morgengrauen wurde er wach und erhob sich wieder. Die zweite Türe führte einige Stufen hinab in eine Küche. Es gab einen Ausgang, der wohl auf den Hinterhof führte. Roman vermied es zunächst, überhaupt in die Nähe dieser Türe zu kommen, um die dort mit Sicherheit postierten Wachen nicht zu provozieren, aber auf der Suche nach dem Abort trat er schließlich doch in den Hof. Ein Posten saß auf dem Rand eines kleinen Brunnens und sprang auf. Roman hatte das Aborthäuschen schon erreicht und versuchte den Brandai zu ignorieren. Es war demütigend, aber was blieb ihm anderes übrig?

Wieder im Haus begann erneut das Warten. Auf der Straße erwachte nach und nach das Leben. Karren rumpelten vorbei, verschlafene Stimmern riefen sich Morgengrüße zu, irgendwo bellte ein Hund bis er mit einem Jaulen verstummte. Das trübe Licht der Dämmerung zog in die Gasse und kündete den Morgen. Schritte und gemurmelte Worte vor der Türe zeigten einen Wachwechsel an, Roman registrierte es nur unterbewusst. Eine seltsame Ruhe erfüllte ihn. Nicht dass er bisher unsicher gewesen war, nein, diese Zweifel hatte er bereits überwunden, als er losritt. Aber bis jetzt war noch der Schmerz dagewesen. Zu viele Menschen glaubten an ihn, als dass er sie leichtfertig enttäuschen konnte. Doch nun lag auch das hinter ihm. Es war, als sei er in einen zeitlosen Raum außerhalb der Welt eingetreten, und so wurde er auch nicht ungeduldig, als der Vormittag verstrich, ohne dass etwas geschah.

Endlich näherten sich viele schwere Schritte und es klopfte. Bevor er etwas sagen konnte, öffnete sich die Türe und Grund von Zollberg trat ein. „Der König gewährt Euch eine Audienz in Gegenwart des Rates“, verkündete er formell und bedeutete Roman, voraus zugehen. Es waren diesmal zehn Wachen, die das Geleit ausmachten. Der Graf schritt schweigend an Romans Seite. Die Sonne stand hoch am Himmel und in der feuchten Schwüle der Stadt begrüßte Roman den leichten Wind, der angenehm kühl vom Fluss über die Dächer strich. Er reichte nicht aus, um das Banner des Königs über dem Burgtor flattern zu lassen, aber der Fürst von Gorderley kannte das Wappen des königlichen Geschlechts der Derengolds ohnehin: Die Sanduhr unter den gekreuzten Klingen, das Zeichen dafür, dass ihnen die Königswürde nur auf Zeit gegeben war. Hatten sie die Uhr nur aus Gleichgültigkeit nicht aus dem Wappen entfernt oder stand das Haus Derengold tatsächlich noch zu seinem uralten Eid?

Selbst jetzt registrierte Roman tausend Einzelheiten der Burg, verglich das Gesehene mit seinen bisherigen Informationen und zeichnete das Bild im Kopf nach. Die Befestigungsanlagen waren gewaltig. Selbst wenn es einem Eroberer gelang, die Stadt einzunehmen, schien es schier unmöglich, diese Festung zu stürmen. Hier fand Roman die überlegte Planung, die er in der Stadt vermisst hatte. Wer Burg Telmhorst erbaut hatte, war ein Meister der Kriegskunst gewesen, zumindest im Hinblick auf den Festungsbau. Die zahlreichen Gärten und Innenhöfe waren zweifellos in späteren Zeiten angelegt worden.

Sie durchquerten mehrere hohe Hallen, die mit farbigen Marmorfliesen, bodenbündigen Spiegeln, kostbaren Kristalllüstern und goldbemalten Seidentapeten ausgestattet waren und mit ihrer Pracht und Großzügigkeit den Zweck hatten, Besucher zu beeindrucken. Roman verstand den Sinn dieser Führung durchaus, wenn sie ihre Wirkung auf ihn auch verfehlte – Reichtum galt in Gorderley nur begrenzt als ein Merkmal von Macht. Sie hielten in einem Vorraum vor einer mit Edelsteinen verzierten Doppelflügeltüre. Zwei Krieger in dunkelblauen Westen ohne jede Insignien wichen zur Seite und Grund von Zollberg legte die Hand auf den Türgriff. Nach einem kurzen Moment stieß er beide Flügel auf, trat einen Schritt vor und rief in den Saal: „Fürst Roman von Gorderley.“

Als Roman an ihm vorbeiging neigte er den Kopf und flüsterte: „Wenn Ihr ihm nur ein Haar krümmt, werde ich einen Weg finden, Euch zu töten.“

Mit keiner Miene verriet Roman, dass er die Worte überhaupt gehört hatte. Langsam schritt er auf den Thron zu. Links und rechts standen Ritter in voller Bewaffnung. Zwischen ihnen nahmen sich die unbewaffneten Mitglieder des Rates verloren aus. Mit seinem Eintreten verstummte sofort jedes Gespräch und alle Augen richteten sich auf die einsame Gestalt. Dort ging er, der Erbfeind, der hundertfache Mörder, der Rebell. Doch obwohl es niemanden im Saal gab, der den Namen Gorderley nicht schon verflucht hatte, konnte sich keiner der Aura von Stolz und Würde entziehen, die den Fürsten umgab. Sein gemessener Schritt ließ keinen Gedanken an Unsicherheit aufkommen, und selbst die Gegenwart der Überzahl brandaianischer Krieger schützte die Anwesenden nicht vor einem schnürenden Gefühl der Angst, das sich wie eine lähmende Wolke im Saal ausbreitete.

Als der Fürst die flachen Stufen zum Podest des Thrones erreichte, zucken einige der Würdenträger zusammen, denn er hielt nicht inne und wartete auf ein Zeichen zum Näherkommen, wie es die Hofetikette verlangte, sondern betrat die erste Stufe. König Melgardon von Derengold sah ihm gelassen entgegen. Er empfing den Sohn des Fürsten von Gorderley entgegen dem Rat seiner engsten Freunde und Berater. All ihre Versuche, ihn von einer teuflischen Hinterlist des Gorderley zu warnen, hatte er ignoriert. „Niemals schickt Elder von Gorderley seinen Sohn hierher, um mich vor den Augen des versammelten Rates umzubringen. Damit würde er jede Chance verlieren, ihn rechtmäßig zum König zu machen.“

Aber als Roman von Gorderley so unwahrscheinlich sicher heran kam, beschlich den König Zweifel. War der alte Gorderley so verrückt geworden, seinen Sohn zu opfern? Dass der junge Fürst die Etikette missachtete, wunderte ihn nicht. Obwohl er den Titel nicht trug, stand er durch die verschlungenen Beziehungen der Hohen Häuser in der Erbfolge im gleichen Rang wie Melwyn, war ein Prinz mit dem Anrecht auf den Thron von Brandai, berechtigter als jemals ein Gorderley vor ihm. Elder von Gorderley hatte genau dies geplant, als er Irana Derengold entführte und sie zwang, ihm einen Sohn zu gebären. Aber Melgardon wusste, dass er die Krone über die drei Reiche niemals einem Gorderley überlassen würde. Nicht umsonst gab es das Sprichwort „Es kommt nichts Gutes aus Gorderley.“

Roman stand nun direkt vor der zweiten Stufe.

Die Bewegung war viel zu schnell, als dass jemand reagieren konnte. Plötzlich hatte der Fürst sein Schwert in der Hand und hob den Arm. Für Bruchteile eines Herzschlags traf sein Blick den des Königs. Melgardon bewegte sich nicht, zuckte nicht einmal mit den Lidern. Hinter Roman ertönte ein Wutschrei und Bewegung kam in die Menge der Anwesenden.

Und dann sank der Fürst von Gorderley auf ein Knie, legte sein Schwert vor Melgardons Füßen ab und sagte leise, aber so klar, dass es jeder im Saal vernehmen konnte: „Ich, Roman von Gorderley, gebe mein Schwert, mein Leben und meine Ehre in Eure Hand.“

Absolute Stille hing im Raum. Die meisten glaubten sich verhört zu haben, aber der Fürst kniete mit gesenktem Kopf vor dem König und bot den ungeschützten Nacken dar. Sogar Melgardon hatte es die Sprache verschlagen. Der Gorderley musste wissen, dass ihn der Tod erwartete, wenn er in die Hände des Königs fiel. Warum dieses scheinbar sinnlose Opfer. Was war einfacher, als ihn sofort hinrichten zu lassen?

Der König fühlte die Spannung, mit der seine Antwort erwartet wurde und betrachtete die knieende Gestalt schärfer. „Es kommt nichts Gutes aus Gorderley“, warnte sein Verstand. „Nein“, dachte Melgardon verwundert, „er sieht aus, als wäre ihm jede Entscheidung recht. Bei den Unsterblichen, er wird dort bleiben, selbst wenn ich ihn mit seinem eigenen Schwert enthaupte.“ Viele Probleme ließen sich so buchstäblich auf einen Schlag lösen. Aber gerade die völlige Hingabe des Fürstensohnes ließ den König zögern. War es möglich, dass er es ernst meinte? Das käme einem Verrat an seinem Land gleich, und Verrat war das einzige Verbrechen, das für einen Gorderleykrieger undenkbar war. Andererseits brach ein Gorderley auch niemals einen geleisteten Eid.

Melgardon beugte sich vor und griff nach dem Schwert. „Soviel Blut klebt daran, und nicht wenig davon stammt von Brandai. Kann ich das alles vergessen?, fragte er sich flüchtig, aber sein Entschluss war gefasst. „Ein Schwert, sogar das Schwert von Gorderley ist nur soviel wert, wie der Mann, der es führt. Erhebt Euch, Fürst Gorderley!“ Er reichte ihm die Waffe mit dem Knauf voran. „Euer Leben lasse ich Euch, und nicht einmal meinem ärgsten Feind verweigere ich die Ehre, die ihm zusteht.“

Roman stand in einer weichen Bewegung auf und nahm das Schwert aus der Hand des Königs. Er steckte es jedoch nicht in die Scheide, sondern legte die blanke Klinge in die linke Hand. Fest sah er Melgardon in die Augen. „Dann schwöre ich bei meiner Herrin Eireana und allen Göttern Gorderleys Euch und Eurem Hause Treue und Gehorsam. Euer Wort soll meine Hand führen, Euer Befehl meinen Schritt lenken.“

Der König gab den Blick zurück, aber Roman wich nicht aus. Sein Kniefall hatte allen Anwesenden seine Unterwerfung gezeigt, aber den Treueeid leistete als Fürst, von Geburt und Tat einem der höchsten Häuser Eldorads entstammend. Schließlich nahm Melgardon den Eid mit einem leichten Kopfnicken an und gebot dem Fürsten mit einer Handbewegung, ihm zu folgen.

Hastiges Scharren und Raunen erhob sich, als er einem der angrenzenden Beratungsräume zustrebte und dem Gorderley den Rücken zuwandte. Einige Ritter und Grund von Zollberg eilten hinterher, aber Melgardon wies sie zurück. Graf Zollberg zögerte. Beinahe gequält warf er einen Blick auf auf den Fürsten und wollte protestieren, aber der König schnitt ihm das Wort ab: „Ich danke Euch für Eure Besorgnis, Graf. Aber ich bin in Anwesenheit des Fürsten Gorderley vollkommen sicher. Bitte wartet draußen.“

Das Zimmer zeigte mit einem breiten Fenster auf einen Garten und Melgardon schaute eine Weile schweigend hinaus, nachdem sich die Türe hinter dem Fürsten geschlossen hatte. Die Worte des Treueeides klangen ihm noch in den Ohren: Euch und Eurem Haus. Damit verzichtete der junge Fürst für alle Zeiten auf den Thron. Es war praktisch eine Anerkennung von Melwyn als Kronprinz. Wenn er, Melgardon, starb, würde der Schwur Melwyn gelten und jedem anderen Derengold nach ihm. Der König wusste, dass ein Eid in Gorderley eine viel weitreichendere Bedeutung hatte, als ein Brandai sich vorstellen konnte, und ein Eid im Namen eines Gottes, auch wenn eine Göttin Eireana in Brandai unbekannt war, wirkte immer verbindlich. Nach Melgardons Kenntnis gab es keine Möglichkeit diesen Eid zu brechen, ohne Ehre und Leben zu verlieren.

„Fürst Gorderley“

„Ja Herr?“

Mit einem Ruck fuhr Melgardon herum. Roman war neben der Türe stehen geblieben und wartete. Herr, der König bewahrte mit Mühe die Fassung. Der Wechsel im Verhalten des Fürsten war zu radikal, aber er begriff, dass es immer so sein würde: Stolze Höflichkeit in der Anwesenheit anderer, demütige Ergebenheit, wenn sie allein waren.

Melgardon räusperte sich, bevor er fortfuhr: „Könnt Ihr mir erklären, wie es zu diesem plötzlichen Stimmungsumschwung gekommen ist?“

Der Fürst antwortete nicht sofort. Für einen Augenblick schien sein Blick sich nach innen zu wenden, dann straffte er sich. „Herr, wenn Ihr gestattet, möchte ich ...nicht darüber sprechen.“

Es fiel ihm offensichtlich schwer, die Bitte zu äußern, obwohl er geahnt haben musste, dass der König diese Frage stellen würde. Melgardon fühlte, dass der Gorderley sie nicht wiederholen würde; wenn er auf eine Antwort bestand, würde er sie bekommen. Die plötzliche Macht über den jahrelang immer wieder triumphierenden Feind kam ihm so unwirklich vor, dass er kaum widerstehen konnte. Er wollte wissen, was der Grund für diese glückliche Wendung war. Doch als er sprach, war seiner Stimme von diesen Gedanken nichts anzumerken. „Nun gut. Es soll Eure Entscheidung bleiben.“ Der Fürst atmete auf und auch das sah Melgardon. Der Gorderley machte offensichtlich nicht einmal den Versuch, etwas vor ihm zu verbergen, weder Gedanken noch Gefühle.

„Wird es jetzt einen Frieden geben?“, fragte König Melgardon ruhig.

„Meine Anwesenheit in Brandai hat nichts mit der Politik Gorderleys zu tun.“

Der König hätte viel dagegen einzuwenden gewusst. Wenn der zweitmächtigste Mann des Fürstentums die Fronten wechselte, steckte mehr als Politik dahinter. Und Roman von Gorderley wusste das ebenfalls.

Aber Melgardon fragte nicht weiter. Es gab manches zu klären, aber das konnte die Zeit bringen. Dennoch brachte er es nicht fertig, den Fürsten einfach gehen zu lassen. „Ihr werdet Elder von Gorderley fehlen. Vielleicht gibt es doch einen Frieden?“

Roman schüttelte den Kopf. „Es wird Krieg geben. Nicht in diesem Winter, aber danach, spätestens in zwei Jahren. In Gorderley gibt es mehr als einen Anführer.“

Jedes seiner Worte war Hochverrat und kostetet Roman Überwindung. Er zwang sich selbst zu eisiger Kälte, um jedes Gefühl abzutöten, und ergänzte: „Der Fürst wird, wenn er von....von mir erfährt, selbst in die nächste Schlacht reiten.“ Das Wort „Verrat“ brachte er doch nicht über die Lippen, obwohl es in ihm brannte wie Feuer.

Melgardon atmete tief durch. Die Antwort des Fürsten klärte einige ungestellte Fragen, warf aber sofort neue auf. Er war offenbar aus eigener Entscheidung in Brandai. Hatte es ein Zerwürfnis gegeben zwischen ihm und Elder von Gorderley? Es fiel auf, dass er niemals von seinem Vater sprach, sondern nur den Titel erwähnte. Oder war das in Gorderley normal? Die Gehorsamspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern im Fürstentum war legendär, es war undenkbar, dass sich der Sohn gegen den Vater auflehnte. Noch einmal riss sich Melgardon zusammen und verschluckte die erneute Frage, was Roman von Gorderley zum Bruch mit allen Traditionen veranlasst haben mochte und sah sinnend den jungen Fürsten an.

Elder von Gorderley hatte in den letzten Jahren die Führung der direkten Kampfhandlungen seinem Sohn überlassen, der dem genialen Vater kaum nachstand. Wenn ein neuer Krieg drohte, mochte es gut sein, den besten Mann des Gegners auf der eigenen Seite zu haben.

Der König beschloss, für den Tag genug zum Nachdenken gehört zu haben. „Fürst Gorderley, ich betrachte Euch als meinen Gast in Undidor. Es ist Euch freigestellt, wo Ihr Eure Unterkunft sucht, Ihr könnt auch in dem Haus bleiben, in dem Ihr heute genächtigt habt. Ohne mein persönliches Einverständnis werdet Ihr Undidor jedoch nicht verlassen. Und ich würde es begrüßen, wenn Ihr Händel mit meinen Rittern vermeidet.“ Melgardon wartete das leichte Nicken des Fürsten nicht ab und rief laut nach der Wache. Etwas zu schnell wurde die Türe aufgerissen. Grund von Zollberg schien eher überrascht als erfreut, dass er den König unversehrt fand.

„Begleitet den Fürsten zu seiner Unterkunft und bringt ihm sein Gepäck. Er ist mein Gast, sorgt dafür, dass er alles bekommt, was er wünscht. Außerdem erwarte ich, dass er nicht belästigt wird“, die Schärfe in Melgardons Worten legte nahe, dass er noch einiges an Schwierigkeiten durch die Anwesenheit des Gorderleys erwartete. Graf Zollberg schluckte und kämpfte kurzzeitig um seine Beherrschung, aber er unterdrückte jeden Widerspruch. „Wie Ihr befehlt, mein König.“

Als er an der Seite des Grafen durch die Straßen schritt, fühlte sich Roman lebendig wie nie zuvor. Natürlich hatte er auch der Möglichkeit, dass Melgardon ihn nicht sofort hinrichten lassen würde gewissen Chancen eingeräumt – der Ruf des Königs gab Anlass für solche Spekulation. Aber im Innersten seines Herzens hatte er nicht erwartet, noch einmal ohne Ketten das Sonnenlicht zu sehen. Beinahe gierig atmete er die feuchte, von zahlreichen Gerüchen geschwängerte Luft, spürte die Nachmittagswärme auf der Haut und vernahm mit unheimlicher Schärfe die Stimmen der Menschen, das Knarren der Wagenräder, das Klopfen und Hämmern aus den Werkstätten in den Gassen.

Er lebte.

Sein Tod hätte es leicht gemacht und ihn der Verantwortung enthoben. Dies war der schwerere Weg. Alles würde anders sein. Er hatte keine Illusionen über die Gefühle, die ihm von Brandais Rittern entgegen gebracht wurden. Sie hassten ihn und wollten ihn verachten, aber weil sie das nicht konnten, hassten sie ihn um so mehr. Er besaß hier nichts von dem, was sein Leben bisher bestimmt hatte: Stellung, Macht, Loyalität von Untergebenen, nicht einmal eine Aufgabe. Unbewusst tastete er nach dem flachen Amulett, das unter dem Kettenhemd kühl auf seiner Brust lag.

Er lebte. Vielleicht ließ sich noch ein Teil der Schuld abtragen.

Eldorad

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