Читать книгу Eldorad - Petra Heinen - Страница 6
Curfeld
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Der Fürst schloss die Türe hinter dem Boten und blieb regungslos stehen. Es war soweit: Der König ließ ihn rufen. Nun würde der Verrat sich vollenden, mit seinem Wissen gab er Gorderley preis. Sein Gorderley, das Land, das er mehr liebte als sein Leben. Aber sein Leben war nicht genug gewesen, nun wurde ein höherer Preis eingetrieben. Er horchte in sich hinein, aber es gab keine Trauer mehr. Vielleicht war es gut, dass Melgardon sich fast vier Wochen Zeit gelassen hatte, jetzt war Roman beinahe erleichtert, das Unvermeidliche hinter sich zu bringen.
Als er wenige Stunden später den Beratungsraum des Königs betrat, standen dort schon mehrere Männer und unterhielten sich leise, aber die Gespräche verstummten sofort und alle Blicke wandten sich dem Fürsten zu. Roman durchquerte den Raum und sank vor König Melgardon auf ein Knie. „Mein König, Ihr habt mich rufen lassen.“
Der König gebot ihm, sich zu erheben und begann ohne Umschweife: „Fürst Gorderley, Ihr wisst, weshalb ich Euch bitten ließ. Bevor wir beginnen, möchte ich Euch meine Ratgeber vorstellen.“
Erst jetzt richtete der Fürst seinen Blick auf die Anwesenden. Natürlich hätte er ein Gespräch mit dem König allein vorgezogen, aber das konnte er nicht erwarten, schon gar nicht bei diesem König, der dem Rat der Adligen von Brandai so viele Rechte zubilligte.
Er sah Grund von Zollberg, natürlich war der Kommandant der Stadt anwesend, wahrscheinlich der beste Mann des Reiches, wenn es um organisatorische Fragen ging. Neben ihm stand ein älterer Ritter, Graf Wolf Herbegen. Roman kannte den Namen, wenn er ihm auch noch nie begegnet war. Er war, wie der nächste Vorgestellte, Graf Fran von Hochfels, einer von Melgardons Heerführern, die schon unter König Jasper für das Reich gegen Gorderley gekämpft hatten. Von diesen beiden konnte er nichts Gutes erwarten, nur mit offensichtlicher Mühe grüßten sie den Fürsten und machten aus ihrer Ablehnung keinen Hehl. Der Waffenmeister Galen stand neben einem Tisch mit Pergamentrollen, selbstverständlich war der beste Krieger Brandais dabei. Zwei weitere Berater wurden ihm vorgestellt, Semper Figard, der Schatzmeister und Balthasar von Wiesenschön, ein Name, den Roman noch nie gehört hatte, dann wandte sich der König an den letzten Mann, der unauffällig im Hintergrund verblieben war.
„Gunter von Curfeld kennt Ihr bereits, soweit ich weiß.“
Curfeld deutete eine Verbeugung an: „Ich grüße Euch, Fürst Gorderley.“ Roman musterte den hochgewachsenen Ritter, deutlich der jüngste der Berater des Königs. Natürlich erinnerte er sich. „Ich freue mich, dass Ihr den Rückweg nach Brandai gefunden habt“, antwortete er ruhig. Die anderen Ratsmitglieder blickten sich verwirrt an, offenbar war dieser Teil aus Curfelds Vergangenheit nicht allgemein bekannt. „Was soll das heißen?“, fragte Graf Herbergen aggressiv. „Das heißt“, antwortete Curfeld, ohne den Fürsten aus den Augen zu lassen, „dass ich dem Fürsten von Gorderley mein Leben verdanke.“ Im Gesicht des Brandai war nicht zu lesen, was er empfand, aber er schien seinen Worten keine weitere Erklärung hinzufügen zu wollen.
Der König deutete auf den Kartentisch. „Meine Herren, wir sollten beginnen. Setzten wir uns. Fürst Gorderley, es gibt eine Reihe von Fragen, auf die wir uns Antwort erhoffen.“
Sie setzten sich um den Tisch und für einen Moment hing Schweigen im Raum. Auch Melgardon konnte immer noch nicht glauben, dass es so einfach war. Er räusperte sich. „Gut. Fürst Gorderley, könnt Ihr uns Angaben über die Größe Eures Heeres machen?“
„Gorderley besaß zum Zeitpunkt meiner Abreise ein stehendes Heer von 5400 Kriegern, davon etwa 1600 Ritter mit ihren Knappen in unterschiedlichem Ausbildungsstand und etwa 3500 Krieger niederer Ränge. Bei Bedarf können weitere 600 ausgebildete Ritter innerhalb von zwei Wochen an jeden beliebigen Grenzort zusammengerufen werden, mit ihren Knappen und den einfachen Kriegern ergibt das eine zusätzliche Stärke von etwa 3000 Kämpfern. Dazu kommen die Söldnertruppen..“
„Söldner, Gorderley wirbt Söldner an?“, unterbrach ihn Graf Hochfels ungläubig. Roman würdigte ihn kaum eines Blickes und vollendete die Aufzählung: „Söldnertruppen, die noch einmal 2000 Mann stark sind.“
„Wie könnt Ihr ein solches Herr versorgen?“, fragte Curfeld. Und Roman antwortete und beschrieb die Transportwege, die Nahrungsmitteldepots, die Nachrichtenketten, die Spiegelstationen, die Waffenstärke, die Ausrüstung. König Melgardon mischte sich kaum in die Fragerunde ein. Galen fragte bedächtig und höflich aber sehr genau nach der Ausrüstung der Krieger und der Qualität der Waffen, insbesondere der gordischen Schwerter. „Werdet Ihr uns das Geheimnis der Klingen aus Gorderley verraten?“
Der Fürst schüttelte den Kopf. „Es gibt kein Geheimnis.“
„Ich wusste, dass er es nicht ernst meint mit seiner Offenherzigkeit“, giftete Graf Herbegen dazwischen, „oder wie wollt Ihr die Tatsache erklären, dass ein Gorderleyschwert nicht stumpf wird wie jede normale Waffe.“ Der Waffenmeister runzelte die Stirn über die Einmischung des Grafen, aber bevor er etwas sagen konnte, antwortete Roman so ungerührt, als hätte er die Beleidigung nicht gehört: „Es ist gute Handwerkskunst, die unsere Waffen so stark machen. Ein Schmied lernt zwölf Jahre bei einem Meisterschmied. Dann hat er ein Jahr Zeit, selbst ein Meisterschwert anzufertigen. Wenn es vom Zünfterat angenommen wird, darf er sich Schmied nennen, sonst kann er es drei Jahre später ein zweites Mal versuchen. Ein gordischer Schmied weiß was er tut.“
Neue Fragen erhoben sich und auf keine blieb Roman eine Antwort schuldig. Herbegen und Hochfels rissen nach einer Weile die Initiative an sich und begannen die Strategien vergangener Kämpfe zu hinterfragen: „Und woher wusstet Ihr das…, warum habt Ihr so entschieden, hättet Ihr nicht.…?“ Obwohl die Grafen immer heftiger diskutierten, blieben die Erwiderungen des Fürsten kühl und sachlich. Der König seufzte innerlich. Seine beiden Heerführer gehörten den einflussreichsten Häusern Brandais an. Sie stellten einen großen Teil der Ritter für Brandais Truppen, aber wenn er den jungen Fürsten ansah, die Klarheit seiner Aussagen hörte, die Sachlichkeit seiner Analysen und nicht zuletzt die meisterhafte Selbstbeherrschung gegenüber den offenen und versteckten Spitzen der Fragenden bewundern musste, dann fiel ein Vergleich sehr zugunsten des Gorderley aus. Selbst wenn Roman von Gorderley dem Fürstentum nicht mehr diente, wieviele seines Schlages konnte sein Vater, Elder von Gorderley, aufbieten und gegen Brandai werfen? Melgardon räusperte sich und warf Curfeld einen strengen Blick zu. „Ich denke, wir sollten uns wieder den allgemeineren Fragen zuwenden. Curfeld, es gab doch noch weitere offene Punkte...“
Im Laufe der Zeit entspann sich dann mehr und mehr ein Gespräch zwischen Curfeld und dem Fürsten, der ohne Anzeichen von Müdigkeit selbst über scheinbar kleinste Nebensächlichkeiten genau Bescheid wusste, ob es die Menge der Hufeisen für die Versorgung der Pferde war, der Verbrauch an Leinen für die Wundversorgung oder die genaue Anzahl von Toten und Verletzten bei vergangenen Kampfhandlungen, selbst wenn sie schon Jahre zurücklagen. Curfeld war der einzige der Anwesenden, der sich Notizen machte. „Ihr sagt, das Eure Truppen innerhalb eines Tages verlegt werden können, wie stellt Ihr sicher, dass sie danach noch kampffähig sind?“
„Was meint Ihr damit?“, der Fürst runzelte die Stirn. Curfeld sah auf seine Notizen. „Ihr habt gesagt, dass Tagesfußmärsche von 30 Meilen üblich seien, wie lange Pausen kalkuliert Ihr ein?“
Roman unterdrückte ein ironisches Lächeln. „Ein Krieger aus Gorderley ist jederzeit bereit zum Kampf. Dafür ist er ausgebildet. Ihr solltet es wissen.“ Nur für einen Moment kam Curfeld aus dem Konzept, bevor er, ohne die Anspielung zu beachten, fortfuhr: „Aha. Aber essen tun sie schon dabei, kommen wir zur also Feldversorgung.....“ Es vergingen Stunden.
Irgendwann stand der König auf. „Meine Herren, ich denke, wir haben genug gehört für den Anfang. Ich danke Euch, Fürst Gorderley.“
Semper Figard schüttelte den Kopf. „Und woher wissen wir, ob das Ganze wahr ist? Es ist immerhin ein Gorderley, der uns all das erzählt hat, vielleicht ist das ein abgekartetes Spiel, um uns in eine Falle zu locken.“
„Es ist wahr, weil ich es sage!“ Zum ersten Mal hob der Fürst die Stimme. Sein Blick hätte Wasser zu Eis gefrieren lassen und Figard wich ihm aus und blickte hilfesuchend zum König, doch Melgardon nickte. „Der Fürst hat mein volles Vertrauen.“
Herbegen und Hochfels wollten etwas sagen, aber der Einspruch des Königs hielt sie zurück. Nach einem Moment des Schweigens wandte sich Herbegen an den Waffenmeister. „Galen, Ihr habt lange genug in Gorderley gelebt. Stimmt Ihr mit dem König überein?“
Galen richtete sich auf. „Meine Erfahrung in Gorderley beschränkt sich, wie Ihr wisst, auf ein Verlies und eine Arena. Aber ich habe einen Verstand und Ohren. Was wir heute gehört haben, geht über alles hinaus, was sich jemand zurechtgelegt haben kann. Denkt nach, habt Ihr auf irgendeine Frage keine Antwort bekommen? Nein, ich glaube nicht, dass es eine Falle ist.“ Er sah den Fürsten direkt an. „Ich kenne die Beweggründe des Fürsten nicht, aber an seinen Angaben habe ich keinen Zweifel.“
Der König beendete die Debatte: „Fürst Gorderley, nochmals meinen Dank. Bitte haltet Euch zur Verfügung.“
Roman verließ den Raum. Als er die Türe schloss, hört er Fran von Hochfels‘ Stimme: „Was ist denn das für eine Geschichte mit Eurem Leben in Gorderley, Curfeld? Lasst uns bei einem Kelch Wein davon hören, wenn‘s Recht ist.“
Langsam ging er durch die Hallen und Gänge der Burg. Er fühlte sich leer. Diesen Männern hatte er nun Gorderley ausgeliefert. Roman fragte sich, ob die Brandai selbst mit seiner Hilfe in der Lage sein würden, das Fürstentum zu schlagen. Nicht mit Anführern wie Herbegen und Hochfels jedenfalls. Curfeld war eine Hoffnung, und der Waffenmeister konnte zumindest kämpfen. Semper Figard schien nicht dumm, wenn auch unhöflich und misstrauisch. Wiesenschön war schwer einzuschätzen. Der Ritter hatte scheinbar phlegmatisch am Tisch gesessen und kein einziges Mal das Wort ergriffen, aber er hatte wachsam allen Gesprächen gelauscht.
Was würde Curfeld ihnen wohl erzählen?
Es war fast zwei Jahre her, am Vorabend der Schlacht bei Langweiler.
Curfeld ritt schnell und konzentriert. Die letzte Besprechung mit dem König hatte länger als geplant gedauert und es würde dämmern, bis er das Feldlager erreichte. Dennoch würde genug Zeit bleiben, die Befehle Melgardons umzusetzen. Endlich war der Zeitpunkt gekommen, Gorderley in seine Schranken zu weisen. Der König befand sich mit einer kleineren Einheit bei der Furt von Oblaag, wo die Brandai seit Tagen Truppenbewegungen vortäuschten, um den Feind von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Und der Plan schien aufzugehen, Kundschafter hatten das Heer Gorderleys im Westen gesichtet, nahe der Furt aber über 20 Meilen von Langweiler entfernt, wo das Hauptheer Brandais in Stellung lag und nur darauf wartete, den Ort einzunehmen und damit die Kontrolle über den Pass zum Hochland zu erobern. Curfeld ritt mit den letzten Befehlen des Königs zurück nach Langweiler.
Als er den See erreichte, ließ er das Pferd eine Weile im Schritt gehen und ausruhen. Lag es daran, dass er den Landstrich so gut kannte und deshalb keine Gefahr vermutete, oder war er müde von den letzten Botenritten und den langen Diskussionen über die Vorgehensweise in der kommenden Schlacht – als plötzlich eine Gestalt den Weg blockierte, war er nicht auf einen Überfall gefasst. Es war ein Junge, nicht älter als 15 Jahre und er trug ein Schwert an der Seite. So weit hinter der Grenze nahm Curfeld ihn nicht ernst, auch wenn es sich nur um einen Gorderley handeln konnte.
„Was soll der Unsinn?“, rief er ärgerlich und wollte das Pferd antreiben, aber im gleichen Moment schwirrte etwas durch die Luft und eine Schlinge legte sich um seinen Oberkörper. „Hey“, er stockte, denn plötzlich ging alles blitzschnell. Ein Ruck zerrte ihn aus dem Sattel und als er auf dem Boden aufschlug, wurden seine Arme hinter dem Rücken hoch gerissen. Noch immer wollte Curfeld nicht glauben, dass er in Gefahr war und richtete sich wütend auf, aber im nächsten Moment traf ihn ein Tritt in den Rücken und er fiel auf sein Gesicht. Jemand setzte sich auf ihn und er spürte, wie seine Hände gefesselt wurden. Dann fielen die ersten Worte, er verstand sie nicht, aber plötzlich war das Gewicht auf seinem Rücken fort. Mühsam kam er auf die Knie und sah drei Knaben um sein Pferd stehen. Einer hatte die Satteltaschen geöffnet und hielt nun die Pergamentrolle mit den Passwörtern in der Hand. Curfeld sprang auf: „Ihr verdammten Bengel, lasst eure Finger davon! Was macht ihr überhaupt hier, mitten in Brandai. Ihr solltet zusehen, dass ihr nach Hause kommt!“ Er stolperte und verlor mit den gefesselten Händen beinahe das Gleichgewicht.
Die drei Jungen blickten ihn kurz an und wechselten dann einige Worte untereinander. Es war schier unglaublich, wie sie ihn ignorierten. Curfeld spürte einen Zug im Rücken und erkannte, dass das Lasso, das seinen Oberkörper band, irgendwo befestigt war und ihn zurückhielt.
Einer der Jungen wandte sich schließlich um und musterte ihn eine Weile schweigend. „Ich bin Fabian Lohgassen, Knappe des Herrn Jul“, die Worte kamen in klarem Brando mit dem unverkennbaren harten Zungenschlag aus Gorderley, „ich hätte Euch lieber mit der Klinge bezwungen, aber wie es aussieht, seid Ihr zu wichtig, um durch mein Schwert zu sterben.“ Plötzlich kam Curfeld die Situation nicht mehr komisch vor. Der Junge sprach nicht wie ein Junge. Er sprach wie jemand, der genau wusste, was er wollte und war. Auf ein Zeichen Fabians kam einer der anderen Jungen, nahm ihm sein Schwert ab und durchsuchte seine Kleidung nach weiteren Waffen. Curfeld blieb nichts anderes übrig, als es geschehen zu lassen. „Ihr werdet sicher verstehen, dass wir Euch den Mund verschließen müssen“, sagte der Anführer der Gorderleyknappen höflich, und deutete auf ein Bündel Stoff in seiner Hand. Curfeld musste beinahe über die groteske Situation lachen, aber dann begriff er, dass die Jungen darauf warteten, dass er den Mund öffnete, um den Knebel hinein zuschieben. Er schluckte, denn ihm war klar, dass die drei ihn mühelos mit Gewalt knebeln konnten, die zurückhaltende Höflichkeit war absurd! „Wenn ich bitten darf?“ Fabian trat näher und schien keinen Zweifel zu haben, dass sein Gefangener gehorchen würde. Curfeld räusperte sich. „Natürlich, wie es Euch beliebt“, sagte er liebenswürdig und öffnete den Mund.
Nachdem die Knappen ihn so sicher geknebelt hatten, dass er kaum noch atmen konnte, verbanden sie ihm auch die Augen und fesselten ihn zum Schluss an seinen Sattel.
Zunächst ahnte er noch, wohin sie ritten, denn auch ohne Sicht kannte er hier im Grenzgebiet jeden Pfad, aber schon bald verlor er die Orientierung und hatte Mühe, sich mit den gebundenen Händen im Sattel zu halten. Nach mehreren Stunden, sie mussten längst auf gordischem Boden sein, hielten sie das erste Mal an. Curfeld hörte verschiedene Stimmen, konnte aber nichts verstehen. Jemand trat an sein Pferd und hielt offenbar eine Fackel hoch. Mit gespannten Muskeln wartete er, was geschehen würde, aber es gab nur einen plötzlichen Ruck, als der Ritt weiterging. Sie hatten wohl einen Wachposten passiert. Der Boden wurde fester, so dass sich Curfeld leichter im Sattel halten konnte, dennoch scheuerten die Fesseln immer schmerzhafter und der Knebel im Mund saugte ihm den Speichel auf. Ein trockener Husten stieg in seiner Kehle auf, den er nur mühsam beherrschen konnte.
Endlich, es war bereits später Abend, erreichten sie ein Lager. Curfeld roch die Feuer, hörte das Gemurmel vieler Stimmen und Geräusche, die auf eine große Menge Menschen hinwies. Noch während er aus den Eindrücken versuchte, irgendeine Orientierung abzuleiten, hielten sie an. Die Gorderleyknappen wurden laut und aufgeregt begrüßt und erzählten von ihrem Abenteuer im Feindesland. Curfeld verstand nur Wortfetzen, aber im nächsten Moment trat jemand an sein Pferd, zerschnitt die Stricke und zog ihn hinab. Sarkastisch dachte Curfeld, dass er am heutigen Tag ein wenig zu oft zu Boden ging, als er auch schon schmerzhaft aufschlug. Dennoch versuchte er sofort auf die Beine zu kommen: Solange er noch dazu in der Lage war, würde er nicht vor seinen Feinden kriechen! Erstaunlicherweise hinderten sie ihn nicht, stießen ihn aber dann unsanft vorwärts. Unsicher taumelte er durch das Lager bis man ihn festhielt und in die Knie zwang, diesmal gab es keine Möglichkeit sich zu wehren. Links und rechts spürte Curfeld die geharnischten Beine von Gorderleykriegern, die ihn unmissverständlich nieder drückten.
Es gab erneute leise Wortwechsel, dann feste Schritte und eine ruhige Stimme, die auf Gordisch seine Bewachter befragte. Nach ein paar Sekunden des Schweigens hörte er in akzentfreiem Brando: „Bringt ihn in mein Zelt. Jul?“ Eine Bewegung neben ihm deutete an, dass jemand vorgetreten war. „Euer Knappe hat ein Lob verdient.“
Curfeld schaffte es, auf die Füße zu kommen, bevor ein Stoß ihn dazu aufforderte und stolperte vorwärts. Er fühlte Teppich unter den Füßen und die Lagergeräusche klangen nur noch gedämpft. Unsanft schob man ihn weiter, dann wurde er auf einen harten Stuhl mit hoher Lehne gepresst. Nur für Sekunden spürte er Erleichterung, als seine Hände von ihren Fesseln befreit wurden, doch schon im nächsten Moment schlangen sich neue Riemen um seine Gelenke und fixierten sie unverrückbar an den Armlehnen. Weitere Lederriemen banden seine Oberarme, Füße, und Beine, ein breiter Gurt um die Taille presste ihn gegen die Lehne.
Curfeld wehrte sich nicht, er versuchte nur unauffällig, durch ein Anspannen der Muskeln die Fesselung etwas zu lockern, aber selbst diese Bewegung wurde bemerkt und die Riemen nachgezogen, erstaunlicherweise fest aber nicht einschneidend, wie Curfeld als Antwort auf seinen kümmerlichen Versuch erwartet hatte. Alles geschah schweigend. Erst als er nur noch den Kopf und die Finger bewegen konnte, ließen die Hände von ihm ab.
„Nimm ihm die Binde ab.“ Die Stimme erklang erneut auf Brando und im nächsten Moment konnte er endlich sehen. Auch der Knebel wurde gelöst. Curfeld hustete und schluckte ein paar Mal, während er seine Umgebung wahrnahm. Er befand sich im hinteren Teil eines großen Zeltes. Seitlich war eine Pritsche mit Felldecken zu erkennen, weiter vorn einen Holztisch. Teppiche bedeckten den Boden und von einer Kette hing ein geschlossenes Gestell, in der ein kleines Feuer brannte. Curfeld hatte von solchen Hausfackeln gehört, aber gedacht, dass es sich um magische Gerätschaften handeln müsse und vergaß vor Neugierde beinahe, wo er sich befand.
„Mir scheint, unser Gast hat noch nie eine Lampe gesehen“, die Stimme klang belustigt und nun trat eine hochgewachsene Gestalt in Curfelds Blickfeld.
Der Gorderley trug keinerlei offensichtliche Kennzeichen seines Standes, aber Curfeld wusste sofort, um wen es sich handelte - die unbestreitbare Autorität ließen keinen anderen Schluss zu. Er sammelte sämtliche Feuchtigkeit in seinem trockenen Mund. „Fürst von Gorderley, nehme ich an?“, die Worte kamen krächzend heraus. Der Fürst betrachtete ihn einen Moment und es zuckte um seine Mundwinkel als er antwortete: „Das stimmt. Und mit wem habe ich das Vergnügen?“
Curfeld hatte wie schon beim Überfall durch die Knappen das Gefühl einer gänzlich unwirklichen Situation. Er befand sich in Lebensgefahr, sein Tod war nur noch eine Frage der Zeit und vielleicht seiner Nützlichkeit, aber es wollte sich keine Angst einstellen. Der Fürst war höflich, beinahe freundlich und wäre er selbst nicht bis zur Bewegungslosigkeit gefesselt, hätte er sich kaum weniger als Gefangener fühlen können. „Curfeld, Gunter von Curfeld.“ Er war sich nicht sicher, ob es klug war, seinen Namen zu nennen, aber irgendwie wollte er auch nicht namenlos in diesem Zelt sterben. Der Fürst lächelte. Curfeld schoss durch den Kopf, dass er vom ersten Moment an nicht anders konnte, als den Gorderley so zu nennen, obwohl man in Brandai kaum seinen Namen, noch weniger den Titel aussprach. Gorderleybastard, Rebellenhund, Verräter, Mörder, das waren die Namen, die man Roman von Gorderley gab, aber es war schlicht unmöglich, den Mann vor ihm mit diesen Wörtern in Verbindung zu bringen. Roman von Gorderley verkörperte seinen Herrschertitel mit solcher Selbstverständlichkeit, dass Curfeld sich zwingen musste, in ihm den Erbfeind zu sehen, der er war.
„Melgardons Adjudant“, stellte der Fürst fest und schüttelte den Kopf, „Ihr braucht es nicht zuzugeben. Dazu kommen wir später.“ So wie er es sagte, war es nicht einmal eine Drohung. Auf seinen Wink trat ein junger Mann vor und hielt Curfeld eine Wasserflasche an die Lippen. Er hatte entsetzlichen Durst, wehrte aber ab, aus Sorge vor einem Rauschmittel, das man ihm einflößen könnte.
Der Knappe – das war er wohl – warf dem Fürsten einen fragenden Blick zu, setzte die Flasche ab und wollte sich abwenden. Jetzt kommt es, dachte Curfeld, die Zeit der Freundlichkeiten ist vorbei, doch Roman von Gorderley hielt den Jungen zurück und erklärte spöttisch: „Es ist nicht vergiftet, Herr von Curfeld, Ihr könnt unbesorgt davon trinken.“ Er griff die Flasche und nahm einen großen Schluck, bevor er sie dem Knappen zurück reichte.
Beschämt ließ sich Curfeld die Flasche erneut an den Mund setzen und schluckte. Es kostete ihn alle Beherrschung, danach nicht gierig zu saugen, aber er zwang sich langsam weiter zu trinken und hörte sofort auf, als der Knappe Anstalten machte, die Flasche abzusetzen.
„Danke“, sagte er schließlich. Der Fürst nickte. Er hielt jetzt die Pergamentrollen mit den Marschbefehlen in der Hand. Zum Glück waren alle Angaben kompliziert verschlüsselt. Nachdenklich blätterte er die Bögen durch und sah dann auf. „Es wäre für uns alle einfacher und schneller, wenn Ihr mir freiwillig sagtet, was in diesen Papieren steht.“
Curfeld schwieg und der Fürst lächelte, als hätte er es nicht anders erwartet. „Euer Stolz ehrt Euch, aber er wird nichts nützen. Ihr wisst natürlich, dass wir Euch auf jeden Fall zum Reden bringen werden.“ Es klang nicht einmal unfreundlich, aber Curfeld verstand die Drohung. Auch in Brandai folterte man manchmal Gefangene, um notwendige Informationen von ihnen zu erhalten, allerdings starben die wenigen gordischen Gefangenen in der Regel, bevor man sie zum reden brachte. Der König hielt nicht viel von erpressten Geständnissen, so dass die Praxis in Undidor selten geworden war. „Ich ziehe es vor, zu sterben“, antwortete Curfeld so fest er konnte. Dieser Feldzug würde nicht scheitern, weil er sein Land verriet, und wenn sie ihm die Glieder ausrissen oder.… er wollte sich nicht vorstellen, was man in einer improvisierten Folterkammer mit ihm anstellen konnte.
„Oh, ja, daran zweifle ich nicht.“ Der Fürst schien weder überrascht noch verärgert, „glaubt mir, Curfeld, JEDER möchte am Ende lieber sterben, aber Ihr werdet nicht sterben. Nicht bevor Ihr mir alles über diese Pläne gesagt habt. Und das werdet Ihr.“
Er wandte sich an den Knappen: „Julian, bitte Herrn Fagallen zu mir, mit seiner Ausrüstung. Zügig!“ Mit einer angedeuteten Verbeugung verließ der Knappe das Zelt.
Curfeld spürte sein Herz klopfen. Es gab in Brandai wenig Wissen über das benachbarte Fürstentum, aber um so mehr Vermutungen und Legenden. Fürst Elder von Gorderley sollte an seinem Hof einen grausamen Meister der Folter haben, hieß es. Niemand hatte ihm je widerstehen können… andererseits, fiel Curfeld jetzt auf, woher wollte man das eigentlich wissen, da es keine Zeugen gab, die je aus gordischer Gefangenschaft zurückgekommen waren. Konnte es sein, dass die Gorderley gezielt Gerüchte im Reich ausstreuten?
Er schnaufte unwillkürlich als ihm klar wurde, dass er kaum Gelegenheit haben würde, dem Verdacht nachzugehen, gefoltert oder nicht, es sah nicht danach aus, als ob er von hier entkommen konnte. Die morgige Schlacht würde zu spät entschieden sein, um ihn noch zu retten.
Als den Kopf hob, traf er den forschenden Blick des Fürsten. Dieser Mann hatte so wenig Ähnlichkeit mit dem teuflischen Mörder, als der er in den Köpfen der Brandai lebte, dass Curfeld nicht in der Lage war, Hass aufzubringen. Der Gorderley wirkte so ...., er strahlte eine natürliche Autorität aus, die Curfeld an seinen König erinnerte.
Am Zelteingang entstand Bewegung und der Knappe Julian kam in Begleitung eines weiteren Gorderley herein. Nach einem kurzem Wortwechsel deutete der Fürst mit einer einladenden Handbewegung auf den Gefangenen und setzte sich mit dem Blick auf Curfeld auf einen Stuhl, den der Knappe unauffällig gebracht hatte.
„Mein Name ist Sisal Fagallen. Ich freue mich, Eure Bekanntschaft machen zu dürfen, obwohl ich annehme, dass die Freude einseitig ist.“ Der Gorderley sprach ebenfalls Brando und verbeugte sich leicht, bevor er seine kleine Tasche auf einen Schemel ablegte, der plötzlich neben dem Stuhl stand, der Knappe schien allgegenwärtig zu sein.
Curfeld war wie gelähmt. Von einem Augenblick zum nächsten war die Angst gekommen und drohte, ihn zu überwältigen. Der Foltermeister war ein unauffälliger Mensch von mittlerer Größe und Statur. Die kurzen brauen Haare waren von einigen grauen Strähnen durchsetzt. Das Gesicht war so wenig einprägsam, dass Curfeld es nicht wiedererkannt hätte, selbst wenn er in der Lage gewesen wäre, es genauer anzusehen. Aber seine Beobachtungsgabe ließ ihn plötzlich im Stich, er spürte eine grenzenlose Furcht, die von diesem Mann ausging und durch die formelle Höflichkeit noch gesteigert wurde. Fagallen betrachtete ihn prüfend und nickte, offenbar mit seiner Wirkung zufrieden.
„Ich fürchte, es bedarf noch einiger Unannehmlichkeiten, bevor ich anfange. Der Kopf sollte besser ruhig gestellt werden.“ Die letzten Worte waren an den Knappen gerichtet, der die Aufforderung offensichtlich schon erwartet hatte und hinter den Stuhl trat. Curfeld fühlte, wie ein breites Lederband seinen Kopf gegen die Lehne drückte, ein zweites Band zwischen Nase und Mund sorgte endgültig dafür, dass keinerlei Bewegungen mehr möglich waren. Er nahm es wie durch einen trüben Schleier wahr und kämpfte um seine Selbstbeherrschung. Auch seine Hände wurden noch fester auf die Lehne gebunden, so dass ein leichtes Zucken mit den Fingerspitzen die einzige ihm noch mögliche Regung war. Unter Aufbringung aller Willenkraft drängte er die lähmende Angst zurück und versuchte sich zu sammeln. Noch waren keine Feuerschalen oder Zangen und andere Folterinstrumente in das Zelt gebracht worden, also blieb ihm eine Gnadenfrist. Irgendwie musste er so lange durchhalten, bis sein Körper aufgab und starb.
Der Foltermeister stand aufrecht vor ihm und als hätte er seine Gedanken gelesen sagte er in einem unbegreiflich freundlichen Ton: „Ich bewundere immer wieder den Mut der brandaianischen Ritter. Aber Ihr werdet trotzdem erst dann sterben, wenn Ihr dem Fürsten geantwortet habt. Ihr könnt Euch viel Schmerz ersparen, wenn Ihr jetzt redet.“ Nicht einmal das klang ironisch. Curfeld suchte in seinem angstleeren Kopf nach einer passenden Antwort: „Ich ziehe es vor, selbst zu bestimmen, was ich sage, wann und zu wem.“ Es sollte stolz klingen, doch Fagallen wiegte nur den Kopf. Im Hintergrund hörte Curfeld den Fürsten leise lachen. „Gut gesprochen, Curfeld, wir werden sehen, wann Ihr mich für würdig genug haltet, Euren Worten zu lauschen.“ Curfeld entging nicht die Sicherheit, mit der der Fürst annahm, dass er sein Land letztlich verraten würde.
Fagallen griff nach der mitgebrachten Tasche und öffnete sie. Sorgfältig rollte er ein Tuch auf und rückte den Schemel dann in Curfelds Blickfeld. Lange dünne Nadeln blitzen in dem klaren Licht der Lampe.
„Dies ist mein Instrumentarium“, erläuterte der Foltermeister, „falls Ihr Flaschenzüge oder Brenneisen erwartet habt, muss ich Euch enttäuschen.“ Er zog eine der Nadeln aus dem Tuch und polierte mit einem weißen kleinen Lappen das ohnehin glänzende Metall. Dann hielt er sie Curfeld vor das Gesicht. „Sie sehen harmlos aus, findet Ihr?“ Alles geschah mit einer ruhigen Geschäftsmäßigkeit, die unheimlicher war, als jede sadistische Freude, die er bei seinen Feinden eher erwartet hätte. Trotzdem war Curfeld erleichtert, denn wenn er auch nicht wusste, ob er üblichen Foltermethoden wie dem Herausreißen einzelner Glieder oder dem stückweisen Verbrennen seiner Haut wirklich standgehalten hätte, so wirkten die feinen Nadeln tatsächlich weit weniger furchterregend.
Fagallen schien seine Gedanken zu lesen, denn er schüttelte den Kopf und es klang fast Mitleid in seiner Stimme, als er die Nadel auf dem rechten Handrücken des Brandai ansetzte. „Es sind vierzehn Nadeln. Meistens benötige ich nicht mehr als fünf. Aber das liegt natürlich ganz an Euch.“
Dann stach er zu und Curfelds Welt zerbrach.
Schmerz
Lodernder unbändiger Schmerz durchfuhr seine Hand, schoss seinen Arm hinauf in den Körper und drohte sein Herz zu zersprengen. Die Hand brannte, sie glühte im einem Feuer, dass ihn verzehrte. Er bäumte sich auf, versuchte gegen jede Vernunft seine Fesseln zu sprengen, die sich dadurch nur fester in seine Haut gruben. Der Schmerz war so unerträglich, dass er nicht einmal schreien konnte, und nur ein schwaches Röcheln seinem Mund entkam.
Es konnte nicht lange gedauert haben, obwohl es ihm Stunden schien, bis er wieder einen Gedanken fassen konnte. Fagallens Gesicht war direkt vor ihm. Der Gorderley wich zufrieden etwas zurück, als die Klarheit in den Blick des Brandais wiederkehrte. Ohne zu zögern, griff er nach einer weiteren Nadel. „Noch sind wir nicht soweit, denke ich“, sagte er und näherte sich mit der Nadelspitze Curfelds Gesicht. Der versuchte unwillkürlich auszuweichen, aber die Fesseln hielten seinen Kopf starr. „Meine Augen, nicht meine Augen“, dachte er panisch und biss sich auf die Zunge, aber der Foltermeister setzte die Nadel an seiner Schläfe an. „Nun wird es etwas heftiger werden“, erläuterte er in unbeteiligtem Ton, „aber die Zeit drängt.“
Curfeld schrie.
Diesmal gab es nichts mehr von ihm selbst, das noch denken oder fühlen konnte, er war zu einem einzigen unendlichen Schmerz geworden. Ein Stofffetzen in seinem Mund dämpfte die Schreie aber in seinem Kopf hörte er sie unvermindert, bestand nur noch Heulen und Qual.
Irgendwann wurde es weniger, blieb zurück als ein wütendes Hämmern seines Kopfes zusammen mit dem Brennen der Hand, ließ seinen Körper beben, aber die Gedanken kamen wieder. Er nahm seine Umgebung wahr, hörte sich keuchen und würgen, bis man ihm den Knebel aus dem Mund nahm. Eine Weile blieb es still, dann erklang aus dem Hintergrund die Stimme des Fürsten: „Seid Ihr nun bereit, mit mir zu sprechen?“
Curfeld versuchte flach zu atmen, denn jede noch so kleine Bewegung versetzte die Nadeln in Schwingung und schickte neue Wellen von Schmerz durch seinen Körper. Vierzehn, dachte er verzweifelt, das hält niemand aus. Mehrmals versuchte er etwas zu sagen, bevor seine Zunge wieder funktionierte. „ Ich...spreche...jeder..zeit mit ...Euch, Fürst....Gorderley. A..aber nicht.. über… den… König, unseren… unseren Herrn.“
Erschöpft sackte er zusammen und zuckte in der Qual der feurigen Ströme, die ihn durchfuhren, als die Nadeln leicht wippten. Wie von Ferne antwortete der Fürst: „Eure Standhaftigkeit ist achtenswert, Euer Humor ebenfalls, Gunther von Curfeld.“ Noch während er sprach, strich der Foltermeister leicht über die Nadelenden und schickte Curfeld in eine neue Hölle aus Schmerz. Fast wünschte er sich, in diesem körperlosen Zustand der Qual zu verbleiben, wo er sicher vor seiner eigenen Schwäche war, aber er fiel wieder zurück in die Wachheit, saß wieder auf dem Stuhl und konnte hören und sprechen und – das war das Schlimmste – sich vorstellen, was die nächste Nadel bringen würde, die Fagallen bereits in der Hand hielt und akribisch mit dem weißen Tuch reinigte.
Mein König, verzeih mir, flehte er stumm, denn er begriff mit absoluter Sicherheit, dass er nach einer dritten Nadel den Gedanken an eine vierte nicht mehr ertragen würde.
Fagallen strich über seine linke Hand, und obwohl er noch gar nicht zugestochen hatte, fühlte Curfeld bereits, wie die Angst in ihm aufbrandete. Als der Foltermeister wartete, die Nadelspitze nur sanft über die Haut zog und den künftigen Einstichpunkt leicht umkreiste, begriff er, dass der Gorderley genau wusste, was in ihm vorging. Er ließ sich Zeit, damit das Grauen Besitz von seinem Opfer nehmen konnte, lange bevor es der Schmerz tat.
Er spürte den Schrei in seinem Hals aufsteigen und presste die Lider zusammen um dem Foltermeister nicht zusehen zu müssen, als Stimmengewirr in die gespannte Atmosphäre im Zelt eindrang und Fagallen inne hielt.
Curfeld öffnete die Augen und holte Luft, dankbar für die Atempause. Am Zelteingang stand der Fürst und sah hinaus, neben ihm der Knappe. Dann traten beide zurück und plötzlich drängten sich mehr und mehr Krieger in das Zelt. Fagallen steckte auf einen Wink des Fürsten die dritte Nadel zurück und blieb neben dem Stuhl stehen. Eine Gasse öffnete sich in der Menge der Gorderley und ein Mann wurde herein gezerrt und vor dem Fürsten geworfen, wo er auf den Knien liegen blieb, die Stirn auf den Boden gepresst mit den offenen Händen neben sich. Zwei Schwerter hingen über seinem Nacken und drohten bei der kleinsten Bewegung zuzuschlagen.
Curfeld sah von seinem Platz aus, wie der Fürst den Mann musterte und sich dann nach einem kurzen Seitenblick auf seinen Knappen im Zelt umsah. Für einen Sekundenbruchteil trafen sich ihre Augen und er hatte das widersinnige Gefühl, Roman von Gorderley habe sich vergewissert, dass er, Curfeld, verfolgen konnte, was geschah.
„Wer hat ihn hergebracht?“ Der Fürst sprach nun den gordischen Dialekt, aber immer noch so geglättet, dass Curfeld ihn verstand. Ein Krieger trat vor und gab eine knappe Erklärung aus der hervorging, dass man den Ritter im Grenzgebiet aufgegriffen hatte. Aufgrund seiner Stellung und seines Rufes hatte man seiner Bitte nachgegeben und zum Fürsten gebracht, statt ihn sofort zu töten. Curfeld war sich nicht sicher, ob er alles richtig begriffen hatte, doch schien keiner der Anwesenden Mitleid mit dem Gorderley am Boden zu haben, im Gegenteil drückten die Mienen eher Verachtung oder Gleichgültigkeit aus. Nur der Knappe des Fürsten konnte sein Entsetzen kaum verbergen und stand kreidebleich neben seinem Herrn.
Roman von Gorderley entließ den Krieger und wandte sich dem Knienden zu. „Perceval, ich wundere mich sehr, dich wiederzusehen.“ Der Mann zuckte zusammen, doch als er den Kopf nur eine Handbreit hob, schnitt ihm sofort eine Klinge in den Rücken und er beugte sich schnell tiefer, während sich dunkle Flecken auf dem Hemd ausbreiteten. „Herr..“, diesmal traf ihn das zweite Schwert in die Seite und er brach ab, um nach einigen mühsamen Atemzügen erneut anzusetzen. „Ich bitte den Fürsten von Gorderley mich anzuhören, bitte“, flehte er und Curfeld sah, wie der Knappe gequält die Augen schloss. Mehrere Ritter runzelten die Stirn. Curfeld konnte direkt auf das Gesicht eines der Krieger mit dem blanken Schwert sehen. Er musste kein Gordisch verstehen, um die Frage darin zu deuten. Doch der Fürst schüttelte den Kopf. „Noch nicht,“ wehrte er ab und schwieg eine Weile.
Schließlich gab er dem Krieger einen Wink und die Klinge wurde vom Hals des Liegenden zurück gezogen. Curfeld vergaß beinahe seine eigenen Schmerzen im Bemühen, sich keine Einzelheit entgehen zu lassen.
„In Anbetracht der großen Verdienste des Hauses Erkandar und unter Berücksichtigung deiner Leistungen in der Vergangenheit werde ich mir anhören, was du zu sagen hast. Ich hoffe, es ist die Schande wert, die du über deine Familie gebracht hast“, noch immer sprach der Fürst ein brando-gefärbtes Gordisch und als Perceval Erkandar begann, verwendete er die gleiche Sprache. „Ich wurde vor drei Tagen bei einem Kampf im Grenzgebiet verletzt und gefangen genommen. Die Brandai ließen mir keine Möglichkeit, um meinen Tod zu kämpfen, so dass ich in ihr Lager verschleppt wurde. Sie verhörten mich, aber ich gab vor, kein Brando zu verstehen und sie bemühten sich nicht sehr, das Gegenteil heraus zu finden. Dann sperrten sie mich in einen Käfig. Während der beiden folgenden Tage begannen meine Verletzungen zu heilen. Sie hatten mir nur die Waffen abgenommen, so dass ich mich notdürftig verbinden konnte.“ Die Umstehenden schüttelten verständnislos die Köpfe, während Perceval stockte und offenbar gegen eine Schwächewelle kämpfte. Bevor seine Bewacher mit den Schwertern zustoßen konnten, sprach er schnell weiter: „Ich sah mehrfach den König durch das Lager gehen und hoffte auf eine Möglichkeit, ihn zu töten, aber der Käfig wurde niemals geöffnet. Das Lager war seltsam für das Hauptquartier eines Anführers, zu klein, aber sehr stark befestigt, eher wie eine Fluchtburg als wie ein Kriegslager. Es gab dort sicher nicht mehr als 200 Krieger. Dafür kamen täglich Boten. Mein Käfig stand ziemlich in der Mitte des Lagers, wohl um mich nicht aus den Augen zu lassen, dadurch sah ich sie kommen und gehen.“
Curfeld spürte wie ihn Blicke voll Verachtung trafen und schluckte. Minutenlang war er danach beschäftigt, den Schmerz soweit zurückzudrängen, dass er wieder zuhören konnte. Auch der Gorderley hatte, überwältigt von einem Schwächeanfall seinen Bericht unterbrochen. Als er seine Hände umdrehte, um sich am Boden abzustützen traten sofort die Wachen näher. Curfeld versuchte, sich an den letzten Abend zu erinnern. Er hatte den Gefangenen nur kurz gesehen, als er das Lager durchquerte. Man hatte den Gorderley zwar nicht gefoltert, aber doch hart verhört, bis Melgardon beschloss, die Befragung auf später zu verschieben. Sie schien in Anbetracht der bevorstehenden Kämpfe nicht von Bedeutung. Curfeld kam zum ersten Mal der Gedanke, wie kurzsichtig seine Landsleute waren: Offenbar sprach fast jeder Gordeleyritter Brando, während im ganzen Reich nur wenige Leute das Gordische verstanden, geschweige den sprechen konnten. Niemand nahm die Rebellensprache ernst, doch damit vergaben sie auch jede Chance, ihren Feind wirklich kennenzulernen. Er bedauerte, diese Erkenntnis nicht mehr umsetzen zu können.
Perceval hatte den Oberkörper leicht angehoben und zuckte nun zurück, als eine Schwertspitze seinen Nacken ritzte. Mit offensichtlicher Mühe fuhr er fort: „ Tagsüber beachtete man mich nicht sehr und nachts gab es nur eine Wache neben meinem Käfig, die regelmäßig einschlief. Ich hatte Zeit, die Gitterstäbe zu untersuchen und fand einen, der sich drehen ließ. Mit meiner Gürtelschnalle schabte ich genug Holz ab, um die Stange heraus zu brechen. Das war gestern Nacht. Ich tötete den Wachposten und nahm seine Waffen, um so viele Brandai wie möglich zu erledigen oder vielleicht einen Anführer, deshalb schlich ich zum Hauptzelt. Dort hielten sich der König und mindestens drei weitere Krieger auf, ich hatte sie früher am Abend hineingehen sehen. Um sie zu überraschen, drang ich von hinten in das Zelt ein. Es war durch einen Vorhang zweigeteilt, so dass ich unbemerkt blieb. Durch einen Spalt sah ich zwei Männer und wollte mich auf sie stürzen, als eine Bemerkung über Langweiler fiel.“ Unwillkürlich hatte er den Kopf erhoben, „Langweiler, He..“, er brach ab und korrigierte sich, „Langweiler, Fürst Roman, nicht Oblaag. Ich wartete und dann hörte ich, wie sie ihren Plan besprachen. Das Heer von Brandai liegt vor dem Pass, sie wollen nicht die Furt, sie wollen Langweiler einnehmen. Vor Oblaag gibt es nur eine kleine Einheit, die uns ablenken soll. Sie werden dort einen Ausfall machen, uns zurück locken und dann in dem Lager ausharren, bis der Hauptteil der Armee den Pass erobert hat und uns von hinten angreift.“ Plötzlich war es ganz still und nur Percevals Stimme klang unablässig durch den Raum, leise, manchmal unterbrochen von gepresstem Luftholen, schilderte er alle Einzelheiten der Pläne, die der König ihm, Curfeld, und seinen beiden Anführern so ausführlich erläutert hatte.
Curfeld schloss die Augen. Wie hatte das passieren können? Ohne es zu wollen, presste er seine Hände auf den Stuhl und spannte die Muskeln an in dem Wunsch aufzuspringen und den Gorderley zum Schweigen zu bringen. Selbst der wogende Schmerz minderte nicht seine ohnmächtige Wut und Enttäuschung. Perceval schien nicht einen Satz der langen Diskussionen, kein einziges Wort ihrer endgültigen Absprachen überhört oder vergessen zu haben. Curfeld hatte noch vor den Augen, wie er selbst die Liste mit den Passwörtern laut vorgelesen hatte, um sie sich einzuprägen, falls er das Pergament vernichten musste! Er unterdrückte ein bitteres Lachen.
Aber wie war der Gorderley entkommen? Curfeld erinnerte sich genau, dass er beim Fortreiten den Gefangenen in seinem Käfig liegen gesehen hatte.
Endlich schwieg Perceval und kniete schwer atmend vor dem Fürsten, der ihn unbewegt ansah. „Und warum hast du sie nicht getötet? Du warst nahe genug.“ An den Mienen der umstehenden Krieger sah Curfeld, dass der Fürst aussprach, was alle dachten.
„Ich...ich wollte es tun. Aber dann dachte ich nach. Ich bin verletzt. Wahrscheinlich wäre ich nicht an den König heran gekommen. Einen, vielleicht zwei hätte ich nieder stechen können, bevor ich gefallen wäre. Aber auch mit einem Anführer weniger können sie ihre Pläne durchführen. Deshalb entschloss ich mich zu fliehen. Ich… es war nicht Feigheit. Ich bitte Euch, mir zu glauben“, zum erstem Mal versagte dem Gorderley die Stimme und er zitterte. „Sprich weiter“, der Fürst schien keine Gnade zu kennen. Curfeld verstand nicht, warum man dem Mann nicht endlich half und seine Wunden versorgte. Oder dachte der Fürst, dass er alle diese Informationen auch von seinem brandaianischen Gefangenen bekommen hätte?
„Ich schlich mich zurück zu dem Käfig und zerrte den toten Wachposten hinein. Ich zog ihm auch meinen Umhang an, um die Brandai zu täuschen und mir einen Vorsprung zu verschaffen. Deshalb konnte ich kein Pferd stehlen. Ich lief davon, überquerte den Fluss oberhalb der Furt und versuchte unser Lager zu erreichen. Schließlich griff ein Kundschafter mich auf“, er zögerte kurz, „ich überzeugte ihn, mich nicht sofort zu töten.“
Alle schwiegen und blickten zwischen Perceval und dem Fürsten hin und her. Die Verachtung in den Gesichtern war gewichen, Mitleid, Trauer und Bewunderung herrschten vor. „Perceval Erkandar, du darfst dich aufrichten. Sieh mich an.“ Die Stimme des Fürsten war sanft, fast liebevoll und der Gorderley hob unsicher erst den Kopf, dann den Oberkörper bis er aufrecht auf den Knien hockte. „Herr?“, fragend, fast flüsternd formte er das eine Wort. Die Ergebenheit, mit der er den Fürsten ansah, ließ Curfeld schaudern. Roman von Gorderley neigte leicht den Kopf und Curfeld sah wie Perceval befreit aufatmete. Jetzt erst erkannte er die großen dunklen Flecken auf der zerrissenen Kleidung, auch auf dem Teppich glänzte es feucht. Das Gesicht des Gorderley war blau und gelb geschwollen, wahrscheinlich von dem Verhör durch die Brandai. In jedem Fall war er schwer verwundet, doch noch immer schien sich niemand um die Verletzungen kümmern zu wollen.
Der Fürst legte eine Hand auf seinen Schwerknauf und sah dem Verletzen in die Augen. „Hast du noch einen Wunsch?“
Curfeld verstand immer weniger, aber der Gorderley atmete jetzt ruhig und wirkte beinahe glücklich. „Herr, der Kundschafter, Trun, er ist ein guter Mann. Bitte straft ihn nicht für meine Taten.“
Spielte ein Lächeln in den Mundwinkeln den Fürsten? „Noch etwas?“, fragte er leise. Perceval holte Luft und senkte demütig den Kopf. „Meine Familie..“, flüsterte er fast unhörbar.
„Ich werde persönlich dafür sorgen, das Perceval Erkandar an der Seite seiner Vorfahren beigesetzt wird. Es gab nie einen Makel auf dem Namen der Familie und so wird es bleiben.“
Percevals sah wieder auf. Seine Augen leuchteten voller Dankbarkeit und wichen nun nicht mehr vom Fürsten.
Roman von Gorderley zog sein Schwert und hielt es in das Licht der Lampe. Ernst trat er einen Schritt vor und setze die Spitze auf Percevals Brust, während die Wachen zurückwichen.
„Danke, Herr, danke“, in der Stille des Augenblicks klangen die leisen Worte klar und ergeben.
Im nächsten Augenblick brach der Gorderley über dem Schwert des Fürsten zusammen. Ein Blutschwall quoll aus der Brust, als der Fürst die Klinge heraus zog und ohne hinzusehen dem hinter ihm stehenden Knappen reichte. „Säubere es.“
Irgendwie mussten die Worte eine Bedeutung haben, denn nun begannen die übrigen Anwesenden sich in gedämpftem Ton zu unterhalten. Curfeld war nicht in der Lage ihnen zu lauschen, zumal sie wieder Gordisch miteinander sprachen. Pures Entsetzen erfüllte ihn. Nicht nur die Tat an sich erschütterte ihn, die Tötung eines doch offensichtlich treuen Gefolgsmannes, sondern auch die nüchterne Sachlichkeit, mit der sie vollzogen worden war. Und jeder außer ihm selbst, sogar das Opfer, schien einverstanden. Er bekam keine Gelegenheit sich zu fassen, denn schon stand der Fürst vor ihm. Unwillkürlich erwartete Curfeld ebenfalls den Todesstoß, doch der Fürst würdigte ihn keines Blickes, sondern wandte an Fagallen: „Mein Herr, ich danke für Euer Kommen. Momentan benötige ich Eure Dienste nicht mehr.“ Schon war er fort und Curfeld hörte ihn den Knappen rufen: „Julian, sofort in mein Zelt: Alle Gruppenführer, Herr Timbermeyn, Herr Rascal. Die Krieger sollen sich bereit machen, Aufbruch in einer Stunde.....“ Curfelds Aufmerksamkeit wurde von Fagallen abgelenkt, der die Nadeln inspizierte. „Es wird nochmal schmerzen“, sagte er stirnrunzelnd.
„Ich kann mir nicht vorstellen, dass Euch das leid tut.“ Die vergangene Stunde hatte Curfeld seiner Selbstbeherrschung beraubt und seine Stimme klang sarkastisch. Der Foltermeister hielt ehrlich überrascht inne. „Oh, ich halte nichts von überflüssigen Quälereien, das solltet Ihr mir glauben. Die Kunst ist es, mit dem geringsten Aufwand das beste Ergebnis zu erzielen. So..... die erste hätten wir schon heraus“, der wütende Schmerz in Curfelds Kopf ebbte schneller ab als erwartet, er hatte nicht einmal Zeit aufzuschreien. Ebenso zügig zog Fagallen die zweite Nadel aus seiner Hand. „Seht Ihr, man kann nicht einmal eine Verletzung erkennen. Geringer Einsatz, hoher Erfolg, nicht wahr?“ Wieder stieg in Curfeld die Angst auf, die der bloße Anblick des Mannes ihm bereitete. Fagallen wusste wie nahe er daran gewesen war, aufzugeben. Eine Nadel mehr..... Der Brandai schluckte und zwang sich zu einer Antwort: „Vielen Dank für Eure Mühe. Zweifellos ist es angenehmer mit einer intakten Hand zu sterben.“ „Nun, das ist mehr, als dem Erben von Erkandor vergönnt war“, erwiderte der Foltermeister trocken, „war mir ein Vergnügen, bis zum nächsten Mal.“ Er verbeugte sich tatsächlich bevor er davonging.
Inzwischen hatte sich das Zelt erneut mit Kriegern gefüllt. Die Lampe hing nun über dem Tisch, wo der Fürst eine Karte studierte, während sich seine Anführer um ihn versammelten. Curfeld saß im dunklen Hintergrund und verfolgte die Besprechung ungewollt fasziniert. Erst vor wenigen Minuten hatte der Fürst sich einer vollkommen neuen Sachlage stellen müssen, doch nun schien er bereits einen fertigen Plan im Kopf zu haben. Obwohl er nicht verstand, was besprochen wurde, war es offensichtlich, das Roman von Gorderley klare Anweisungen erteilte. Einwände nahm er aufmerksam zur Kenntnis, nur hin und wieder gab es knappe Diskussionen. Im Grunde lief alles ab, wie Curfeld es von ähnlichen Besprechungen mit dem König und seinen Heerführern kannte. Nur dass der Fürst und seine Leute keine wohl ausgewogene Strategie haben konnten. Es war fast ausgeschlossen, dass sie überhaupt noch rechtzeitig Langweiler erreichten, um die Eroberung zu verhindern. Diesmal würde Brandai siegen!, dachte Curfeld zufrieden. Melgardons oberster Heerführer und bester Krieger, Semsam Terweg, wusste auch ohne die letzten Befehle des Königs, was zu tun war.
Trotzdem war die Zielstrebigkeit der Gorderley beängstigend. Niemand schien Zweifel an den Plänen des Fürsten zu äußern. Nach kaum einer halben Stunde verließen die Krieger das Zelt und der Fürst blieb mit dem Knappen allein zurück. Beide verschwanden aus Curfelds Blickfeld, doch nun sprach der Fürst erstaunlicherweise wieder Brando, so dass er ihrem Gespräch folgen konnte.
Roman von Gorderley schien sich für den Kampf zu rüsten. „Du wirst mich nicht begleiten“, hörte Curfeld ihn sagen.
„Herr...“
„Du bleibst hier und bewachst unseren Gast.“
Nach einer längeren Pause sprach der Fürst erneut: „Mein Knappe versteht es eindrucksvoll schweigend zu widersprechen. Muss ich dich an deinen Eid erinnern?“
Julians Stimme klang gequält als er antwortete: „Ich gehorche, Herr.“
„Ich rede nicht vom Gehorsam, sondern von Demut!“
Die Stimmen kamen wieder näher und der Fürst stand vor dem Tisch und schob die Karten zusammen. Er trug die typische gordische Lederrüstung mit eingearbeiteten Fäden aus Metall, die leichter war als ein Kettenhemd und dennoch einen vergleichbaren Schutz gab. In Brandai war das Verfahren, nach dem man Metallfäden ziehen und verweben konnte, nicht bekannt und die gordischen Rüstungen waren eine begehrte Kriegsbeute. Der Knappe trat mit einem Helm in der Hand in den Lichtkreis der Lampe. Sein Gesicht war angespannt, als er seinen Herrn offen ansah.
„Herr, wenn ich es nicht verdiene, mit Euch zu reiten...“ „Schweig!“, unterbrach ihn der Fürst harsch, doch dann legte er dem Knappen die Hand auf die Schulter. „Ich dachte, ich hätte deutlich gemacht, dass du mein Vertrauen hast. Warum hat es jeder verstanden, nur mein Knappe nicht?“
Julian senkte den Kopf: „Ich dachte...“
Der Fürst seufzte und nahm den Helm aus der Hand des Knappen. „Du bleibst hier. Wenn die Brandai das Lager stürmen sollten, tötest du ihn.“ Er warf einen Blick auf Curfeld. „Wenn ich fallen sollte, bringst du den Brandai nach Witstein und berichtest dem Fürsten, was geschehen ist.“ Nachdenklich musterte er den Knappen und setzte hinzu: „Behalte ihn im Auge. Ich möchte ihn hier vorfinden, wenn ich zurückkehre. Wenn er allerdings unverschämt wird, töte ihn gleich. Es liegt in deiner Hand, das zu entscheiden.“
Er ging zum Zeltausgang: „Mein Pferd?“ „Steht gesattelt bereit, Herr.“
Roman von Gorderley wandte sich noch einmal um. Die Hand lag auf dem Knauf des Schwertes, das wieder an seiner Seite hing. „Ein Knappe, Julian, sollte dort dienen wollen, wo sein Herr ihn braucht.“
„Ich bitte um Verzeihung, Herr“
„Wir reden später darüber.“
Der Vorhang wehte, von draußen drangen Hufgetrappel und Rufe herein, schließlich wurde es still.
Der Knappe verschob die Lampe so, dass der Schein wieder auf den Gefangenen fiel und blieb in einiger Entfernung von seinem Stuhl stehen.
Nun, wo sich nächtliche Ruhe über das Lager senkte, fühlte Curfeld zum ersten Mal Erschöpfung. Er war bisher zu abgelenkt gewesen, um seine erbärmliche Lage wirklich wahrzunehmen, aber nun ließen Müdigkeit und Schwäche den Stuhl schmerzhaft hart und die Fesseln unerträglich eng scheinen. Jeder Muskel im Körper protestierte und er wünschte sich nichts sehnlicher, als Arme und Beine wenigstens einmal ausstrecken zu dürfen. Es war undenkbar, in dieser Stellung Schlaf zu finden, doch es kostete ihn immer größere Selbstbeherrschung, ein Stöhnen zu unterdrücken.
Curfeld schloss die Augen und konzentrierte sich auf seine Atemzüge, einen zur Zeit, dann den nächsten. Er versuchte, nicht zu denken, aber die Eindrücke der letzten Stunden ließen ihn nicht los. Was hatte er nicht alles erfahren über seine Feinde. Was würde er darum geben, dieses Wissen für Brandai zu nutzen. Er versuchte die Muskeln der Oberschenkel anzuspannen, um das Gesäß zu entlasten, aber damit verlagerte er den Schmerz nur an eine andere Stelle.
Als er nach einer Weile aufsah, begegnete er dem forschenden Blick des Knappen, der an einer Zeltstange lehnte und den Befehl, den Gefangenen nicht aus den Augen zu lassen, wörtlich zu nehmen gedachte. Er wich dem Blick nicht aus. Julian war noch jung, kaum älter als die Jungen, die ihn gefangen genommen hatten. Nun, so gesehen, sollte er sich hüten, den Knappen zu unterschätzen. Wie scheinbar jeder Gorderley, trug er ein Schwert in einer Scheide am Gurt, selbst hier in der Abgeschiedenheit des Zeltes. Wahrscheinlich konnte er gut damit umgehen, nicht dass das in seiner Situation eine Rolle spielte.
Die Schmerzen kehrten zurück und wurden stärker. Eher um sich abzulenken als in echter Erwartung einer Antwort räusperte sich Curfeld: „Darf ich Euren Namen erfahren? Meinen wisst Ihr ja schon.“
Der Knappe schwieg zunächst, aber dann antwortete er doch: „Mein Name ist Julian Erkandar, Knappe von Fürst Roman von Gorderley.“ Curfelds Interesse war sofort geweckt. „Erkandar......seid Ihr verwandt mit..“, er brach ab, denn die Erwähnung des Toten hatte einen Schatten auf das Gesicht des Knappen geworfen, der sich nun straffte und das Kinn hob. „Perceval ist...war mein Bruder.“
„Dein Bruder?! Du hast tatenlos mit angesehen, wie dein Bruder vor deinen Augen umgebracht wurde?“ Die Worte waren heraus, bevor er gewahr wurde, was er gesagte hatte und er biss sich auf die Zunge. Julian war einen Schritt vorgetreten und hatte den Schwertgriff umklammert. Curfeld spürte eine Gänsehaut über seinen Rücken laufen und hörte im Geiste die Worte des Fürsten „Wenn er unverschämt wird, töte ihn...“ Er las den Wunsch im Gesicht des Knappen und verfluchte sich innerlich. Mehrere Atemzüge lang kämpfte der Knappe mit sich, bis er mit einem abfälligen Schnauben sein Schwert los ließ und sich wieder an die Zeltstange lehnte. „Gewogen und zu leicht befunden“, dachte Curfeld und unterdrückte einen Stoßseufzer. Die Lippen des Knappen kräuselten sich verächtlich und sein Blick ging hochmütig über den Brandai hinweg.
Die Zeit tropfte dahin. Jetzt wünschte sich Curfeld Kerzen, denn am Abbrennen des Wachses hätte man die Stunden abschätzen können. So aber reihte sich im gleichmäßigen Licht der Lampe nur eine Ewigkeit voller Schmerzen an die nächste. Er verlor das Gefühl in den Füßen, die wie kalte leblose Klötze an ihm hingen. Gleichzeitig spürte er ein unbändiges Bedürfnis, aufzuspringen und sich zu bewegen. In seiner Pein stemmte er sich so sehr gegen die Fesseln, dass die Haut an den Handgelenken riss und das Blut herunter lief. Julian sah ihm uninteressiert zu, höchstens dass der abfällige Zug in seinem Gesicht sich noch vertiefte.
„Was habe ich eigentlich zu verlieren“, dachte Curfeld und räusperte sich. „Wenn ich Euch beleidigt habe, bitte ich um Verzeihung.“ Sein Hals war trocken und rau und die Worte kamen krächzend.
Der Knappe sah weiterhin über ihn hinweg. „Wie könntet Ihr mich beleidigen. Ihr seid doch nur ein Brandai!“
Es klang wie eine eherne Wahrheit und traf ihn unvorbereitet. Er schluckte eine heftige Entgegnung herunter. Gewohnt, auf die Gorderley zu fluchen, war ihm nie in den Sinn gekommen, dass die Gorderley Brandai ebenso verachten könnten, wie umgekehrt.
„Würdet Ihr es einem dummen Ritter aus Brandai erklären?“, fragte er ruhig, die letzten Worte erstickten fast in einem trockenen Husten.
„Warum sollte ich?“
„Vielleicht, damit ich ein wenig klüger sterben darf?“
Der Knappe sah ihn zum ersten Mal seit seinen unglücklichen Worten wieder an und schien zu überlegen. „Möchtet Ihr etwas trinken?“
Fast hätte er den Kopf geschüttelt, doch sein Durst und seine Vernunft siegten und er nickte. Selbst wenn der Knappe ihn deshalb noch etwas mehr verachtete, wollte die Chance nicht vergeben, seine letzten Stunden etwas zu erleichtern.
Julian verschwand aus seinem Blickfeld und kam kurz darauf mit einem Wasserschlauch und einem Becher wieder, den er füllte und daraus trank. Dann goss er erneut ein, zögerte aber und stellte ihn wieder ab. Er musterte den Gefangenen stirnrunzelnd und trat hinter den Stuhl. Im nächsten Moment fühlte Curfeld, wie die Lederstreifen, die seinen Kopf an die Lehne gepresst hatten, gelöst wurden. Die plötzliche Bewegungsfreiheit schickte brennenden Schmerz in seinen Nacken und er beherrschte sich nur mit Mühe. Am liebsten hätte er seinen Hals gedreht und die verkrampften Muskeln gedehnt, aber er beließ es bei einem leichten Neigen des Kopfes, als der Knappe ihm den Becher an den Mund setzte und trank in kleinen Schlucken das köstliche Wasser.
„Danke“, sagte er.
„Dankt nicht mir, sondern meinem Herrn“, erwiderte Julian kurz und brachte Becher und Schlauch fort. Diesmal folgte Curfeld ihm mit den Augen und spürte die Erleichterung in seinen Nackenmuskeln. „Für mein Leben vielleicht. Aber ich danke Euch für Eure Freundlichkeit“, er hatte es in seinem Leben noch nie so aufrichtig gemeint.
Julian stand scheinbar unschlüssig vor ihm.
Curfeld wies mit dem Kopf auf das Vorderzelt. „Wollt Ihr Euch nicht setzen. Glaubt Ihr, Euer Herr verlangt, dass Ihr mich die ganze Zeit stehend bewacht?“ Er versuchte keinerlei Wertung in seiner Stimme klingen zu lassen und tatsächlich holte sich der Knappe nach kurzem Überlegen einen Hocker und setzte sich, aufrecht und bereit, jederzeit aufzuspringen. „Ich sollte es als Kompliment auffassen“, dachte Curfeld, „ich scheine immer noch gefährlich zu sein.“
„Bitte entschuldigt meine unbedachten Worte“, begann er, „mir scheint, als hätte ich nicht verstanden, was geschehen ist.“
Der Knappe schien längere Zeit zu überlegen, ob er überhaupt antworten sollte, doch hatte sein Blick zumindest den Ausdruck hochmütiger Verachtung verloren.
„Der Fürst von Gorderley war sehr gütig!“ Der Satz brach wie eine Herausforderung aus Julian, der offenbar Widerspruch erwartete. Aber Curfeld hatte gelernt. „Der Tod Eures Bruders war ein Gnadenakt des Fürsten?“
Julian biss sich auf die Lippen und schwieg wieder, aber Curfeld erkannte, dass der Knappe reden wollte und wartete gespannt.
„Perceval ist vom Feind zurückgekehrt. Wer lebend aus Brandai zurückkommt ist ein Verräter!“
Julian klang gequält als er leise fortfuhr: „Es gab noch nie einen Verräter in unserer Familie. Und dann gerade Perceval! Wie konnte er dem Fürsten das antun.“
Curfeld war sprachlos. War das der Grund für den todwütigen Kampfwillen der Gorderley? Sie gaben nie auf und wenn es doch gelang, einen Krieger gefangen zu nehmen, starb er meist bei einem Fluchtversuch, der für gewöhnlich noch mehrere Brandai das Leben kostete. Julian schien mehr mit sich selbst, als mit seinem Gefangenen zu reden, als er weiter sprach: „Er hatte den Tod durch den Strang verdient, meine Familie hätte die Schande tragen müssen. Aber der Fürst hat Perceval verziehen. Es war eine große Ehre, dass er eigenhändig das Schwert geführt hat. Mein Bruder durfte einen würdevollen Tod sterben.“ Der Knappe rang um seine Fassung und nach einer Weile schüttelte er den Kopf. „Wie soll ein Brandai das verstehen? Sie haben ja keine Ehre.“ Es klang noch nicht einmal verachtend, obwohl Curfeld einen Stich fühlte über das vernichtende Urteil.
Die Handlung des Fürsten war tatsächlich kaum zu verstehen, doch Curfeld erinnerte sich an den ergebenen Blick Percevals. Was hatte der Fürst an sich, dass seine Krieger ihn derart verehrten? „Er gab Euch sein Schwert nachdem...es vollbracht war?“, fragte er sanft nach.
Julian atmete tief ein. „Ja, das tat er. Ich...er hätte einen anderen Knappen nehmen können. Aus einer unbefleckten Familie. Aber er hat den Eid nicht aufgelöst. Ich bin immer noch sein Knappe.“
Er seufzte und flüsterte beinahe: „Nur mit ihm reiten durfte ich nicht.“
„Vielleicht wollte Fürst Gorderley nur nicht an einem Tag einem Vater zwei Söhne nehmen?“, wandte Curfeld behutsam ein und fragte sich, was ihn bei den Unsterblichen dazu brachte, für den jungen Gorderley Seelsorge zu betreiben. Gleichzeitig wuchs seine Bewunderung für den Fürsten, der in einem Moment, da sein ganzer Krieg an einen Wendepunkt kam, noch Zeit hatte, sich über das Wohl und Wehe eines Knappen Gedanken zu machen.
Julian starrte ihn überrascht an. „Meint Ihr?“ Er sprang auf und lief ein paar Schritte hin und her, „aber der Verrat...“
„Er sagte doch, dass kein Makel auf Eurer Familie verbleibt“, erinnerte Curfeld.
Der Knappe stand mit dem Rücken zu ihm und blickte in die Dunkelheit des Zeltes. „Ich habe ihn verärgert. Er hat es gesagt, mein Eid.....“, er fuhr herum, „Demut ist das schwierigste Gelöbnis, was meint Ihr?“ Julian schien vergessen zu haben, dass er mit einem ehrlosen Brandai sprach. Curfeld hütete sich vor seinem eigenen Sarkasmus und fragte vorsichtig: „Das Schwierigste wovon?“
„Nun, von dem Eid natürlich. Gehorsam, Demut und Wahrheit.“
Das musste der Knappeneid in Gorderley sein. Welch schwere Bürde für einen Jungen. „Demut ist schwer, das stimmt“, bestätigte Curfeld. Er hätte gern mehr erfahren, aber draußen vor dem Zelt erhoben sich Geräusche und sofort verschwand das jungenhafte aus Julians Verhalten. Er lief zum Zelteingang und sah längere Zeit hinaus. Curfeld hörte schnelle Wortwechsel, Pferdegetrappel, Waffenklirren. Offenbar brachen die Gorderley nun nach Oblaag auf, wo der König sie erwartete. Dieser Teil von Melgardons Plan würde nicht aufgehen. Da die Gorderley nun wussten, dass sie an der Furt nur hingehalten werden sollten, würden sie den Spieß umdrehen. Es blieb zu hoffen, dass der König das Manöver bald durchschaute. Curfeld versuchte erneut sein Gesäß zu verlagern. Sobald er nicht mehr abgelenkt war, fühlte er die Schmerzen in jedem Muskel. Dazu kam eine neue Qual: Seine Blase war zum Platzen gefüllt. Er wollte sich auf keinen Fall selbst beschmutzen, aber er konnte den Knappen wohl kaum bitten, ihn los zubinden. Julian kam zurück: „Unser Angriff auf Oblaag beginnt im Morgengrauen. Der Fürst müsste jetzt schon Langweiler erreicht haben.“ Curfeld bezweifelte den zweiten Teil, ein Nachtmarsch von mehr als 20 Meilen konnten die Truppen in der kurzen Zeit niemals bewältigt haben, aber er schwieg.
Julian bemerkte seine angespannte Haltung und betrachtete ihn prüfend. Der Brandai atmete gepresst und überlegte, ob er den Rest seines Stolzes fahren lassen sollte, aber der Knappe kam ihm zuvor. „Versprecht mir, dass Ihr jedem Befehl folgt, wenn ich Eure Hand losbinde!“
Curfeld begriff nicht, worauf er hinaus wollte, aber er nickte. „Sagt es!“, forderte Julian ernst.
„Ich folge jedem Befehl, wenn Ihr mich losbindet“, versprach er angestrengt. Ohne ein Wort verschwand der Knappe durch den Eingang. Als er zurück kam, begleitete ihn ein Krieger, der vor Curfeld stehen blieb und sein Schwert zückte. Julian dagegen hatte sein Schwert abgelegt. Er stellte einen leeren Krug vor dem Stuhl ab. „Ich binde Eure rechte Hand los, damit müsst Ihr auskommen.“
Er löste die Riemen um Finger, Handgelenk und Unterarm des Brandai und reichte ihm den Krug.
Curfeld schluckte. Er fühlte sich gedemütigt, aber eine andere Lösung konnte er kaum erwarten. Etwas unbeholfen nestelte er an seiner Hose, die Finger wollten ihm nicht richtig gehorchen. Als er fertig war, nahm der Knappe den Krug mit gesenktem Blick zurück. Der Krieger hatte die ganze Zeit kein Auge von Curfeld gelassen, der sich fragte, warum er unter diesen Bedingungen überhaupt Gehorsam versprechen musste.
Seine Arme und Handgelenke wurden erneut am Stuhl befestigt, aber nach kurzem inneren Ringen ließ Julian die Finger frei. Er brachte den Krug fort und entließ den Wächter. Erneut begann das Warten. Es mochten zwei bis drei Stunden vergangen sein, die Sonne erwärmte bereits das Zelt, als der Lärm im Lager lauter wurde und der Knappe sich nach draußen begab. Curfeld erschien es Ewigkeiten, bis der Vorhang erneut zurück schwang.
„Noch bleibt Ihr am Leben“, verkündete Julian, „Euer König hat sich hinter die Furt zurückgezogen.“
Mehrmals betraten nun Krieger das Zelt, die in schnellem Gordisch mit dem Knappen sprachen, offensichtlich gaben sie Lageberichte ab. Julian schien ein erstaunliches Gedächtnis zu besitzen, wie sein toter Bruder, erinnerte sich Curfeld, der immer noch versuchte, das Geschehen zu verfolgen.
Dann wurde es wieder still und der Tag zog vorbei. Curfeld sah, dass der Knappe zunehmend unruhiger wurde. Immer wieder sprang er auf und spähte aus dem Zelt und sprach mit anderen Gorderley. Im Laufe des Nachmittages nahmen die Stimmen zu, die üblichen Lagergeräusche wurden lebendiger und lauter. Und dann hörte Curfeld wie direkt vor dem Zelt ein Pferd hielt. Im nächsten Augenblick stand der Fürst im Eingang. „Herr, Ihr seid zurück.“ Julian sank vor dem Fürsten in die Knie, griff nach seiner Hand und küsste den Handschuh. Roman von Gorderley sah kurz auf den gesenkten Kopf und zog den Knappen dann auf die Beine. „Steh auf, es gibt viel zu tun.“ Er überflog mit einem Blick das Zelt, blieb an dem Brandai hängen und schritt dann zu seinem Lager, während er den Schwertgurt öffnete und Julian reichte. „Bring mir Wasser und etwas zu essen. Herr Timbermeyn zu mir, sobald er da ist, lebt Rascal noch? Gut, in einer halben Stunde. Wie steht es hier?“
Curfeld bemerkte, dass der Fürst wieder Brando sprach. Julian antwortete ebenso, so dass er an ihrem Gespräch teil hatte. Er zerbrach sich den Kopf, was der Gorderley damit bezweckte, bis ein erschrockener Ausruf Julians ihn aus den Grübeleien riss: „Herr, Ihr seid verwundet, lasst mich das ansehen.“
Curfeld reckte sich neugierig, aber die beiden Gorderley befanden sich nicht in seinem Blickfeld.
„Terweg war ein harter Gegner. Er focht mit einem gordischen Schwert. Aber das kann warten.“ Doch der Knappe gab nicht nach. „Herr, es ist tief, es könnte Dreck in der Wunde sein, bitte ..“ Ein paar Atemzüge blieb es still, dann hörte Curfeld erneut den Fürsten: „Du bist ungehorsam, Julian“, aber er hätte geschworen, dass trotz der ernsten Worte ein Schmunzeln in dem Tonfall lag. „Ich bitte um meine Bestrafung“, Julian ließ sich nicht ablenken und hantierte im Hintergrund, Curfeld konnte nur seinen Schatten auf der Zeltwand erkennen. „So, nun ist die Wunde sauber. Sie ist tief aber glatt. Lasst mich einen Verband anlegen Herr.“ Ein Seufzer zeigte das Nachgeben des Fürsten an. Schließlich standen beide auf. „Wie lauten deine Befehle?“
„Wasser und Brot für Euch, Timbermeyn und Rascal zur Besprechung. Ich melde mich beim Stockmeister“, Julian zögerte einen Augenblick und setzte hinzu, „10 Hiebe?“.
„Für dich sind es Herr Timbermeyn und Herr Rascal! Und acht Schläge sollten genügen.“ Der Fürst gebot ihm mit einer Handbewegung sich zu entfernen und sah dem davon eilenden Knappen sinnend nach bevor er sich Curfeld zuwandte.
„Nun, es stellt sich die Frage, ob Ihr erfreut oder enttäuscht seid. Langweiler bleibt in gordischer Hand. Eure Truppen mussten abziehen. Das heißt, Ihr lebt noch ein wenig weiter.“
Der Fürst war seit einer Nacht und einem Tag auf den Beinen, hatte zwei Gewaltritte und eine Schlacht hinter sich und war verletzt worden, aber er wirkte so frisch wie am Abend zuvor. „Ihr habt es bis Langweiler geschafft?“, fragte Curfeld ungläubig. „Natürlich. Was habt Ihr denn geglaubt?“, lächelte der Fürst spöttisch und musterte die Fesseln des Brandai.
„Haben wir verloren?“
Der Fürst setzte sich auf den Hocker, der von Julians Wache noch immer dort stand. Jetzt zeigte sich doch ein Anflug von Müdigkeit in seiner Haltung. Er sah Curfeld nachdenklich an. „Aus der Sicht Eures Königs hat Brandai wohl verloren, würde ich sagen. Ihr habt Euer Ziel, Langweiler und den Pass einzunehmen nicht erreicht. Eure Truppen lecken sich die Wunden.“
Curfeld schloss die Augen. Monatelange geheime Vorbereitungen, all die Planungen waren zunichte gemacht worden von einem einzigen Mann. Schlimmer, sie waren eigentlich gescheitert an ihrer eigenen Nachlässigkeit und Überheblichkeit. Verglichen mit der Aufmerksamkeit, die ihm hier zuteil wurde, musste Perceval Erkandar seine Gefangenschaft im Lager der Brandai als lächerlich empfunden haben. Curfeld stöhnte unwillkürlich auf. Der Fürst nickte, als kenne er seine Gedanken und sprach weiter: „Aber falls Euch das ein Trost ist, es ist auch kein Sieg für Gorderley. Melgardon erschien früher als ich hoffte und rettete Eurer Heer. Ich verlor zu viele Männer und wir gewannen gerade einmal 22 Sklaven. Das einzig Erfreuliche an diesem Tag ist der Tod von Terweg. Er wird Melgardon fehlen.“ Der Heerführer gefallen, das war eine schlechte Nachricht, vielleicht schlimmer noch, als die Niederlage selbst. Der Fürst studierte aufmerksam Curfelds Reaktion und nahm dessen Schrecken zufrieden zur Kenntnis. „Ich sehe, Ihr teilt meine Einschätzung“.
Julian kehrte mit einem Tablett auf den Armen zurück. Seine Bewegungen waren etwas eckig, er musste tatsächlich geschlagen worden sein, verlor aber kein Wort darüber, sondern stellte einen Krug, Brot, Käse und Wurst auf den Tisch. Roman setzte sich und deutete auf Curfeld. „Es ist an der Zeit, dass unser Gast zu seinem Schlaf kommt.“
Julian überlegte kurz und beschäftigte sich eine Weile hinter Curfelds Stuhl. Dann kniete er nieder und begann die Fesseln um Füße und Beine des Gefangenen zu lösen. Die Riemen um Leib und Brust wurden abgezogen bis nur noch die Hände an die Lehnen gebunden waren. Julian ging sehr konzentriert und planmäßig vor und Curfeld vermied jede Bewegung, denn er hatte das unangenehme Gefühl, dass schon ein stärkeres Zucken als Fluchtversuch ausgelegt werden könnte. Fast lachte er bei der Vorstellung, denn seine Füße waren wie abgestorben und es war unmöglich, dass er sich auch nur vom Stuhl erhob.
„Ich habe Euch schon etwas versprochen“, sagte er leise zu dem Knappen. Julian sah ihn verständnislos an und löste von der Seite die Fessel am linken Handgelenk. „Legt die Hand auf die andere“, befahl er und ging hinter dem Stuhl herum. Im nächsten Moment band er beide Hände zusammen, bevor er auch die rechte Hand von der Lehne löste. Dann trat er zurück. „Ihr könnt jetzt aufstehen“, forderte er den Brandai auf.
Curfeld machte nicht einmal den Versuch. Er würde stürzen und vor dem Knappen auf den Boden fallen. Solange er noch die Kraft hatte, sich zu wehren, würde er das verhindern. Ruhig schüttelte er den Kopf. „Das kann ich nicht“, sagte er nur.
Julian runzelte die Stirn, erst ärgerlich, dann ratlos, blickte er zum Fürsten, der am Tisch seine Mahlzeit verzehrte. Nun rückte er herum, zog sein Schwert und legte es quer über seinen Schoß.
„Ich denke, du wirst unserem Gast helfen müssen, Julian. Er scheint etwas steif geworden zu sein, trotz deiner Nachsicht.“ Also hatte er die Lockerung von Curfelds Fesseln bemerkt.
Der Knappe legte sein Schwert ab und trat nahe an den Stuhl. Wortlos bot er seinen Arm an und Curfeld zog sich auf die Beine. Wankend stand er da und versuchte die Muskeln zum Arbeiten zu überreden, während er sich schwer auf die Schulter des Knappen stütze. Plötzlich fuhr der Schmerz in seine Waden und seine Füße begannen zu prickeln. Unsicher versuchte er einen Schritt, es stach als ob er auf Messern laufen würde, aber er hielt sich auf den Beinen. Julian führte ihn um den Stuhl herum und gebot ihm sich niederzulegen. Curfeld sank widerspruchslos zu Boden und schob sich auf einen Wink des Kappen soweit seitwärts, bis er mit der Hüfte gegen einen Pflock stieß. Ein breiter Lederriemen wurde straff über seinen Bauch gezogen und an einem weiteren Pflock befestigt. Danach fesselte Julian erst eine Hand, dann die andere an zwei weit auseinander stehende Zeltpfosten. Zum Schluss wurden seine Beine am Boden fixiert. Selbst wenn Curfeld dazu in der Lage gewesen wäre, gab es während der ganzen Prozedur keine Chance für einen Befreiungsversuch. Als der Knappe mit weiteren Lederriemen neben seinem Kopf niederkniete, hörte Curfeld den Fürsten sagen: „Ich denke, das ist unnötig.“ Er hob mit Mühe den Kopf und erhaschte einen Blick auf Roman von Gorderley, der zufrieden lächelnd zu seinen Füßen stand und die Arbeit des Knappen verfolgte, worauf dieser aufstand und zurücktrat.
Dankbar legte Curfeld sich zurück. Der Teppich unter ihm war weich und sein schmerzender Körper sehnte sich nach Ruhe. Er wollte wach bleiben und verfolgen, was geschah, aber schon im nächsten Moment fielen ihm die Augen zu und er schlief ein.
Als Curfeld erwachte, drangen durch die zurückgeschlagene Eingangsplane frische Luft und Licht in das Zelt. Es musste bereits spät am Morgen sein – hatte er wirklich die ganze Nacht geschlafen? Er erinnerte sich an Stimmengemurmel und die Schritte kommender und gehender Menschen. Einige Male war er wohl aufgewacht, auch die neue Lage war auf Dauer nicht angenehm, aber später waren nur ruhige Atemzüge in der Stille der Nacht zu hören gewesen. Zu müde, weiter zu grübeln, war er immer wieder eingeschlafen, doch nun fühlte er sich wach und erstaunlich gestärkt. Bohrender Hunger knurrte in seinem Magen und er rutschte ein wenig hin und her, um die Muskeln zu lockern. Niemand beachtete ihn, doch als er den Kopf hob und Anstrengungen machte, sich so gut es die Fesseln zuließen aufzurichten, erschien aus dem Nichts eine Klinge über seinem Hals und eine Stimme herrschte ihn auf gordisch an. Er musste den Inhalt gar nicht verstehen um stocksteif zu verharren und sich dann ganz langsam zurück sinken zu lassen. Eine Weile lag die Klinge bedrohlich an seiner Kehle und er wagte nicht zu schlucken, dann wurde sie zurückgezogen. Er hatte den Gorderley über seinem Kopf vorher weder gehört noch gespürt, aber es war dumm gewesen zu glauben, man hätte ihn allein gelassen. Curfeld verfluchte seine Voreiligkeit und versuchte sich zu entspannen, ohne sich dabei auffällig zu bewegen.
Er musste lange warten. Zeit in der er über sein Schicksal grübelte. Für den Fürsten war er nun so gut wie wertlos. Würde man ihn töten oder versklaven? Lieber starb er, als das er einen Gorderley seinen Herrn nennen würde, und wenn es von eigener Hand war.
Schließlich näherten sich Schritte, Julian kam heran und wechselte mit dem Wächter einige Worte, dann bückte er sich und durchschnitt die Fesseln. „Steht auf“, und nach einer kleinen Pause fügte er hinzu, „bitte.“
Curfeld fühlte sich wie ein alter Mann, als er mühsam auf die Beine kam, und sein Hals war wie zugeschnürt. Aus dem Gesicht Knappen war nicht abzulesen, was ihm bevorstand. Seine Hände wurden zusammengebunden, dann deutete Julian ihm, voranzugehen und sie traten vor das Zelt.
Curfeld blinzelte in den bedeckten Tag und sah sich um.
Mehrere Reiter warteten mit seinem eigenen gesattelten Pferd. Er wollte sich fragend umwenden, aber ein leichter Stoß von hinten forderte ihn zum aufsteigen auf. Kaum saß er im Sattel, band ein Krieger seine Hände an den Sattelknauf, doch niemand legte ihm eine Augenbinde an, so dass er das Lager ungehindert überblicken konnte.
Zelte standen in geraden langen Reihen, unterbrochen von Feuerplätzen und breiten Gassen. Überall liefen bewaffnete Gorderley herum, hinter einem Zelt fochten zwei Krieger in voller Rüstung. „Bei den Unsterblichen“, dachte Curfeld, „sie haben gerade erst eine verlustreiche Schlacht hinter sich, geben sie denn nie Ruhe?“
Ein Reiter auf einem schwarzen Pferd trabte auf sie zu und er erkannte den Fürsten. „Habt Ihr wohl geruht“, fragte Roman von Gorderley spöttisch beim Näherkommen. „Danke der Nachfrage“, er fing schon an wie ein Gorderley zu reden, bemerkte Curfeld, aber die Förmlichkeit half ihm, seine Angst unter Kontrolle und dem Blick des Fürsten stand zuhalten.
Auch Julian war inzwischen aufgestiegen und ergriff nun die Zügel von Curfelds Pferd. Ohne weitere Worte ritt der Fürst voran aus dem Lager.
Sie mussten ein gutes Stück von Oblaag entfernt sein, denn die Landschaft war Curfeld völlig fremd. Hinter ihnen ragten die Berge des Grenzgebietes auf, die in langen Hügelketten ausliefen. Sie folgten den breiten Tälern durch unwegsames und unübersichtliches Gelände und er hatte mit den gebundenen Händen Schwierigkeiten, sich im Sattel zu halten. Da auch die Sonne hinter Wolken verborgen blieb, konnte er nicht einmal ihre Richtung bestimmen. Nach einer gefühlten Stunde hielten sie an. Vor ihnen rauschte ein breiter Bach in flachem Bett. Der Fürst ließ sein Pferd am Ufer trinken und wandte sich dann zu Curfeld. Jetzt ist es soweit, dachte der Brandai, aber seltsamerweise verspürte er keine Angst.
Auf einen kurzen Befehl trieb der Knappe sein Pferd heran. Curfeld sah ein Messer in seiner Hand. Natürlich, ein Brandai konnte wohl kaum erwarten, dass sich der Fürst selbst die Ehre gab - er zwang sich ruhig sitzen zu bleiben. Mit einem Schnitt durchtrennte Julian seine Fesseln und Curfeld blinzelte überrascht auf seine freien Hände und dann zum Fürsten, der ihn amüsiert betrachtete und sich von einem Krieger ein Schwert reichen ließ. „Ich kann Euch nicht Euer eigenes zurückgeben, Gunter von Curfeld, das würde mir Fabian nicht verzeihen. Also seid so freundlich und nehmt dieses als Ersatz.“
Ohne zu verstehen, nahm Curfeld das Schwert entgegen. „Was habt Ihr vor? Spielt Ihr mit mir?“
Der Fürst deutete über den Fluss: „In dieser Richtung liegt Brandai. Ihr solltet keine Schwierigkeiten haben, zurück zu finden.“
Ungläubig starrte Curfeld ihn an, aber Roman von Gorderley setzte sich gemütlich in seinem Sattel zurecht und hob einladend die Hand. Wie betäubt trieb Curfeld sein Pferd an und ritt langsam an das Ufer. Der Bach war nicht tief und er fand mühelos einen Weg durch das steinige Bett. Es musste die Lordanelle sein, einer der kalten Zuflüsse des Branduin, auch wenn das bedeutete, dass sie sich viel weiter im Norden befanden, als er vermutet hatte. Jeden Moment erwartete er einen Pfeil im Rücken. Noch nie hatte er davon gehört, dass ein Gefangener von den Gorderley einfach freigelassen worden war. Dies konnte nur ein böses Spiel sein, aber Schritt um Schritt entfernte er sich von den Reitern und alles blieb ruhig.
Am anderen Ufer widerstand er der Versuchung, in wildem Galopp davon zu preschen. Die Böschung war flach und grasbewachsen, sein Pferd kletterte locker hinauf. Oben blieb Curfeld stehen. Mit aller Selbstbeherrschung derer er fähig war, hielt er still, musterte den nahen Waldrand und bot den Gorderley seinen ungeschützten Rücken, doch nichts geschah. Schließlich ritt er in den Wald, ohne sich noch einmal umzudrehen.
Roman von Gorderley sah in das niederbrennende Feuer und nahm einen weiteren Schluck Wein aus dem Zinnkelch. Es gab zu viele Erinnerungen, die noch immer schmerzten.
In Gedanken ging er die heutige Befragung durch. Er hatte nichts ausgelassen, nichts vergessen. Bis auf das Unsägliche hatte er alles preisgegeben, was er wusste. Auch das letzte würde er dem König mitteilen müssen, später. Es änderte vorerst nichts und diese Schmach konnte er nur vor Melgardon allein zugeben...
Es klopfte.
Überrascht sah er Gunter von Curfeld im Eingang stehen und bat ihn wortlos herein. Auf seinen Ruf erschien Tore und brachte neuen Wein und heißes Wasser.
Curfeld ging unruhig hin und her, bis Tore den Raum verließ. Nun blieb er vor dem Fürsten stehen.
„Schon fertig mit der Geschichte?“, fragte Roman mit leisem Spott.
Curfeld nickte: „Nach diesem Tag sollte es Wichtigeres geben.“
Sie sahen sich an und schwiegen. Schließlich räusperte sich der Brandai und deutete auf sein Schwert. „Ich schulde Euch etwas.“
Roman schüttelte den Kopf. „Es gibt zwischen uns keine offenen Rechnungen.“
„Ihr habt mich benutzt“, stellte Curfeld fest, „aber ich hätte nicht vermutet, dass mein Preis so hoch ist.“
Romans Gedanken flogen zurück an den Nachmittag, als sie dem Brandai die Freiheit schenkten.
Nachdem Curfeld auf der anderen Flussseite im Wald verschwunden war, kehrte der Trupp um und er winkte Julian heran. „Nun?“ Der Knappe ritt aufmerksam neben ihm und antwortete schließlich: „Er ist so ....anders.“
„Was meinst du?“
„Er ist nicht, wie die Brandai sein sollten. Herr, er ist klug. Und mutig. Und sehr ehrenvoll.“ Julian brach ab. Der Fürst sagte nichts. Schließlich seufzte Julian: „Mein Herr ist nicht zufrieden mit mir?“ Julian war der jüngste Erbe der Erkandars, inzwischen der einzige Überlebende von drei Söhnen. Er schien immer im Schatten seiner erfolgreichen Brüder zu stehen, und sich seiner eigenen großen Fähigkeiten nicht gewiss zu sein. Der Fürst lächelte in sich hinein. „Wie lange führt Gorderley schon Krieg gegen das Reich?“, fragte er ernst.
„Ich weiß es nicht, tausend Jahre?“
„Nun, nicht ganz. Aber immerhin lange genug. Wie kommt es, dass wir nicht schon längst gewonnen haben, wenn die Brandai alle feige, ehrlos und dumm sind?“
Julian senkte den Kopf und bewegte stumm die Lippen. Erst nach längerer Pause holte er Luft und sah zum Fürsten auf. „Ich bitte um Vergebung. Ich bin es, der dumm ist.“
Roman von Gorderley lächelte nun offen. „Du hast deine Sache gut gemacht. Es ist keine Schwäche, seinen Feind zu respektieren.“ Sein Knappe nahm die Belehrung ernsthaft hin und sie ritten eine Weile schweigend. „Herr?“, hob er vorsichtig an. Roman bedeutete ihm, weiter zu sprechen. „Herr, Ritter Curfeld ist bestimmt nützlich für den König.“
„Davon ist auszugehen.“
„Wäre es dann nicht besser gewesen, ihn zu töten?“
„Findest du, dass er den Tod verdient hat?“
„Ihr hättet ihm einen ehrenvollen Tod gewähren können.“ Julian fühlte sich offensichtlich unwohl, seinem Herrn eine Handlung vorzuschlagen, aber er blickte den Fürsten offen an.
„Ich bezweifle, dass ein Brandai diese Würde verstanden hätte. Aber tatsächlich ist es für Gorderley von größerem Nutzen, wenn er zum König zurück kehrt.“
„Ich bitte um Vergebung, aber das verstehe ich nicht“, entschuldigte sich Julian.
„Nun, ein kluger Gegner ist eine gute Herausforderung: Er zwingt uns, selbst klug und vorausschauend zu handeln. Wir kennen ihn jetzt. Das wird uns helfen, die Handlungen unserer Feinde besser einzuschätzen.“ Mit bewundernden Augen strahlte sein Knappe ihn an. „Mein Herr ist noch klüger als Ritter Curfeld.“
Roman lachte. „Das wollen wir hoffen. Ich denke, dass wir diesem Brandai nicht zum letzten Mal begegnet sind. Mögen die Götter uns gute Kämpfe bescheren.“
Er sah Curfeld an: „Ihr schuldet mir nichts“, wiederholte er. Der Brandai setzte sich unaufgefordert auf einen Stuhl am anderen Ende des Tisches. „Sagt mir eines, wann hattet Ihr Euch entschlossen, mich am Leben zu lassen.“
„Vielleicht, als Ihr auf dem Hügel auf einen Pfeil gewartet habt?“
Curfeld trommelte mit den Fingern auf dem Tisch: „Es war die ganze Zeit ein Spiel?“
Der Fürst schwieg lange und sah in die Flammen des Feuers, aber Curfeld blieb sitzen und wartete auf eine Antwort. „Ich denke nicht, dass Ihr das verstehen könnt. Nachdem wir bei Langweiler gesiegt hatten, brachte Euer Tod keinen Nutzen mehr für Gorderley“, sagte der Fürst endlich, „ich halte nichts von unnötigem Blutvergießen. Ihr solltet es dabei belassen, schließlich seid Ihr jetzt hier. Der Tod Terwegs kam Eurer Karriere durchaus zugute.“
„Er fehlt überall“, widersprach der Brandai scharf.
„Sein strategischer Kopf, sicher, aber in Brandai muss mehr verändert werden. Dafür seid Ihr der bessere Mann.“
Das Lob brachte Curfeld aus dem Konzept. Er griff nach dem Becher, um seine Verlegenheit zu überspielen, trank einen Schluck und suchte dann wieder den Blick des Fürsten. „Was unterscheidet einen Krieger aus Brandai von einem Gorderley, Eurer Meinung nach?“
Früher, da war er sicher, hätte der Fürst gelacht. Heute runzelte er nur die Stirn: „Ein Krieger in Gorderley ist loyal bis in den Tod, mutig mit Überlegung, Stolz auf seine Ehre und hervorragend ausgebildet.“ Nach einer Pause fuhr er fort: „Die Brandai sind mutig bis zur Tollkühnheit, loyal mit einer starken Tendenz zum Widerspruch, Stolz bis zur Dummheit und erbärmlich trainiert.“
Curfeld hatte eine viel vernichtendere Analyse erwartet und fragte überrascht: „Ihr meint, es ist nur ein gradueller Unterschied?“
Roman von Gorderley schüttelte den Kopf. „Ihr habt eine ungeordnete Truppe von selbstverliebten Rittern und unausgebildeten Bauern, von denen Ihr nie wisst, ob sie Eure Anweisungen befolgen werden. Viele kämpfen mit fanatischer Tollkühnheit, bis sie sterben, was ziemlich häufig eintritt. Das Fußvolk verliert alle Orientierung, wenn ihr Anführer fällt. Erinnert Ihr Euch an Langweiler? Die Schlacht war noch längst nicht entschieden, aber als ich Terweg tötete geriet der Angriff sofort ins Stocken. Wäre der König nur ein paar Stunden später dazu gekommen, hätten wir trotz der ungünstigen Ausgangslage Euer Heer komplett aufgerieben, nur weil ein einziger Anführer gefallen war. Es fehlt an allem: Vertrauen, Gehorsam und Standhaftigkeit. Abgesehen von der mangelhaften Technik.“
Der Fürst sprach völlig nüchtern, aber er hatte auf den Punkt gebracht, was Curfeld selbst ähnlich sah. „Wie lange brauche ich“, fragte er leise.
„Zwanzig Jahre und einen langen Atem“
„Ich habe zwei.“
Nun war es so still, dass das Knacken der Flammen laut durch den Abend klang. Curfeld versuchte im Gesicht des Fürsten eine Regung zu erkennen, aber die dunklen Augen musterten ihn ohne Ausdruck. „Was wollt Ihr von mir, Curfeld? Ich habe Euch schon gegeben, was ich kann.“
Der Brandai ballte die Finger zur Faust und öffnete sie wieder. Er wusste genau, weshalb er gekommen war, doch nun stand er vor der Entscheidung zu bitten oder zu fordern, beides konnte falsch sein. Er beugte sich vor. „Ich brauche Eure Hilfe. Ich will Eure Unterstützung. In zwei Jahren muss Brandai gegen Gorderley bestehen. Wir können es schaffen.“
„Ich vergaß den Hang zur Selbstüberschätzung zu erwähnen“, erwiderte der Fürst spöttisch.
Curfeld sprang auf. „Wenn das Eure Meinung ist, warum seid Ihr dann hier? Was soll dann das ganze Gerede? Ihr wisst so gut wie ich, dass es keinen Unterschied macht, ob wir wissen dass Gorderley tausend Krieger mehr oder weniger ins Feld schickt.“ Wütend kam er um den Tisch und stand vor dem Fürsten. „Mein König hat jedem, wirklich jedem verboten, Euch nach Euren Gründen zu befragen. Ich will sie nicht wissen! Aber was immer es ist, Ihr könnt Euch nicht davon reinwaschen, indem Ihr uns ein paar Brosamen hinwerft und verlangt, das wir die Kastanien aus dem Feuer holen. Ihr wollt dass Brandai gegen Gorderley zieht? Das machen wir seit Jahrhunderten, dazu brauchen wir Euch nicht. Wenn Ihr wollt, dass Brandai den Sieg davon trägt, tut etwas dafür!“
Schwer atmend trat er zurück. „Fürst Gorderley, ich fordere Eure Hilfe“, er schluckte, „aber wenn es sein muss, dann werde ich Euch darum anflehen.“
Roman von Gorderley sah ihn lange an. Curfeld hatte ohne es zu wissen einen wunden Punkt getroffen. Aber war dies wirklich sein neuer Weg? Curfeld bot ihm die Aufgabe an, für die es kaum einen besseren geben konnte, sogar hier, wo er verhasst und verachtetet wurde. Doch immerhin war es eine Aufgabe. Und für ihn gab es keinen Weg zurück.
„Die Stärken stärken, die Schwächen eliminieren, das wäre ein Anfang.“ Er sah wie Curfeld aufatmete und gab sich einen inneren Ruck. „Eure Ritter müssen ihren Verstand vor ihren Stolz setzen und Eure Krieger müssen ihren Anführern vertrauen – und umgekehrt. Ihr wisst natürlich, dass Ihr das alles selbst tun müsst.“
Curfeld nickte langsam: „Für den Anfang reicht mir Euer Rat. Dann werden wir weitersehen. Ich wäre Euch verbunden, wenn Ihr mir regelmäßig etwas von Eurer Zeit einräumtet.“
Er verbeugte sich vor Roman und wollte gehen. Zum ersten Mal seit langer Zeit stahl sich ein kurzes Lächeln in die Mundwinkel des Fürsten: „Wie Ihr wünscht, Heerführer von König Melgardon. Im übrigen bin ich froh, Euch damals am Leben gelassen zu haben.“
Curfeld hatte die Hand bereits am Türgriff und drehte sich nicht um als er antwortete: „Ich auch, Fürst Gorderley, glaubt mir, ich auch.“
Die Tür schloss sich hinter ihm. „Das hatte ich noch vergessen zu nennen,“ murmelte Roman, „ein unerschütterlicher Humor.“
Männer wie Curfeld waren ein Glück für jeden Herrscher und es sprach für den König, dass er den jungen Adligen so sehr gefördert hatte. Doch er war nur einer von wenigen, Gorderley hatte viele seinesgleichen und in den zwei Jahren würde Elder von Gorderley nicht untätig bleiben und die Lücke, die seine Fahnenflucht gerissen hatte, adäquat füllen.
Curfeld hatte recht. Wenn Brandai eine Chance bekommen sollte, war sein erster Verrat nicht genug. Er fühlte nach dem Amulett an seinem Hals. Der Preis stieg.