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WAS WIR NICHT WISSEN

Gerade unsere nächste Umwelt ist uns überraschend unbekannt. Das macht es schwer, die Ökosysteme zu schützen

VON FRITZ HABEKUSS

Die Erde ist ein unbekannter Ort. Das Rätsel fängt mit der einfachen Frage an, wie viele Arten es eigentlich gibt. Bislang sind circa zwei Millionen Tiere, Pflanzen und Pilze wissenschaftlich beschrieben. Ziemlich gut kennen wir die Wirbeltiere, etwa Vögel (10.000 Arten) oder Säugetiere (5500 Arten). Wir sind uns sicher, dass wir die Vielfalt der Elefanten gut überblicken (drei überlebende Arten) und dass die Zahl der Käfer die 350.000 bisher bekannten Arten überschreiten wird. Wir kennen etwa 100.000 verschiedene Pilze, es könnten aber auch fünf Millionen sein. Die Zahl der Bakterienspezies ist allenfalls Gegenstand grober Spekulationen.

Was wir gemeinhin mit der Vielfalt des Lebens assoziieren, sind die auffälligen Spezies, dabei machen die nur einen winzigen Bruchteil aller Arten aus. Um jeden neu entdeckten Halbweltaffen wird ein Bohei gemacht – wie konnte er uns nur so lange entgangen sein! Aber wie steht es um Rundwürmer, die Seeschnecken oder Quallen?

Wie viele Orchideen, Kakteen oder Zypressen noch zu entdecken sind, darüber streiten sich die Experten. Ihre Schätzungen schwanken zwischen fünf Millionen und 100 Millionen unbekannten Arten, wahrscheinlich liegt die Zahl der Spezies mit Zellkern (wozu Tiere, Pflanzen und Pilze gehören) um die neun Millionen. Die Menschheit hätte also gerade ein bisschen mehr als ein Fünftel beschrieben und deutlich weniger erforscht. Bei alldem sind die Bakterien nicht mitgezählt. Sie könnten nach Expertenschätzungen bis zu eine Milliarde Arten umfassen. Diese Zahl ist so fantastisch, dass sie am besten als Maß unseres Nichtwissens zu werten ist.

Sicher ist: Die Menschheitsaufgabe, die belebte Welt zu erfassen, kann mit der Geschwindigkeit ihres Aussterbens nicht mithalten. Die Taxonomen kommen mit der wissenschaftlichen Beschreibung kaum hinterher. Die ist aber die Grundlage jeder Erforschung von Ökosystemen. Zu beschreiben, was in einem Teich, einer Baumkrone oder auf einer Bergwiese vor sich geht, ist unmöglich, wenn man noch nicht einmal weiß, welche Tiere und Pflanzen dort leben.

Die Erforschung von Ökosystemen wird umso bedeutender, je mehr der Mensch in natürliche Systeme eingreift. Schon heute gibt es auf der Welt keinen Ort mehr, der frei wäre von seinem Einfluss. Plastik liegt am Boden der Tiefsee, die Wälder wachsen kräftiger, weil sie durch das Kohlenstoffdioxid in der Atmosphäre gedüngt werden, in der Arktis schmilzt das Eis durch die Erhitzung der Erde.

Trotzdem gibt es weiterhin große Wildnisgebiete, vor allem im Meer und an den Polen. Und auch die menschengemachten Ökosysteme, etwa industrielle Brachflächen, Palmölplantagen oder durchgeforstete Wälder, sind für den Umweltschutz keinesfalls wertlos. Weil aber viele Forscher die Aufmerksamkeit auf jene fernen Regionen richten, in denen Natur noch halbwegs ungestört und sich selbst überlassen ist, wissen wir über nahe gelegene Orte erschreckend wenig.

Ein Ökosystem kann man sich wie ein Kraftfahrzeug vorstellen: Es hat Räder, Rückspiegel und Zylinderköpfe. Jedes einzelne Element trägt dazu bei, dass es fährt. Auf einige Teile kann man verzichten, auf elektrische Fensterheber etwa oder Radkappen. Andere Teile sind wichtig, aber nicht notwendig, wie der Rückspiegel. Fehlt jedoch der Tank, bleibt das Auto liegen. Bei einigen Teilen hat der Verschleiß Folgen: Ist der Reifen kaputt, leidet die Felge. So können auch Ökosysteme zwar Teile einbüßen und doch mehr schlecht als recht funktionieren. Sie können komplett ausfallen oder – und das ist das wahrscheinlichere Szenario – irgendwie weiterexistieren, bloß deutlich schlechter.

Allerdings hinkt der Vergleich an entscheidender Stelle: Beim Auto lässt sich der Zweck jedes einzelnen Teils benennen. Es lässt sich voraussagen, was sein Fehlen bewirken wird. In der Natur sieht das anders aus. Wenn in einem Teich, einer Hochwüste oder einer Feuchtwiese der Großteil der Arten noch nicht einmal beschrieben wurde, ist es unmöglich zu sagen, was passiert, wenn einzelne Spezies ausfallen.

Was wäre, wenn in Deutschland ein Großteil der Insekten verschwände, ein Trend, den in den vergangenen beiden Jahren alarmierende Studien aufgezeigt haben? Was macht es mit den Lebewesen in einem norwegischen Fjord, wenn sie mit Antibiotika aus einer gigantischen Lachszucht überschwemmt werden? Welche Spezies leidet darunter, wenn eine bestimmte Flechte aus einem deutschen Mischwald verschwindet, weil ihr Schadstoffe im Regen zusetzen? Wir wissen es nicht.

Auf solche Fragen haben selbst Biologen kaum befriedigende Antworten. Trotzdem legt der Mensch Sümpfe trocken, fällt tropische Wälder für Viehweiden, sucht am Boden der Tiefsee nach Rohstoffen. Was genau er damit auslöst, weiß niemand. Aber dass der Schaden oft unumkehrbar ist, wissen viele.

Insofern hilft es nicht weiter, auf den gewaltigen Forschungsbedarf zu verweisen und abzuwarten. Wir wissen wenig über diesen Planeten – doch wir wissen genug, um ihn zu schützen.

Wie geht es der Erde?

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