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WAS WIR WISSEN

Es gibt Wörter, die man sparsam einsetzen sollte. Katastrophe ist so eines. Trotzdem taucht es im Zusammenhang mit dem Artensterben und der Zerstörung von Wildnis immer wieder auf. Zu Recht?

VON FRITZ HABEKUSS

Afrikanische Elefanten gehören zu den majestätischsten Geschöpfen, die den Lebensraum Erde mit den Menschen teilen. Als die Europäer Ende des 15. Jahrhunderts begannen, den Kontinent auszubeuten, gab es wohl über 25 Millionen der Tiere. Durch Jagd und Vertreibung war ihre Zahl im Jahr 1800 auf geschätzte drei bis fünf Millionen geschrumpft. Heute wissen wir recht genau, wie viele der Riesen noch auf dem Kontinent umherziehen: Es sind weniger als 350.000. Alle 15 Minuten stirbt ein weiterer durch die Kugel eines Wilderers.

Vor allem bei den großen Arten ist der Niedergang der Fauna so nachvollziehbar dokumentiert. Vom Spitzmaulnashorn gibt es nur noch 4800 Exemplare. 1960 waren es noch 100.000, vor der Ankunft der Europäer sogar 850.000. Tiger haben in bloß einem Jahrhundert 93 Prozent ihres einstigen Verbreitungsgebietes verloren. Bis 1986, als der kommerzielle Walfang endete, hatten Walfänger drei Millionen der gewaltigen Meeressäuger getötet – es waren nur noch so wenige übrig, dass sich das Betreiben von Flotten nicht mehr lohnte. Der kommerzielle Walfang war das größte je da gewesene Schlachten von Wildtieren. Obwohl er seit mehr als dreißig Jahren beendet ist, haben sich viele Populationen bis heute nicht erholt.

Elefanten, Tiger, Wale – es sind die großen, emblematischen Spezies, mit denen Naturschutzorganisationen um Spenden werben. Die Sympathieträger sind gut erforscht, es fließt viel Geld in ihren Schutz, und dennoch zeigt sich überall auf der Erde dasselbe: Die meisten Populationen schrumpfen. Der Living Planet Index, eine Studie des WWF und der Zoologischen Gesellschaft London, zeigt: Allein zwischen 1970 und 2012 sind die globalen Wildtierbestände um 60 Prozent gesunken.

Von den knapp 100.000 Arten, die auf der Roten Liste der Internationalen Naturschutzunion stehen, ist rund ein Viertel akut vom Aussterben bedroht. In Deutschland sieht der Trend sogar noch schlimmer aus. Etwa 30 Prozent aller heimischen Wildpflanzen, Meeresorganismen und Wirbeltiere könnten bald für immer verschwunden sein.

Die Listen zeigen aber auch, dass Arten sich erholen können, wenn Naturschutz durchgesetzt wird. Wenn wertvolle Habitate in Ruhe gelassen werden, Straßen so gebaut, dass sie Ökosysteme nicht zerschneiden, Naturschutzgebiete über Korridore miteinander verbunden werden. Seit man ihre Wälder schützt, geht es den Berggorillas besser. In Deutschland setzen Wolf, Kranich und Biber zu einem Comeback an. Es sind Ausnahmen, aber sie zeigen: Artenschutz funktioniert, wenn er politisch ernst genommen wird. Global gesehen verlieren vor allem Spezies, die an eine bestimmte Umwelt angepasst sind, die sich nur von einer bestimmten Wildblume ernähren oder nur in Höhlen alter Laubbäume vorkommen. Der Juchtenkäfer, der mit den Protesten um Stuttgart 21 Berühmtheit erlangte, ist ein Beispiel, die Nachtigall, die dichtes Gebüsch braucht, ein anderes. Ohne Bäume und Sträucher kann sie nicht überleben.

Das Verschwinden der wilden Tiere aus unserer Umwelt ist so unübersehbar, dass Forscher den Begriff Defaunation für das große Sterben erfunden haben. Wer dem Wort durch die Forschungsliteratur folgt, stößt auf vietnamesische Nationalparks, in denen kaum noch ein großes Tier lebt. Bäume können sich hier nicht mehr verbreiten, weil sie für den Transport ihrer Samen auf tierische Unterstützung angewiesen sind. Defaunation bezeichnet Flüsse, deren Wasser trüb wird, weil Frösche und Molche an eingeschleppten Krankheiten zugrunde gegangen sind und deshalb das Nährstoffgleichgewicht gekippt ist. Er meint Riffe, in denen Korallen unter Algen ersticken, weil zu wenige Fische den Bewuchs abfressen.

Die Beispiele illustrieren das zentrale Problem beim Verlust biologischer Vielfalt. Am Ende geht es nicht um den einzelnen Tiger oder Orang-Utan. Es geht nicht einmal um das Verschwinden einzelner Spezies. Vermutlich kann der Planet ohne Eisbären auskommen – auch wenn die Kampagnen der großen Umweltschutzorganisationen etwas anderes suggerieren. Die Gefahr ist größer und subtiler. Sterben nämlich die Arten, kollabieren ganze Ökosysteme. Das ist sicher – bloß wann es geschieht, ist nicht vorhersehbar (siehe Seite 24 ff., Was wir nicht wissen).

Ohne Natur kein sauberes Wasser, keine Luft zum Atmen, keine Nahrung, keine Wälder zum Durchwandern, keine Medikamente aus Pflanzen. Forscher haben auch das auf den Begriff gebracht – keine »Ökosystemleistungen«. Dieser technische Terminus beschreibt eine banale Gewissheit, die Tag für Tag ignoriert wird. Ohne eine funktionierende Umwelt wird dieser Planet für Menschen unbewohnbar sein.

Forscher haben versucht, jenen Wert zu berechnen, den die Natur der Menschheit pro Jahr zur Verfügung stellt. Sie sind auf 125 Billionen US-Dollar gekommen, eine Zahl mit zwölf Nullen. Das Bruttoinlandsprodukt der EU beträgt 16,6 Billionen. Der Gedanke hinter dieser Rechnung ist einfach. Die Menschheit hängt von einer funktionierenden Biosphäre ab. Jeder Akt der Zerstörung ist nicht bloß ein moralisches Problem, er macht über kurz oder lang das Leben auf dem Planeten schwieriger, vor allem für die Bewohner ärmerer Länder. Sie werden von den Folgen der Zerstörung eher und heftiger getroffen als die Bürger der Industrienationen.

Beispiel Fischerei: Obwohl über 90 Prozent der globalen Fischbestände bis ans Maximum befischt werden, gibt es kein funktionierendes Management. Selbst innerhalb der EU liegen die Fangquoten oft deutlich über den Empfehlungen der Experten. Das Ergebnis lässt sich an den Fangstatistiken ablesen. Obwohl die Flotten größer und effektiver werden, gehen die Wildfänge zurück. Das trifft vor allem jene Fischer, die mit kleinen Booten hinausfahren, um mit dem Fisch ihre Familien zu ernähren.

Aber ist das Aussterben von Arten nicht normal? Die Saurier starben ohne menschliches Zutun aus. Stimmt. In der 3,8 Milliarden Jahre alten Geschichte der Erde sind 99 Prozent aller Spezies wieder verschwunden. Allerdings meist durch Aufspaltung in eine oder mehrere Tochterarten – und nicht wie heute durch Ausrottung. Spezies sterben außerdem heute mindestens hundertmal schneller aus als in der Vergangenheit, vielleicht sogar mehr als tausendmal schneller. Eine solche Beschleunigung des Todes hat es in der Erdgeschichte nur sehr selten gegeben. Wissenschaftler haben fünf solcher Massensterben identifiziert, das letzte und bekannteste liegt 65 Millionen Jahre zurück. Damals schlug ein gewaltiger Asteroid auf der mexikanischen Halbinsel Yucatán ein und beendete die Ära der Dinosaurier. Am heutigen Artensterben ist kein Himmelskörper schuld. »Der Asteroid sind wir«, schrieb die Pulitzer-Preisträgerin Elizabeth Kolbert. Der Mensch destabilisiert das Erdsystem und führt einen Zustand herbei, in dem es unberechenbar wird. Die Motoren der Naturzerstörung sind bekannt, Wissenschaftler haben sie in einem Akronym zusammengefasst: Hippo.

H: Habitatverlust ist der wichtigste Faktor; etwa Lebensraumverluste durch den Klimawandel, die Abholzung der Regenwälder oder das Fluten von Tälern, um Wasserkraft zu gewinnen.

I: Invasive Arten werden von Menschen über den Planeten verschleppt. Sie verdrängen ansässige Pflanzen und Tiere oder übertragen Krankheiten. Seit zwei Jahrzehnten breitet sich ein Hautpilz über die Welt aus, der 99 Prozent der befallenen Frösche und Salamander tötet. Niemand kann ihn stoppen.

P (pollution): Menschen vergiften Lebensräume. Am anfälligsten sind Süßwassersysteme wie Flüsse und Seen. Aber auch Teile der Ostsee, eines Brackwassermeeres, sind im Sommer tote Zonen.

P (population growth): Im Jahr 2100 dürften elf Milliarden Menschen auf dem Planeten leben. Allerdings geraten Tier- und Pflanzenarten schon heute, bei weniger als acht Milliarden Menschen, unter Druck. Neben der Weltbevölkerung steigt auch das globale Konsumniveau, das all diese Effekte noch potenziert.

O (overhunting): Jagd oder Fischerei sind die direktesten Wege, Arten auszurotten. Ein sprichwörtliches Beispiel ist der Dodo. »As dead as a dodo«, sagen die Briten, wenn sie etwas für mausetot erklären. Der flugunfähige Vogel hatte keine Scheu vor den Seefahrern, die 1598 erstmals nach Mauritius kamen. Die freuten sich über leichte Beute. Der letzte lebende Dodo wurde 1662 gesehen.

Die Daten sprechen eine klare Sprache. Das sechste große Sterben ist in vollem Gange. Und anstatt es zu bremsen, wie es sich die Vereinten Nationen vorgenommen haben, beschleunigen wir es noch immer.

Wie geht es der Erde?

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