Читать книгу Wie geht es der Erde? - Petra Pinzler - Страница 13
ОглавлениеDAS LETZTE NASHORN
Am 19. März 2018 ist Sudan gestorben, das letzte männliche Nördliche Breitmaulnashorn. Mit dem mächtigen Bullen ist die ganze Art untergegangen. Ein Blick zurück in eine Zeit, als sie noch zu retten schien
VON NICOLA MEIER
Da steht es, mannshoch und 2500 Kilo schwer. Rupft Gras, geht ein paar Schritte, rupft wieder Gras. Mehr macht das Nashorn nicht. Trotzdem müssen an diesem Nachmittag Anfang Mai in Kenia zwei Fernsehteams aufpassen, dass sie sich nicht gegenseitig ins Bild laufen, während sie das Nashorn filmen.
Man kann im Reservat Ol Pejeta majestätische Elefanten sehen und elegante Giraffen, aber der Star ist ein träger Nashornbulle namens Sudan, auf ihn richten sich die Objektive. Etwas abseits der Fernsehteams öffnet jetzt ein Mann seinen Skizzenblock und zückt einen Stift. Es ist ein Maler aus England, extra angereist, um Sudan zu zeichnen, das inzwischen wohl bekannteste Nashorn der Welt. Sudan ist der letzte Bulle seiner Art, des Nördlichen Breitmaulnashorns.
Sudan wird nachts von bewaffneten Rangern vor Wilderern beschützt. Am Eingangstor von Ol Pejeta hängt ein Plakat mit einer Stellenanzeige. Zwei Ranger in Khaki sind zu sehen, sie halten ein Sturmgewehr in der Hand, darunter steht in dicken Lettern: »Wollen Sie Nashorn-Bodyguard werden?« Es ist ein Bild, das um die Welt gegangen ist. »Sudan braucht Waffenschutz: Bodyguards für das letzte Nashorn«, schrieben die Zeitungen im Frühling 2015, »Kampf ums Überleben: 24-Stunden-Wache für das letzte Nashorn«. Filmteams aus aller Welt reisten nach Ol Pejeta, um das Drama vom Aussterben der Nördlichen Breitmaulnashörner in die Wohnzimmer der westlichen Welt zu tragen. »Dies ist ein Bild von der Front«, urteilten die Journalisten in ihren Berichten, sie fragten: »Haben wir nichts gelernt seit der Eiszeit?«
Die Erinnerung bleibt: Das Nördliche Breitmaulnashorn Sudan ist tot
Jedes Jahr sterben mehrere Tausend Arten für immer aus. Auf der Roten Liste der Weltnaturschutzunion stehen aktuell 23.250 bedrohte Tiere und Pflanzen. Das ist traurig, und trotzdem interessiert es kaum jemanden, ob, zum Beispiel, in Ecuador bald der Stummelfußfrosch ausstirbt oder in Singapur die Süßwasserkrabbe. Nun aber hatte das Artensterben plötzlich ein Gesicht: das runzlige eines sehr alten Nashorns.
Drei Nördliche Breitmaulnashörner – ursprüngliches Verbreitungsgebiet: Zentral- und Ostafrika – gibt es nur noch auf der Welt, Sudan und die beiden Kühe Najin und Fatu, die in einem anderen Freigehege in Ol Pejeta grasen. Die drei haben, klar, ein breites Maul, unterscheiden sich aber vom Südlichen Breitmaulnashorn durch eine stärker geschuppte Haut, einen kürzeren Kopf und größere Füße. Touristen könnten das Nördliche kaum vom Südlichen Breitmaulnashorn unterscheiden, von dem es im Süden Afrikas noch 20.000 Exemplare gibt. Trotzdem wollen die Touristen unbedingt das Nördliche Breitmaulnashorn sehen. Es ist das Wissen darum, dass es nur noch Sudan, Najin und Fatu gibt, das die Menschen nach Kenia reisen lässt, um beim Anblick der drei zu erschaudern. Für die Vermarktung des Reservats ist das Aussterben des Nördlichen Breitmaulnashorns keine schlechte Sache. Auf seiner Website wird der Besuch der Tiere als »einmalige Gelegenheit« angepriesen.
Als aus Sudan ein weltbekanntes Nashorn wurde, war längst klar: Die bewaffneten Ranger würden ihn vielleicht vor Wilderern schützen, nicht aber seine Art erhalten können. Sudan ist 43 Jahre alt. Nashörner werden 40 bis 50, Sudan ist also bereits ein Greis. Seine Hoden sind verkleinert, die Qualität seiner Spermien ist miserabel, und er könnte sich gar nicht mehr lange genug auf den Hinterbeinen halten, um eine der beiden Kühe zu decken, Nashornsex dauert bis zu eineinhalb Stunden. Sudan hat aber sowieso keine Lust auf Sex. Er ist impotent. Auch die beiden Nashornkühe – sie werden ebenfalls bewacht – können sich nicht mehr fortpflanzen. Die jüngere, nur 16 Jahre alte Fatu hat eine vernarbte Gebärmutterschleimhaut und würde gar nicht erst schwanger werden. Najin, 26 Jahre, hat kaputte Achillessehnen und würde das zusätzliche Gewicht einer Schwangerschaft nicht aushalten.
Damit sind die Nördlichen Breitmaulnashörner nicht nur eine vom Aussterben bedrohte Tierart. Sie sind quasi ausgestorben. Oder haben sie noch eine letzte Chance?
Thomas Hildebrandts Institut: Eine Kinderwunschklinik für etwas größere Babys
An Sudans Gehege hängt ein Schild, darauf steht: »Deutsche Reproduktionsspezialisten entwickeln zurzeit Techniken für eine assistierte Reproduktion bei gefährdeten Nashornarten.«
Flughafen Berlin-Tegel, Ende November 2015. Thomas Hildebrandt, 52 Jahre alt, steht am Check-in-Schalter und testet, ob eine Vielfliegerkarte und nett fragen reichen, um ein Gepäckstück mehr aufgeben zu können, ohne extra zu zahlen. Neben ihm stehen drei Hartschalenkoffer und zwei große Kartons, gut 100 Kilo Ausrüstung. Am Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin leitet Hildebrandt die Abteilung für Reproduktionsmanagement. Er redet wie ein Wissenschaftler – »Der Prozess der Vitrifizierung einer Oozyte …« –, aber er sieht aus wie ein Tierarzt: Jeans, Pulli, Funktionsjacke. Zoos rufen bei ihm ungefähr zu dem Zeitpunkt an, zu dem ein Mann und eine Frau den ersten Termin in einer Kinderwunschklinik ausmachen würden: wenn es auf natürlichem Weg nicht klappt mit dem erwünschten Nachwuchs.
Hildebrandt ist so etwas wie ein Großtier-Gynäkologe mit mobiler Praxis, die Hälfte des Jahres ist er unterwegs, fliegt von Zoo zu Zoo, von Reservat zu Reservat, heute Dortmund, morgen Paris, übermorgen Borneo. Seinen Senator-Status hat Hildebrandt sich mit Economy-Meilen erflogen, obwohl lange fliegen gar nicht mehr so gut geht, die Bandscheibe. Zu verdanken hat er den kaputten Rücken einem Elefanten in den USA, in dessen Hintern Hildebrandts Arm gerade bis zur Schulter steckte, als der Elefant beschloss, sich hinzusetzen. »Nich so juut«, sagt Hildebrandt, Ur-Berliner, verheiratet mit einer Ärztin, gemeinsam haben sie eine Tochter. Deren Geburt hätte Hildebrandt fast verpasst, gerade rechtzeitig schaffte er es noch von Mauritius zurück nach Berlin.
Vielfliegerkarte und nett fragen reichen heute nicht, Hildebrandt zückt jetzt die Kreditkarte, 115 Euro pro Extra-Gepäckstück. Auch das: Nich so juut, er muss sparen, das Geld für die Reise hat er vom Budget seiner Abteilung abgeknapst. Sponsoren lassen sich für das, was er morgen in Salzburg vorhat, nicht finden. Zu wissenschaftlich, zu weit weg, sagen Naturschutzorganisationen. Zu praxisorientiert, sagen wissenschaftliche Stiftungen.
Mit Hildebrandt fliegen seine Kollegen Robert Hermes und Frank Göritz, mit beiden arbeitet er seit mehr als 20 Jahren zusammen. Die drei Männer sind so häufig am Berliner Flughafen, dass sie oft vom Bodenpersonal erkannt werden. Heute ist es der Mann am Sperrgepäckschalter, der auf Frank Göritz zeigt. »Dich kenn ich, du bist der mit den Elefanten!« – »Diesmal Nashörner«, sagt Göritz.
Hildebrandt, Hermes und Göritz sind Experten für die künstliche Besamung von Elefanten, sie können den Bullen Sperma entnehmen und die Kühe künstlich besamen, mehr als 40 Elefantenkälber sind mit ihrer Hilfe geboren worden. Auch Südliche Breitmaulnashörner haben sie bereits erfolgreich künstlich besamt. Könnten die beiden Kühe in Kenia noch ein Kalb austragen: Das Berliner Team wäre längst nach Kenia geflogen, im Gepäck das Besamungsbesteck für Nashornkühe und Sperma eines schon verstorbenen Bullen, das zu seinen Lebzeiten entnommen und eingefroren wurde. Weil das keine Option ist, will Hildebrandt jetzt etwas wagen, das er bisher noch nie gemacht hat: Er will den beiden Nashornkühen in Kenia unter Narkose Eizellen entnehmen und diese dann in vitro befruchten. In einem Labor würde, wenn alles klappt, der Embryo eines Nördlichen Breitmaulnashorns entstehen. Dieser soll dann wiederum der Kuh eines Südlichen Breitmaulnashorns einpflanzt werden, die ihn als Leihmutter austragen würde.
Ist das genial oder verrückt?
Bei Menschen sorgen Befruchtungen von Eizellen im Reagenzglas, bekannt als In-vitro-Fertilisation, schon seit Jahrzehnten erfolgreich für Nachwuchs bei bisher kinderlosen Paaren. Frauen lassen sich ihre Eizellen einfrieren, um sich mehr Zeit bis zum ersten Baby zu verschaffen. In einigen Ländern ist es auch erlaubt, dass Leihmütter für ein fremdes Paar ein Kind austragen.
Warum also sollte man nicht auch einem Nashorn Eizellen entnehmen?
Zuerst einmal: Das Ganze hört sich sehr viel leichter an, als es ist. Um über die Scheide einer Frau die Eierstöcke zu erreichen, muss ein Arzt etwa fünf Zentimeter überwinden. Mithilfe einer Ultraschallsonde kann er dann per Hand die Nadel führen, mit der die Follikel, jene mit Flüssigkeit gefüllten Bläschen um eine Eizelle, punktiert werden. Bei einem Breitmaulnashorn, dem Nördlichen wie dem Südlichen, liegen die Eierstöcke etwa eineinhalb Meter tief im Körperinneren. Sie mit der Hand zu erreichen ist unmöglich. Hildebrandt hat zehn Jahre gebraucht, aber jetzt glaubt er, eine Methode gefunden zu haben, mit der er das Problem lösen kann. Morgen wird er seine Technik erstmals ausprobieren, zur Sicherheit an einem Südlichen Breitmaulnashorn im Zoo von Salzburg. Das könnte der erste Schritt zur Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns sein.
»Star-Trek-Wissenschaft!«, schimpfen die Artenschützer über Hildebrandts Forschung
Flug AB8510 nach Salzburg, voll besetzt, bekommt keine Starterlaubnis. Thomas Hildebrandt sitzt in Reihe 11 am Gang und macht sich Sorgen. Vielfliegerwissen. Wenn ein Flug ausgebucht ist, kommt manchmal das Gepäck nicht mit. »Das wäre eine absolute Katastrophe«, sagt Hildebrandt. Im Salzburger Zoo wartet Kifaru, eine Südliche Breitmaulnashornkuh, Hildebrandts Übungsobjekt. Eine Woche wurde sie mit Hormonpräparaten behandelt, in der Hoffnung, dass in ihren beiden Eierstöcken viele Eizellen gleichzeitig heranreifen. Kifaru hat heute nichts zu fressen bekommen, damit sie nüchtern ist für die Narkose morgen früh. Hildebrandt hat zu seiner Übung auch extra eine Embryologin aus England dazugeladen, für die Arbeit am Mikroskop. Aber wenn nun einer der Koffer fehlt oder das Mikroskop … Mit Verspätung rollt die Maschine zur Startbahn. Hildebrandt setzt seine Kopfhörer auf und schließt die Augen.
Vor 50 Jahren gab es noch mehr als 2000 Nördliche Breitmaulnashörner, sie lebten in Uganda und dem Sudan, im Tschad und im Kongo. Erst waren es Bürgerkriege, die ihre Zahl verringerten, dann begannen Wilderer, die Tiere abzuschlachten, um an ihr Horn zu kommen, das in Asien als Wundermittel gegen Leiden von Impotenz bis Krebs begehrt ist. Seit 2008 gilt die Art – manche sagen: Unterart – in der Wildnis als ausgestorben. Damals begann die erste Debatte um das Nördliche Breitmaulnashorn.
Von den 22 Tieren, die man bis Mitte der siebziger Jahre in Zoos gebracht hatte, lebten 2008 noch acht: sechs im Zoo von Dvůr Králové in der Tschechischen Republik und zwei im Safari Park in San Diego, USA. Die Gefangenschaft hatte ihnen das Leben gerettet, einerseits. Andererseits pflanzten sich die Tiere im Zoo kaum fort. Das letzte Kalb kam im Jahr 2000 in Tschechien zur Welt. Der wahrscheinliche Grund für die schlechte Geburtenrate: Zu wenige Tiere lebten auf zu engem Raum zusammen. Revier markieren, beschnuppern, balzen: All das blieb aus. Artenschützer beschlossen den Umzug von vier Nashörnern aus Tschechien nach Kenia. Das Programm nannten sie Last Chance to Survive, »Letzte Chance zu überleben«. Im Dezember 2009 erreichten zwei Bullen und zwei Kühe das Reservat Ol Pejeta.
Hildebrandt schnaubt noch heute, wenn er darüber redet. Er war gegen den Umzug: In Kenia hatte niemand das Know-how für Fruchtbarkeitsuntersuchungen. Sollte »die Sonne Afrikas« das Problem nicht lösen, wäre wertvolle Zeit verloren.
Hildebrandt ist keiner, der sich nichts traut. Aufgewachsen in Ost-Berlin, stellte er schon als Schüler ein paar kritische Fragen zum System der DDR zu viel, trotz Einser-Abi durfte er nicht an die Uni, um Tiermedizin zu studieren. Notgedrungen lernte er Melker, gab den Job aber bald auf, um in der Tierpathologie der Universität zu arbeiten, das war näher dran an dem, was er eigentlich machen wollte. Erst einmal dort, krempelte er die Sektionshalle um, ein Professor unterstützte ihn schließlich mit einer Empfehlung, Hildebrandt durfte doch noch Tierarzt werden.
Je intensiver Hildebrandt sich während seiner Laufbahn mit assistierten Reproduktionstechniken beschäftigte, desto mehr stellte er fest: Auch in der Wildtierwelt geht es hochpolitisch zu.
Hildebrandts Methode wirft für klassische Artenschützer eine Menge Fragen auf. Jede dieser Fragen ist ein Dominostein. Hat man den ersten Stein umgestoßen, gibt es kein Zurück mehr, jede Frage führt zu noch einer Frage und die zu noch einer Frage. Die Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns im Labor würde eine Menge Geld kosten, argumentieren Hildebrandts Gegner – Geld, das für andere Programme eingesetzt werden könnte, die dem Erhalt von Lebensräumen und dem Schutz der Tiere vor Wilderern dienen. Ein Dominostein umgekippt. Würde man erst damit anfangen, Wildtiere im Labor zu retten: Wer würde entscheiden, welche gerettet werden und welche nicht? Würde der Stummelfußfrosch, den keiner kennt, gegen das Nördliche Breitmaulnashorn nur deshalb verlieren, weil das Nashorn sich besser vor der Kamera macht? Wieder ein Stein umgekippt. Unterscheiden sich Nördliches und Südliches Breitmaulnashorn überhaupt genug, um den Aufwand für die Rettung zu rechtfertigen? Wieder ein Stein. Und ganz am Ende wartet dann noch die ganz große Frage, die man immer stellen kann: Wo führt das überhaupt alles hin? Wer wird noch das Aussterben einer Art bedauern, wenn Wissenschaftler verkünden, dass sie sie im Labor nachzüchten können? »Star-Trek-Wissenschaft!«, schimpfen Artenschützer, die einen wie Hildebrandt nie zu ihrem Kreis zählen würden. Schon künstliche Besamung lehnen viele von ihnen als unnatürlich ab.
Seit 2007 kamen in europäischen Zoos sieben Südliche Breitmaulnashörner zur Welt, dank künstlicher Besamung mithilfe von Hildebrandt und Kollegen. In all den Jahren wartete man in Kenia auf ein natürliches Wunder, auf ein Kalb, das aus acht Nördlichen Breitmaulnashörnern – vier in Ol Pejeta, zwei in San Diego, zwei in Dvůr Králové – neun machen würde.
Im Mai 2011 starb Nashornkuh Nesari in Dvůr Králové an Altersschwäche.
Im Oktober 2014 fand man den Nashornbullen Suni tot in Ol Pejeta in seinem Freigehege.
Nach Sunis Tod lud das Reservat Ol Pejeta Thomas Hildebrandt und seine Kollegen nach Kenia ein, um die drei noch lebenden Nashörner zu untersuchen. Das Ergebnis, jetzt medizinisch gesichert: Weder Sudan noch die beiden Kühe kamen noch für die natürliche Fortpflanzung infrage. Das Projekt »Letzte Chance« war gescheitert.
Im tschechischen Zoo Dvůr Králové, dem die Nashörner in Kenia nach wie vor gehörten, hatte es mittlerweile einen Direktorenwechsel gegeben. Und was Jahre vorher abgelehnt worden war, wurde nun plötzlich offen diskutiert: Mehrmals reiste Hildebrandt nach Dvůr Králové, um über die Optionen einer Eizellentnahme zu sprechen.
Im Dezember 2014 starb Nashornbulle Angalifu in San Diego, auch in diesem Fall: Altersschwäche.
Erst gab es Meldungen (»Seltenes Nashorn tot«), dann Berichte (»Nashorn-Art kurz vor dem Aussterben«), schließlich, im Frühling 2015, dank Sudan und seinen Bodyguards, lange Artikel. Mit Verspätung nahm die Öffentlichkeit Notiz vom Aussterben einer Art.
Im Juli 2015 starb Nashornkuh Nabire in Dvůr Králové – eine 100 Kilogramm schwere Zyste am Eierstock war geplatzt.
Jetzt waren es noch vier Nördliche Breitmaulnashörner, drei in Ol Pejeta, eines in San Diego.
Im Oktober flog Hildebrandt mit dem Zoodirektor aus Dvůr Králové nach Kenia. Aus einer Idee wurde ein Plan, gewissermaßen das Projekt »Allerletzte Chance«.
In Salzburg gelandet, wartet Hildebrandt am Gepäckband. Erst als drei Hartschalenkoffer und zwei große Kartons vom Rollband geklaubt sind, entspannt er sich. Es geht auf Mitternacht zu, als der Taxifahrer vor einer Pension in Salzburg hält. »Zum Schießen hier?«, fragt er, als er eine lange, schmale Hartschalenbox aus dem Kofferraum zieht. »Nee«, sagt Hildebrandt. »Wir retten Tiere.«
Um sechs Uhr morgens stehen das Berliner Team und die englische Embryologin im Dunkeln vor dem Eingang der Pension, eine Tierärztin des Salzburger Zoos holt sie ab. »Hast du meine E-Mail noch bekommen?«, fragt Hildebrandt sie. »Wie viele Tische haben wir? Zwei? Vier?« Er ist keiner, der sich mit Höflichkeiten aufhält, wenn es an die Arbeit geht. So nett und redefreudig Hildebrandt normalerweise ist, so kurz angebunden ist er, wenn ein Einsatz ansteht.
In der Tierklinik des Salzburger Zoos öffnet Hildebrandt Koffer und Kartons. Nach ein paar Minuten sieht der Tisch vor ihm so aus, als ob ein Handwerker und ein Chirurg sich den Arbeitsbereich teilen müssten. Latexhandschuhe liegen neben einem Werkzeugkoffer, Spritzen neben Schraubenschlüsseln. Hildebrandt setzt zusammen, was er »die Hardware« nennt.
Zwei anderthalb Meter lange Stahlteile liegen auf dem Tisch, eins eine Art flache Schiene, das andere gewölbt. An das Ende der Schiene schraubt Hildebrandt jetzt einen länglichen Ultraschallkopf und eine Plastikhalterung. In der Plastikhalterung befestigt er eine Hohlnadel, Durchmesser: 1,9 Millimeter. Die dazugehörige Kanüle führt Hildebrandt durch die Schiene, dann verschließt er die Schiene mit dem gewölbten Stahlteil.
Das Gerät für die Eizellentnahme ist fertig zusammengebaut.
Um halb neun liegt die Südliche Breitmaulnashornkuh Kifaru betäubt in der Ecke ihres Stalls, ein Handtuch über den Augen. Frank Göritz steht an ihrem Kopf und überwacht Sauerstoffsättigung und Puls. Ohne Risiko ist der Eingriff nicht, schon die Vollnarkose ist für eine Nashornkuh gefährlich. Je schwerer ein Tier ist, desto eher kann es im Liegen zu Durchblutungsstörungen kommen.
Thomas Hildebrandt und Robert Hermes knien nebeneinander an Kifarus Hinterteil, neben ihnen im Stroh liegt ein tragbares Ultraschallgerät. Hermes drückt seinen rechten Arm in Kifarus Anus, er entleert den Darm des Nashorns.
In mehreren Versuchen hatte Hildebrandt am lebenden, narkotisierten Objekt ausprobiert, eine Ultraschallsonde über die Scheide eines Breitmaulnashorns weit genug einzuführen, um die Eierstöcke zu erreichen. Es hatte nicht geklappt. Also beschloss er, es über den Darm zu versuchen. Er ließ die Teile entwickeln, die er heute Morgen in der Tierklinik zu seiner Entnahmestange zusammengebaut hat, testete die Apparatur und baute sie um. Viele Wochenenden tüftelte er mit einem befreundeten Ingenieur an der Lösung. In welchem Winkel muss die Nadel ausgerichtet sein? Wie viel Kraft braucht man, um erst die Darmwand zu durchstechen und dann den Follikel zu treffen? Hildebrandt glaubt, dass er die Antwort auf die Fragen kennt. Ob er richtigliegt, wird er heute erfahren. Mit der Nadel durch den Darm zu stechen birgt die Gefahr, dass Bakterien in den Bauchraum des Nashorns gelangen. Deshalb spült und desinfiziert Robert Hermes den leeren Darm jetzt mehrmals. Dann führt er den Ultraschallkopf ein, nach und nach verschwindet die Entnahmestange in Kifarus Anus. Hildebrandt starrt auf den Bildschirm des Ultraschallgeräts. Wenn sie Glück haben, werden im Grau-in-Grau gleich schwarze Kugeln erscheinen: die Follikel. »Sind ja nicht so viele«, murmelt Hildebrandt, als sie beim rechten Eierstock sind. »Noch mal da rüber.« Kaum zu erkennen, dass Hermes die Stange bewegt, alles ist jetzt Millimeterarbeit. Man könne sich das so vorstellen, wird Hildebrandt später sagen, als wenn man einen Apfel an einer Schnur aufhängt und versucht, mit einer Nadel einen seiner Kerne zu treffen. Das Fruchtfleisch ist die ein Zentimeter dicke Darmwand des Nashorns. Der Kern ein Follikel.
Hildebrandt lässt seine rechte Hand jetzt zum Griff am Ende der Entnahmestange wandern. Von dort wird die Nadel mit einem Impuls gesteuert. Wie genau das geht, darf hier nicht stehen: Hildebrandt hat seine Erfindung zum Patent angemeldet. Das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, wenn die Nadel ein arterielles Blutgefäß treffen würde. Dann könnte es schlecht ausgehen für das Nashorn.
Auch der Erzbischof hat ein Herz für Nashornbabys – trotz künstlicher Besamung
Hildebrandts und Hermes’ Gesichter sind vor Anspannung zu Grimassen verzerrt. Kein Blutgefäß darf sich jetzt zwischen Ultraschallkopf und Nadel schieben. Hildebrandt löst den Impuls aus. Dann hämmert er mit der Hand auf ein Pedal, das neben ihm liegt. Es gehört zu einer Pumpe, die nun die Flüssigkeit des punktierten Follikels – und damit hoffentlich die Eizelle – absaugt und durch die Kanüle in ein Reagenzglas befördert.
Um kurz nach zehn sind sie fertig. Frank Göritz spritzt das Nashorn wach. »Kann mich wer in die Klinik rüberfahren?«, ruft Hildebrandt. Er hat es eilig, die Proben aus den Reagenzgläsern unter dem Mikroskop zu sehen, zwanzigfach vergrößert. Erst dann wird klar sein, ob sie Eizellen erwischt haben. Während die anderen jetzt Pause haben, beginnt für Hildebrandt der zweite Teil der Arbeit.
In der Tierklinik setzt sich die Embryologin aus England ans Mikroskop. Sie leert das erste von 29 Reagenzgläsern in eine Petrischale und schiebt die Schale unter das Objektiv.
Probe Nummer 1: nichts.
Probe Nummer 2: auch nichts.
Bei Probe Nummer 3 ist was. Hildebrandt guckt selber. »Eine kleine«, sagt er. »Richtig schick ist die aber nicht …« Auf einen Zettel schreibt er: »Tube 3 sehr kleine Oozyte.«
Nummer 4, Nummer 5, Nummer 6: nichts.
Im Café des Zoos, drei Minuten zu Fuß von der Tierklinik, sitzen unterdessen die anderen, trinken Kaffee und essen Apfelstrudel mit Vanillesoße. Die Stimmung ist gelöst, Kifaru geht es gut. Eine Mitarbeiterin des Zoos erzählt, dass der Erzbischof Nashornbaby Tayo getauft habe, ein Exemplar des Südlichen Breitmaulnashorns. »Waaas? Trotz künstlicher Besamung?«, blödeln Göritz und Hermes. »Also, unbefleckt war die Empfängnis nicht, so viel können wir sagen.« Göritz und Hermes haben bei der Besamung mitgeholfen.
In der Tierklinik ist Hildebrandt eine Stunde später bei Probe Nummer 25 von 29. Es gab keinen weiteren Fund, Hildebrandts Stirn liegt in Falten. Die Embryologin schiebt die Petrischale mit Probe Nummer 25 hin und her.
»Nothing?«
»No.«
Nummer 26, 27, 28: nichts.
Nummer 29: auch nichts.
»Scheiße«, flucht Hildebrandt, guckt auf seinen Zettel, auf dem steht »Tube 3 sehr kleine Oozyte«. »Ich dachte, da kommt noch mehr drauf«, sagt er und zerknüllt den Zettel.
Eine Mitarbeiterin des Zoos will die Eizellen abholen. »Wir haben nichts zu transportieren«, sagt Hildebrandt.
Im Café senkt Hildebrandt den Daumen. Die ausgelassene Stimmung kippt. Die nächste Viertelstunde verbringen die Männer damit, zu fachsimpeln, woran es gelegen haben könnte. An dem einen großen Follikel, der die anderen unterdrückt hat? Am falschen Zeitpunkt der Entnahme? Buchstabenreihen werden diskutiert, CMA, FSH, HCG, GNRH, jedes Kürzel steht für ein Hormon, dessen Einsatz sie nun überdenken müssen.
Auf dem Weg zum Flughafen ruft Hildebrandt den Mann an, der die Eizellen – hätten sie welche gefunden – untersuchen sollte: Cesare Galli in Italien, spezialisiert auf In-vitro-Befruchtungen bei Pferden und Rindern und mittlerweile Verbündeter in Sachen Nashornrettung. Neben Thomas Hildebrandt, Frank Göritz und Robert Hermes ist er sozusagen der vierte Mann im Berliner Team. »Ich schreibe schnell Cesare«, sagt Hildebrandt, wenn er irgendwo auf seinen Flieger wartet. »Ich rufe schnell noch mal Cesare an«, wenn die Schlange zum Boarden noch für ein Gespräch reicht.
Nach dem Telefonat ist er optimistisch, Galli hat ihm Mut gemacht. Sie werden es wieder versuchen.
Zwei Monate später, Ende Januar 2016, holt ein Kurier bei der Tierklinik des Salzburger Zoos eine Sendung ab. Adressat: Laboratorio di Tecnologie della Riproduzione in Cremona, Italien. Inhalt des Päckchens: zwei daumenlange Röhrchen mit Flüssigkeit, in denen je eine Eizelle der Südlichen Breitmaulnashornkuh Kifaru schwimmt.
Neonlicht, gefilterte Luft, konstante 25 Grad. So wenig Cesare Gallis Arbeitsplatz an die afrikanische Savanne erinnert: Hier könnte sich in einer Petrischale die Zukunft des Nördlichen Breitmaulnashorns entscheiden. Cesare Galli ist ein schmaler Mittfünfziger mit Halbglatze und randloser Brille. 1999 hat er als Erster ein Rind geklont und dann, 2003, als Erster ein Pferd. Beim Klonen entsteht im Labor ein genetischer Zwilling eines Lebewesens, als Basis dient eine Körperzelle. Auch ein Nashorn-Klon wäre theoretisch denkbar. Ein Schritt, den das Berliner Team bisher nicht plant, weil ein genetischer Zwilling von Sudan vielleicht eine wissenschaftliche Sensation wäre, zur Arterhaltung aber wenig beitragen würde. »Für die Arterhaltung braucht es genetische Vielfalt«, sagt Hildebrandt.
Die Konkurrenz aus San Diego versucht es mit Stammzellen
Cesare Galli hat also Kifarus Eizellen, die der Kurier Ende Januar bei ihm abgeliefert hat, 36 Stunden nach der Entnahme in einer Petrischale befruchtet. Mit einer Nadel, so fein, dass ihre Spitze kaum sichtbar ist, hat er das Spermium eines Südlichen Nashornbullen injiziert. Es war die nächste Stufe der Tests mit Südlichen Nashörnern, bevor sich die Wissenschaftler an die Nördlichen Nashörner heranwagen.
Von der Befruchtung in der Petrischale erzählt Cesare Galli erst Monate später, bei den ersten Versuchen von etwas so Neuem wollte er keine Zuschauer im Labor. Eine der beiden Eizellen habe sich nach ihrer Befruchtung erst in zwei, dann in vier Zellen geteilt, sagt Galli, sie war auf dem Weg, zu einem Embryo heranzuwachsen. Um das sogenannte Blastozysten-Stadium zu erreichen, von dem an ein Embryo in eine Gebärmutter transferiert werden kann, hätte sich die befruchtete Zelle zwar noch weiter teilen müssen, insgesamt siebenmal, also in 128 Zellen. Bei der dritten Teilung ging etwas schief, bei fünf Zellen war Schluss.
Ist das jetzt ein Erfolg oder ein Misserfolg? Wenn es darum geht, einen Embryo herzustellen: ein Erfolg, sagt Cesare Galli. Zwei Eizellen, eine auf dem Weg zum Embryo: keine schlechte Quote. Wenn es darum geht, ein niedliches Nashornkalb entstehen zu lassen, das vor den Augen der Weltöffentlichkeit herumspringt: nur ein kleiner Schritt nach vorn. Bis ein Kalb geboren wird – falls es überhaupt jemals klappt –, wird es noch eine Weile dauern, nicht nur, weil eine Nashornkuh 16 Monate trächtig ist. Es brauche etwa 100 Embryonen, bis es zu einer Geburt komme, sagt Galli. Ein Wettlauf gegen die Zeit, und Cesare Galli ist nicht sicher, ob er zu gewinnen ist.
»Es kann auch schneller gehen«, sagt Thomas Hildebrandt. »Es muss schneller gehen.« Und: »Wir sind nah dran.«
Natürlich, es wäre besser gewesen, früher anzufangen, sagt er, und darin schwingt ein Vorwurf mit. An ihm hat es ja nicht gelegen. Er hat versucht, den Umzug der Tiere nach Kenia zu verhindern. Er hat versucht, Geld für seine Forschungen zu bekommen, hat bei Stiftungen geworben und EU-Büros abgeklappert: ohne Erfolg. Der tschechische Zoo Dvůr Králové, dem die Tiere gehören, hat ihnen einmalig 50.000 Euro zur Verfügung gestellt.
Selbst jetzt, da Medien auf der ganzen Welt über das Aussterben der Nashörner berichten, gibt es keine Ressourcen. Manchmal überschlägt Hildebrandt im Kopf, wie viele Euro zusammenkämen, wenn er all das Geld der Fernsehteams zur Verfügung hätte, die nach Kenia fliegen. »Wenn wir eine halbe Million hätten«, sagt Hildebrandt, »dann hätten wir dieses Jahr noch einen Embryo.« Sein Team würde dann jede Woche Eizellen entnehmen, nicht alle paar Wochen. Hildebrandt hätte endlich bessere Chancen gegenüber der Konkurrenz.
San Diego. Auch amerikanische Forscher schmieden längst Pläne für die Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns. Sie setzen auf Stammzellforschung und hoffen, Eizellen und Spermien bald künstlich erschaffen zu können. Im sogenannten Frozen Zoo, einem fensterlosen Raum im Forschungszentrum des Safari Park, lagern seit vielen Jahren Hautzellen mehrerer bereits verstorbener Nördlicher Breitmaulnashörner, sogenannte Fibroblasten.
Die Forscher aus San Diego haben es als Erste geschafft, Nashorn-Fibroblasten zu Stammzellen umzuprogrammieren – genauer gesagt: zu pluripotenten Stammzellen. Stammzellen gibt es sonst nur in Embryonen, aus ihnen entwickeln sich alle anderen Körperzellen. Jetzt sollen aus den Stammzellen Eizellen und Spermien werden. Was wie eine Wissenschaft aus einer sehr fernen Zukunft klingt, hat bei Mäusen bereits geklappt. Der Japaner Shinya Yamanaka und der Brite John Gurdon konnten aus Hautzellen erst Stammzellen und dann lebensfähige Mäuse erschaffen und bekamen für ihre Arbeit 2012 den Nobelpreis für Medizin. Seitdem scheint nichts mehr unmöglich, auch nicht, dass irgendwann aus einem eingefrorenen Fetzen Haut im Labor ein Nashorn entsteht.
Hätte das Team des Frozen Zoo in San Diego Erfolg, würde es keine Rolle mehr spielen, ob noch Nördliche Breitmaulnashörner leben oder nicht. Resurrection biology oder de-extinction, also Rück-Ausrottung, nennen sich Versuche, ausgestorbene Tiere im Labor wiederauferstehen zu lassen, bisher vor allem durch Klon-Technik. Die bekannteste Vision kommt aus Hollywood: In Jurassic Park werden Dinosaurier wieder zum Leben erweckt. Was im Film gezeigt wird, ist in Wirklichkeit unmöglich. Die Dinosaurier sind zu lange ausgestorben, als dass ihr komplettes Erbgut noch irgendwo erhalten sein könnte, sodass man sie klonen könnte. Und die bislang einzige Wiedergeburt eines ausgestorbenen Tieres endete in einem Misserfolg: 2003 schleusten Wissenschaftler eingefrorene Körperzellen eines Pyrenäensteinbocks in die Eizelle einer Hausziege ein, den Embryo trug eine Leihmutter aus. Das Steinbockjunge hielt nur sieben Minuten durch, seine Lungen versagten.
Die künstliche Erschaffung von Eizellen und Spermien könnte eine neue Ära des Artenschutzes einleiten. In einer Pressekonferenz verkündeten die Forscher in San Diego im November ihren Plan zur Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns. Nicht nur das: Sechs Südliche Breitmaulnashornkühe, potenzielle Leihmütter, hatte der Zoo zu diesem Zweck bereits aus Südafrika nach San Diego fliegen lassen.
Die Amerikaner hatten den Termin klug gewählt. Am 22. November 2015, zehn Tage nachdem sie an die Presse gegangen waren, starb Nashornkuh Nola in San Diego. Von den vier letzten Nördlichen Breitmaulnashörnern blieben nur noch drei. Es war kein überraschender Tod, Nola war schon lange schwer krank. Sie wurde eingeschläfert. Die Berichte nach ihrem Tod trugen Überschriften wie »Nola, Ikone der Tierwelt, ist tot«, auf Twitter wurde mit dem Hashtag # RIPnola und weinenden Smiley-Emojis getrauert. Und ganz nebenbei war den Amerikanern die größtmögliche Aufmerksamkeit für ihre Rettungspläne gewiss.
Thomas Hildebrandt fühlte sich übergangen. Mit den Forschern aus San Diego ist er seit Jahren in Kontakt. Auch deutsche Genetiker aus Berlin und München forschen mit Stammzellen, und auch sie hatten im Sommer 2015 – nach den Amerikanern – aus den Hautzellen eines Nashorns Stammzellen erschaffen.
»Ich muss schnell duschen, ich hab in Nashornkacke gelegen«
Bisher hatten die Deutschen und die Amerikaner alle Erkenntnisse geteilt und die Optionen eines gemeinsamen Rettungsplans für die Nördlichen Breitmaulnashörner diskutiert. Aber jetzt waren die Amerikaner mit ihrem eigenen Plan an die Presse gegangen, ohne Hildebrandt zu informieren. Die Arbeit des Berliner Teams und der deutschen Genetiker hatten sie mit keinem Wort erwähnt. Auf einmal schien alles allein ihre Sache zu sein. »Imperialismus!«, rutschte es Hildebrandt raus. Die Rettung des Nördlichen Breitmaulnashorns war damit nicht mehr nur ein Wettlauf gegen die Zeit. Sie war auch zu einem Wettkampf zwischen San Diego und Berlin geworden. Nach ein paar Krisentelefonaten besserte sich das Verhältnis zwar wieder. Es gut zu nennen wäre übertrieben.
Im Februar 2016, drei Monate nach Nolas Tod und dem Streit um die Pressekonferenz, eilt Thomas Hildebrandt nach einem langen Tag im Safari Park durch die Lobby seines Hotels in San Diego. Er ruft: »Ich muss schnell duschen, ich hab in Nashornkacke gelegen.«
Die Amerikaner veranstalten einen Kongress, ihre Gäste haben sie in einem der besten Häuser der Stadt einquartiert. Gleich gibt es ein Galadiner, morgen werden sie alle auf einem Boot durch den Hafen von San Diego schippern. Die Amerikaner, sagt Hildebrandt, haben Geld. Gerüchteweise hat er gehört, dass Mäzene einen zweistelligen Millionen-Dollar-Betrag zur Verfügung gestellt haben. Eine offizielle Auskunft zu den Zahlen ist nicht zu bekommen, sicher ist nur: Allein zwei Millionen wurden nach dem Tod von Nola gespendet. Hildebrandt, der arme Verwandte aus Deutschland, ahnt, warum er nach San Diego eingeladen wurde: Er soll den Amerikanern zeigen, wie man die Südlichen Breitmaulnashörner, die der Frozen Zoo gekauft hat, per Ultraschall untersucht. Auch die Amerikaner würden gern Eizellen entnehmen können, glaubt Hildebrandt. Denn trotz aller Erfolge in der Stammzellforschung, auch San Diego würde gern in die Erforschung natürlicher Eizellen einsteigen.
Nach einer Viertelstunde sitzt Thomas Hildebrandt frisch geduscht vor dem Restaurant des Hotels. Am Tier, sagt er, sei man den Amerikanern noch weit voraus, das hätten die Ultraschalluntersuchungen heute gezeigt. Er sieht sehr zufrieden aus.
Die Amerikaner machen weiter mit ihren Stammzellen, Hildebrandt macht weiter mit seinen Eizellen.
Ende Februar findet Hildebrandt bei einer Entnahme in Budapest Eizellen, aber sie überstehen den Transport nach Italien zu Cesare Galli nicht. Eigentlich wollte Hildebrandt jetzt schon viel weiter sein. Er dachte, er könnte bald einer der Nördlichen Nashornkühe in Kenia Eizellen entnehmen. Aber immer wieder muss er darüber diskutieren, ob der Eingriff überhaupt Sinn macht. Ob man so ein Verfahren, gerade erst entwickelt und bisher kaum erprobt, wirklich bei einer so seltenen Tierart einsetzen darf.
Berlin telefoniert mit Dvůr Králové, Dvůr Králové mit Ol Pejeta, Ol Pejeta mit San Diego und San Diego mit Berlin. E-Mails werden hin- und hergeschickt. Wieder steht alles auf der Kippe. Schließlich wird eine Konferenz in Kenia einberufen, um zu entscheiden, wie es weitergeht.
Anfang Mai steht Thomas Hildebrandt um Viertel nach acht morgens auf der Terrasse eines Flachbaus aus Stein, eine Viertelstunde entfernt von Sudans Gehege, die grauen Haare verstrubbelt und in der Hand eine Tasse Nescafé, vor ihm eine afrikanische Landschaft wie aus dem Bilderbuch: Akazienbäume ragen in den strahlend blauen Himmel, die Sonne scheint, Vögel zwitschern. Eine internationale Gruppe von Reproduktionsexperten und Artenschützern wird heute gemeinsam mit den tschechischen Besitzern der Tiere entscheiden, ob sie das Wagnis einer Eizellentnahme eingehen sollen oder nicht.
Eine BBC-Mitarbeiterin nestelt Hildebrandt ein Ansteckmikrofon ans T-Shirt und lässt die Kabel unter seinem geringelten Jack-Wolfskin-Pulli verschwinden. Es sind dieselben Klamotten, mit denen er vor zwei Tagen in Berlin in den Flieger gestiegen ist. Sein Kinn ist stoppelig, sein Elektrorasierer ist mit dem Koffer verloren gegangen, irgendwo zwischen Istanbul, wo Hildebrandt seinen Anschlussflug verpasste, und Nairobi, wo er schließlich nach einem Umweg über Dubai landete, 30 Stunden Reise in den Knochen, nicht einmal die Klamotten gewechselt. »Was soll’s«, sagt Hildebrandt, »Parfümchen drauf.«
»Was wollen Sie heute erreichen?«, fragt die Reporterin der BBC. »Unser aller Ziel ist es, den Prozess des Aussterbens zu stoppen«, sagt Hildebrandt. »Was die nächsten Schritte der einzelnen Beteiligten sein werden, das müssen wir heute diskutieren.« Als die Kamera aus ist, sagt Hildebrandt: »Heute gibt’s Streit.«
Um kurz vor neun betritt er das Bürogebäude von Ol Pejeta, eine schmale Treppe führt in den ersten Stock, ein langer Flur ins Konferenzzimmer. In der Mitte des Raums stehen zwei zusammengeschobene Tische, darum Plastikstühle. Hildebrandt schüttelt Hände und lächelt Hallos, er setzt sich hin, rechts von ihm ein Reproduktionsexperte aus Südafrika, links der Pressesprecher des Zoos Dvůr Králové, dem die Tiere gehören. Sie sind zu elft, zehn Männer und eine Frau.
Um zwei Minuten nach neun schließt sich die Tür des Konferenzraums. Erst um zwanzig vor drei am Nachmittag öffnet sie sich wieder. Die Luft ist verbraucht, die Gesichter sind erschöpft. Fast sechs Stunden haben sie um eine Lösung gerungen.
Die Amerikaner, die während der Konferenz über Skype zugeschaltet waren, haben gemeinsam mit den Berlinern fürs Weitermachen plädiert. Der wissenschaftliche Ehrgeiz hat die beiden Seiten versöhnt, der Rettungsplan ist wieder ein gemeinsamer. Sie wollen es zunächst mit Hildebrandts Methode versuchen und sich in einigen Jahren, wenn man hoffentlich so weit ist, mit der Stammzelltechnik aus San Diego an die Erschaffung einer ganzen Herde machen.
Im Herbst soll Hildebrandt Najin und Fatu Eizellen entnehmen, als vorläufigen Termin legen die Forscher den 12. Oktober 2016 fest. Dem Berliner Team muss es allerdings vorher gelingen, einen 128-Zellen-Embryo vom Südlichen Breitmaulnashorn zu erschaffen, das ist der Beschluss der Konferenz.
Thomas Hildebrandt braucht jetzt einen Embryo, unbedingt.
Am späten Nachmittag besucht Hildebrandt die Nashörner. Das BBC-Team will drehen, aber Sudan döst in der Ecke seines kleinen, von hohen Baumstämmen umschlossenen Extra-Geheges, wo er die Nächte verbringt. Keine guten Bilder. Also versuchen die Pfleger, ihn durch das weit geöffnete Tor in sein Freigehege zu bekommen. Sie wedeln mit Heu, sie klappern mit einem Eimer voller Mohrrüben. »Sudan«, rufen sie, »nun komm schon, Junge!« Ein Pfleger hält ihm eine Mohrrübe vor die Nase. Das Nashorn trottet los, schleppt seine 2500 Kilo mit langsamen Schritten vorwärts.
Nur zwei Jahre seines Lebens hat Sudan in Freiheit gelebt, dann fing man ihn im Südsudan ein, von der Heimat blieb ihm nur der Name. 34 Jahre lebte er im tschechischen Zoo Dvůr Králové, knapp sieben in Ol Pejeta, wo es nach 200 Metern Weg jetzt immerhin nach natürlichem Lebensraum aussieht, nach afrikanischer Savanne und weitem Himmel, nach einem Leben in Freiheit. Schöne Bilder für die Zuschauer, der dünne Elektrozaun ist zu weit weg, als dass er auffallen wird.
Wilde Tiere in engen Zookäfigen, das lässt sich heute kaum noch rechtfertigen. Zoos, die Wildtiere halten, bemühen sich um große Gehege und artgerechte Haltung. Aber Sudan war zu alt, um sich noch an die neue Freiheit zu gewöhnen. Najin und Fatu sind weniger zahm, neben ihnen kann man auch nicht einfach so herlaufen. Hildebrandt betrachtet die beiden Kühe aus sicherer Entfernung.
Das Schlimmste wäre die Schlagzeile »Verrückter Wissenschaftler tötet Nashorn!«
Die BBC hat aufgehört zu drehen. Ganz alleine steht Hildebrandt jetzt da und guckt die beiden Nashornkühe an, wie sie grasen. »Dass es die bald nicht mehr geben soll …«, murmelt er. Es wäre ein guter Moment für die Kamera gewesen, einer, der einen sofort glauben lässt, dass es ihm um die Tiere geht, dass er all das auf sich nimmt, weil er sie nicht aussterben lassen will.
Hildebrandt weiß, unter welchem Druck er steht. Gelingt ihm am 12. Oktober, was er vorhat, werden die Medien ihn als Helden feiern, der alles riskiert hat, um eine Tierart vor dem Aussterben zu bewahren. Wenn es nicht gelingt, wird allerdings auch jemand die Schuld bekommen: höchstwahrscheinlich er. Und wenn alles schiefgeht … Daran mag er lieber gar nicht denken. »Verrückter Wissenschaftler tötet Nashorn!«, er kann sich die Schlagzeile schon vorstellen, wenn bei der Eizellentnahme eins der drei letzten Nashörner verbluten würde.
Eine Woche nach der großen Konferenz in Afrika wird Thomas Hildebrandt im Schweriner Zoo fünf daumenlange Röhrchen in eine Styroporbox stecken, in jedem Röhrchen wird eine Eizelle schwimmen. In Cremona wird Cesare Galli zwei der Eizellen in einer Petrischale befruchten, eine wird sich teilen. Wieder nicht oft genug, wieder kein Embryo. Es wird eng bis Oktober. Aufgeben? Wäre Hildebrandt so einer, er hätte erst gar nicht angefangen. Die nächsten Termine hat er schon im Kalender: Budapest und Montpellier.
Und sollte es mit dem Nördlichen Breitmaulnashorn nicht klappen: Hildebrandts nächste Rettungsmission steht längst fest. Mit seinem Team war er kürzlich auf Borneo. Denn auch das Borneo-Nashorn ist kurz vorm Aussterben. Es gibt noch drei Exemplare. Einen Bullen und zwei Kühe.