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Die Herausforderung der islamischen Welt durch die Moderne

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Viele Araber litten unter der Erinnerung an einstige Größe. Zunächst hatten ihnen die Osmanen das Kalifat entwendet. Dann hatten Europäer seit dem 19. Jahrhundert arabische Länder direkter oder, wie im Falle Ägyptens, auch indirekter Kontrolle unterworfen. Die einstige »Mitte der Welt« (Tamim Ansary) wurde an den Rand eines nun eurozentrischen Weltsystems gedrückt, wobei der Nahe Osten überwiegend erst nach dem Versailler Vertrag 1919 und auch nur halbherzig kolonisiert wurde. Europas unleugbare Stärke rief Reformer auf den Plan. Signifikante Teile der arabischen Eliten, insbesondere in Ägypten, Palästina und Syrien, orientierten sich an westlichen Modellen, schlossen sich habituell der Moderne an: Sie lernten Französisch oder Englisch, kleideten sich westlich; wer es sich leisten konnte, machte Urlaub an der Riviera und schickte seine Kinder auf europäische Schulen und Universitäten.

Schon in den 1930er Jahren lebten, so Albert Hourani in seiner monumentalen Geschichte der arabischen Völker, große Teile der städtischen Bevölkerung nicht mehr im Rahmen der überlieferten islamischen Rechtsgrundsätze der Scharia. Vielmehr hatten arabische Reformer wie europäische Kolonisatoren duale Rechtssysteme etabliert, wonach Straf- und Zivilrecht westlichen Mustern folgten und die Scharia auf persönliche Angelegenheiten beschränkt wurde. Dadurch öffnete sich eine Schere zwischen Stadt und Land, wo die Scharia weiter durchgesetzt wurde. Bezeichnende Ausnahme war das nach dem Ende des Osmanischen Reichs unabhängig gewordene Saudi-Arabien. Es behielt die Einheit von religiösem und staatlichem Gesetz bei, der Wahhabismus wurde Staatsreligion. Dank seines Ölreichtums machte Saudi-Arabien dem immer chaotischer wirkenden Ägypten den Rang streitig. Auch sorgten die Saudis für die missionarische Ausbreitung ihrer erzkonservativen Lesart des Korans in alle Welt.

Zuvor hatte der Erste Weltkrieg für viele westlich orientierte arabische Intellektuelle, Politiker und religiöse Führer mit einer bitteren Enttäuschung geendet. Die mit den Arabern verbündeten Briten bedienten sich entgegen früheren feierlichen Versprechungen in einem mit den Franzosen ausgeheckten Komplott (Sykes-Picot-Vertrag 1916) reichlich an der Konkursmasse des Osmanischen Reiches: Ägypten, der Irak, Palästina und Transjordanien wurden britisch besetzt, Syrien und der Libanon französische Mandate. Auf türkische folgte europäische Fremdherrschaft. Neue Grenzen wurden gezogen, die heilige Stadt Jerusalem erneut von Ausländern regiert. Gleichzeitig wurde die in der Balfour-Deklaration 1917 versprochene Unterstützung des Zionismus offizielle britische Politik. Anfangs lehnten durchaus nicht alle arabischen Politiker die Gründung eines jüdischen homeland ab. Doch zunehmend wurde Israel zum Symbol westlicher Fremdherrschaft, sollte doch aus arabischer Sicht Europas Flüchtlingsproblem Nummer eins, die deutsche Judenverfolgung, auf ihre Kosten gelöst werden.

In der Zwischenkriegszeit bildeten sich angesichts des europäischen Verrats an der arabischen Sache nationalistische Parteien, die sich gegen die Fremdherrschaft und korrupte arabische Eliten zugleich auflehnten. Der Zweite Weltkrieg brachte erst den französischen, dann den britischen Mandaten Unabhängigkeit. Doch die Niederlage der Araber gegen Israel 1948 verstärkte den Nationalismus. Dessen bekanntester Vertreter wurde der ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser. Dieser triumphierte während der Suezkrise 1956 über Briten, Franzosen und Israelis, auch weil Amerikaner und Sowjets gemeinsame Sache gegen die alten Imperien machten. Nasser war der Held der arabischen Welt. Indes überspannte er 1967 den Bogen, als Israel auf arabische Drohgebärden mit dem Sechs-Tage-Krieg reagierte, Palästina und die Sinai-Halbinsel eroberte. Der gedemütigte Volksheld Nasser stürzte. Die nationalistischen Modernisierer galten fortan als Loser, verloren gegenüber religiösen Bewegungen an Boden.

Laizistische Modernisierer wie Nasser scheiterten darin, ihre Länder sowohl zu entwickeln als auch die Massen der ländlichen und zunehmend städtischen Armen politisch-kulturell zu integrieren, wie dies demokratische Strukturen prinzipiell ermöglichen. Die Modernisierung von Wirtschaft und Infrastruktur blieb Technokraten überlassen. Westlich anmutende Wohnbezirke dehnten sich neben »orientalischen« Armutsvierteln aus, staatliche Institutionen nützten vor allem den Eliten. Der von Europa abgeguckte Nationalismus war populär, konnte aber wirtschaftlich nicht liefern und war seit 1967 militärisch diskreditiert. Wer von der Entwicklung profitierte oder sich Petrodollars in die Taschen stopfte, der lebte »modern«. Die vom klientelistischen System ausgeschlossenen Armen wurden in ihrer scheinbar traditionellen Kultur abgehängt. Zwar gab es derartige Spannungen auch im Europa der Industrialisierung. Doch in der arabischen Welt wurden »westlich« orientierte Reformen mit kultureller Fremdherrschaft identifiziert, Moderne und Kolonialismus wirkten wie eins.

11. September 2001. 100 Seiten

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