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Das Pearl Harbor unserer Generation?

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Die von Bush bemühte Analogie zu Pearl Harbor lässt aufhorchen: Der japanische Überraschungsangriff auf den Marinestützpunkt auf Hawaii am 7. Dezember 1941 wurde von regulären Soldaten gegen ein militärisches Ziel geführt. Es war die Eröffnungssalve zu einem konventionellen Krieg. Bush knüpft an die Erfahrungen der Greatest Generation des Zweiten Weltkriegs an, an die um das Jahr 2000 allenthalben erinnert wird. Er will sich als ein den Vorvätern würdiger Krieger erweisen, wenn er das Bild vom »Pearl Harbor unserer Generation« zeichnet. Medial wird der »Krieg gegen den Terror« denn auch als eine Feldschlacht inszeniert, etwa wenn Feuerwehrleute ihre Suche nach Überlebenden mit der Aufrichtung der Stars and Stripes auf den Trümmern des WTC krönen und so ein berühmtes Foto nachstellen, das 1945 während der Eroberung der Insel Iwo Jima im Pazifikkrieg gegen Japan geschossen wurde. Es ist paradox: Obwohl viele den Zäsurcharakter von 9/11 beschwören (»Nichts wird mehr so sein, wie es war«), wird der Konflikt gleichzeitig entlang überlieferter Bilder zwischenstaatlicher Kriege gedeutet und reinszeniert.


Feuerwehrleute richten die Stars and Stripes am WTC auf. Die Briefmarke zitiert das ikonische Foto »Raising the Flag on Iwo Jima« von 1945

Meine These ist, dass aus einem extraordinär brutalen, darin zweifellos präzedenzlosen Terroranschlag (11. September) ein welthistorisch folgenreiches Ereignis (9/11) erst gemacht wurde. Aufgrund rückwärtsgewandter, an Erfahrungen des 20. Jahrhunderts sowie historischen Feindbildern orientierter Reaktionen wurde 9/11 zu einem Einschnitt für unsere Gegenwart, ging als mehr als ein besonders schlimmer Terrorakt in die Geschichte ein. Die Regierung Bush entfachte unnötige Kriege, die nach 20 Jahren noch immer schwären, während über der Einsturzstelle am WTC längst Gras und Bäume wachsen. Die Kriege, die von 9/11 ihren Ausgang nahmen, haben wesentlich größere Verwüstungen hinterlassen als die schrecklichen Anschläge selbst. Die Kosten an Menschenleben, die psychischen Verletzungen, der kaum bezifferbare materielle Schaden sind immens. In Afghanistan, wo der Krieg andauert, starben laut US-Militär 2354 US-Soldaten bis Ende 2020. Im Irak, wo die USA 2011 offiziell abzogen, starben bis dahin 4497 US-Soldaten. Die Anzahl der weniger präzise erfassten zivilen Opfer und »Gegner« ist signifikant höher, wenigstens eine halbe Million im Irak. In Afghanistan dürfte der Blutzoll 2019 die 100 000er-Marke überschritten haben.

9/11, diese aus der US-Schreibweise des Datums zum Symbol geronnene Chiffre, hat sich tief in das kollektive Gedächtnis eingebrannt. Doch dies liegt nicht allein an der verstörenden Erfahrung eines ungeheuerlichen Terrorakts in einer friedlichen Stadt an einem strahlend blauen Septembermorgen. Terror will Menschen aus der Fassung bringen, sie in Angst und Panik versetzen. Auch die Trauer der betroffenen Angehörigen und Freunde ist verständlich. Doch von dort aus hätte der weitere Weg nicht geradlinig in einen Krieg münden müssen. Bush und seine Berater hätten es schlichtweg besser wissen müssen. Die Terroristen, allen voran ihr radikal-islamistischer Rädelsführer und Financier, der saudische Baulöwensohn Osama Bin Laden, wollen kriegerische Reaktionen provozieren. Denn dass die von ihm geführte al-Qaida hinter den Anschlägen steckt, ist den US-Verantwortlichen schnell klar. Bin Ladens strategisches Ziel war kein Geheimnis: Er will die USA in asymmetrische Kriege locken. In diesen, so das Kalkül, könnten die Amerikaner nur verlieren. Bush nimmt den Fehdehandschuh bereitwillig auf, glaubt felsenfest an Amerikas Überlegenheit und reagiert genauso, wie es die Terroristen beabsichtigt hatten.

Der Krieg gegen den Terror ist aber kein bedauerlicher Betriebsunfall der US-Geschichte: Denn die unverhältnismäßige Antwort der Regierung Bush war bereits in Amerikas politischer Kultur der Jahrtausendwende angelegt. Technisch gesehen knüpft Bush an bestehende Muster der militarisierten Terrorismusbekämpfung seit den 1980er Jahren an, aber weitet diese exorbitant aus. Möglich wird der Krieg aufgrund bestimmter gesellschaftlicher Dispositionen und einer geopolitischen Lage: Zum einen spornen der von weiten Teilen der amerikanischen Gesellschaft getragene Turbopatriotismus sowie die nationalistische Hybris der Eliten zu Kriegshandlungen an. Verstärkt wird der Impuls zum Zurückschlagen überdies durch einen alten Hang zur Paranoia, der in der amerikanischen Gesellschaft tief verwurzelt ist und populärkulturell gestützt wird. Das geopolitische window of opportunity ist ein ebenso signifikanter Faktor. Der »Sieg im Kalten Krieg« 1990 erleichtert den USA das militärische Zurückschlagen. Die »einzig verbliebene Supermacht« muss auf nichts und niemanden Rücksicht nehmen. Sie ist nicht auf konventionelle Methoden der Strafverfolgung beschränkt.

Teil des Problems ist die Brandmarkung der Terroristen als un-»zivilisierte« Außenseiter. Dass ein solch raumgreifender Krieg gegen den Terror gedacht werden kann, hat auch mit kulturellen Vorurteilen gegenüber dem Islam zu tun. Man stelle sich vor, die Anschläge wären von deutschen oder französischen Terroristen verübt worden. Es wäre wohl kaum zu einer Bombardierung von Teilen Europas gekommen. Der Westen geht mit dem islamistischen Terror anders um als mit bisherigem links- und rechtsradikalem Terror. Terror wird als zentral für »den Islam« gedeutet. Daher werde die Gewalt der Islamisten in »einem unmenschlichen Niemandsland weit außerhalb […] der modernen säkularen Welt« verortet, wie der Schriftsteller Pankaj Mishra meint. Auf dieser Ausgrenzung des Islamismus aus »unserer Welt« basiert eine präventive Terrorismusbekämpfung, die ganze Länder und Millionen Unbeteiligte in Mithaftung zieht. Auch Deutsche sind nicht frei von derartigen Anwandlungen, wird doch nach einem geflügelten Wort von Verteidigungsminister Peter Struck 2002 unsere Sicherheit auch »am Hindukusch verteidigt«.

11. September 2001. 100 Seiten

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