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9/11 wird als Kriegsakt gedeutet

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Es fällt schwer, sich auf eine solche Katastrophe einen Reim zu machen. Ein Schock; aber dass Amerika sich im Krieg befände, ist für die breite Masse am Abend des 11. September keineswegs offenkundig. Ersichtlich ist nur, dass ein Desaster gezielt herbeigeführt worden ist. Doch was ist seine Bedeutung? Studiert man die CNN-Live-Berichterstattung, dann ringen Journalistinnen um Verständnis, Worte und Einordnung: »Good Lord – there are no words«, sagt der Moderator, als um 10:28 Uhr der Nordturm fällt. Zugleich wird das Banner »America Under Attack« eingespielt. Nachrichtensendungen und Zeitungen, die in Sonderausgaben noch am 11. September erscheinen, sprechen überwiegend von Terroranschlägen. Doch am Folgetag dominiert in der englischsprachigen Presse das Wort »Krieg«. Der mediale Sturm bläst in eine Richtung: Amerika und seine Regierung steigern sich in das Narrativ hinein, das Land sei kriegerisch angegriffen worden. Aus dem 11. September wird 9/11.

Die rasante Deutungsverengung auf »Krieg« wird von den politischen Akteuren forciert. Am Abend des 11. September verkündet Bush, der amerikanische Way of Life werde angegriffen. Doch man werde diesen »Krieg gegen den Terrorismus« gewinnen. Das knüpft an etablierte Antiterror-Narrative an, mit Reagans erstmaliger Kriegserklärung an den Terrorismus schon 1986. Nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheitsrats am Morgen des 12. September geht Bush weiter: Der Anschlag sei »mehr als ein terroristischer Akt. Es sind Kriegsakte.« Noch schwanken Politik und Öffentlichkeit bei der Einordnung des unerhörten Ereignisses. Doch der Begriff »Krieg« durchzieht Reden und Pressekonferenzen. Zwei Tage später steht Bush überwältigt auf den schwelenden Trümmern des WTC. Er wird von der Menge mitgerissen: Sie »werden von uns hören«, ruft er. Frenetische »U. S. A.! U. S. A.! U. S. A.!«-Sprechchöre folgen. Am 15. September zieht er den folgenschweren historischen Vergleich, auch die Terroristen würden erfahren: »Wer Krieg gegen Amerika anfängt, wählt seine eigene Zerstörung.«


George W. Bush: »Why Do They Hate Us«. Rede vor beiden Häusern des Kongresses am 20. September 2001.

»Amerikaner stellen sich viele Fragen: Sie fragen sich, wer hat unser Land angegriffen: Alle Anzeichen deuten auf ein lockeres Netzwerk terroristischer Organisationen hin, das als al-Qaida bekannt geworden ist. Sie […] praktizieren eine marginale und extremistische Variante des Islam, die von […] der Mehrheit der muslimischen Gelehrten abgelehnt wird. […] Die Amerikaner fragen sich, warum hassen Sie uns? Sie hassen uns, weil sie hier in diesem Parlamentssaal eine demokratisch gewählte Regierung sehen. […] Sie hassen unsere Freiheit – unsere freie Religionsausübung, unsere freie Rede, unsere Freiheit zu wählen und uns zu versammeln und untereinander uneinig zu sein. […] Dies ist nicht allein Amerikas Kampf. Was hier auf dem Spiel steht, ist nicht allein Amerikas Freiheit. Dies ist ein Kampf der Welt. Dies ist der Kampf der Zivilisation. Dies ist der Kampf aller, die an Fortschritt und Pluralismus, Toleranz und Freiheit glauben. […] Die zivilisierte Welt eilt an Amerikas Seite. […] Uns ist großes Unrecht widerfahren. Wir haben einen großen Verlust erlitten. In unserer Trauer und unserer Wut haben wir unsere Mission und unseren Antrieb gefunden. Freiheit und Angst stehen miteinander im Krieg. Der Fortschritt der menschlichen Freiheit, die großen Erfolge unseres Zeitalters und die Hoffnung aller Zeiten hängen nun von uns ab. Unsere Nation – diese Generation – wird diese dunkle Bedrohung von unserem Volk und unserer Zukunft vertreiben. […] Wir werden nicht scheitern. […]«

Als Bush am 20. September vor beiden Häusern des Kongresses zur Nation spricht, ist die Sache glasklar: Zum ersten Mal seit dem US-Bürgerkrieg seien Kriegsopfer auf heimischem Boden zu beklagen. Diese Erfahrung sei neu für die lebenden Generationen, jedoch nicht für die amerikanische Nation als solche. Amerika kenne sich damit aus. Wie die breite Öffentlichkeit betont auch Bush die Neuartigkeit des Terrorakts. Doch dann erklärt er diesen eben nicht zu einer inakzeptabel gewalttätigen Antwort auf soziale Spannungen in den Herkunftsländern der Terroristen oder als Manifestation antiwestlicher Haltungen verwirrter junger Männer, sondern als Krieg gegen »Pluralismus, Toleranz und Freiheit«. Es passt ins historische Raster, wenn er die Terroristen »Erben der mörderischen Ideologien des 20. Jahrhunderts« nennt, »die in die Fußstapfen von Faschismus, Nationalsozialismus und Totalitarismus treten«. Die lose Terrorgruppe al-Qaida als Neuauflage von Drittem Reich und Stalinismus? Eine fatale Fehleinschätzung!

11. September 2001. 100 Seiten

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