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Die Welt steht still

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Der 11. September führt überall in der Welt zu einem vorübergehenden Bruch der Alltagsroutinen. Viele Menschen können davon persönlich berichten. Die Nachricht von den Anschlägen verbreitet sich wie ein Lauffeuer um den Globus. Eine Stunde nach den Anschlägen haben 70 Prozent der Deutschen davon erfahren. Tags darauf ist die gesamte deutsche Bevölkerung informiert, Alte, Kranke, Jugendliche und Kinder eingeschlossen. In den USA verbreitet sich die Nachricht noch schneller. Dort wissen 60 Minuten nach dem Aufprall des ersten Flugzeugs 90 Prozent der Amerikaner Bescheid. So weit Fernsehen und Internet reichen, sehen Menschen weltweit dieselben schrecklichen Bilder. Das »globale Dorf« des kanadischen Medientheoretikers Marshall McLuhan wird für ein paar Stunden Realität. Identische Aufnahmen flimmern über Bildschirme in Kansas wie auf der Schwäbischen Alb, im australischen Outback, den Favelas von Rio, den Townships von Soweto oder den Glastürmen von Hongkong und Tokio.

Ich selbst sitze an meinem Schreibtisch außerhalb von Heidelberg, feile, Wissenschaftler und Autor, der ich nun einmal bin, an einem Text; ich werde, da kein Mensch damals permanent »online« ist, durch den Anruf eines Kollegen alarmiert. Wir sehen die Nachrichten heimlich bei Nachbarn, um die schrecklichen Bilder von unseren kleinen Kindern fernzuhalten. Als ich zehn Jahre später an der Universität Augsburg Seminare über 9/11 zu geben beginne, ist die für die Anfang der 1990er Jahre in Süddeutschland geborene Studierendengeneration typische Erzählung, dass sie sich zu Hause zurück an einem der ersten Schultage nach den Ferien verwundert fragten, warum ihre Mutter oder Großmutter (Väter kommen kaum vor), gegen alle Sitte und allen Anstand, am helllichten Tag einen Horrorfilm guckt! So ganz neben der Spur liegt das nicht, denn Reaktionen auf 9/11 sind durch fiktive Inszenierungen des Terrors in Hollywoodfilmen wie The Siege (1998, R: Edward Zwick) kulturell vorgeprägt.

Jene, die in den 2000er Jahren geboren wurden, haben dagegen keine persönliche Erinnerung an den 11. September. Sie wissen davon aus Familienerzählungen und aus den Medien. So schnell wächst ein Ereignis aus der Zeitzeugenschaft hinaus. Für meine Generation ist 9/11 so irritierend, weil wir mit der demokratischen Fortschrittserzählung der »Wende« von 1989/90 politisch erwachsen wurden. Schockierend die Eindrücke auf einer Forschungsreise in die USA zwei Wochen später: Die Angst hatte sich in der US-Gesellschaft eingenistet. Es ist die Zeit mysteriöser Anthrax-Anschläge. Fühlte man sich früher an manchen Ecken von Washington erst sicher, wenn man es in die Metrostation hineingeschafft hatte, so ist es nun umgekehrt: möglichst schnell nach oben. Deprimierend die Militarisierung der Hauptstadt, einst frei zugängliche Orte wie die Kapitolsterrasse sind weiträumig abgesperrt. Befremdlich der extreme Nationalismus bisher vernünftig wirkender Amerikaner: Sie phantasieren von heroischen Taten ihrer Geheimdienstagenten, die in Filmmanier Terroristen heimlich, still und leise abmurksen. Doch es wird kein leiser Schattenkrieg.


Das World Trade Center in Flammen. Flug UA 175 schlägt in den Südturm (WTC 2, links) ein

Niemand kann sich dem 11. September entziehen. Die Bilder kolonisieren unser Gedächtnis: Die Fotos des Aufpralls und der Explosion des zweiten Flugzeugs (UA 175) in den Südturm sind global zitierbare Bildikonen geworden. Menschen weltweit können sie auf Befragung zuordnen. Das ist insofern bemerkenswert, weil der 11. September medientechnologisch gesehen noch im vordigitalen Zeitalter liegt. Bei der Erstverwertung dominiert das Fernsehen; zuhause oder auf öffentlichen Bildschirmen etwa in Bahnhöfen erfahren 47 Prozent der Deutschen von den Anschlägen; in der Zweitverwertung kommt ebenfalls ein etabliertes Medium zum Zug: Zeitungen. Diese sind am folgenden Tag komplett ausverkauft. Webbasierte Medien bestimmen erst in dritter Linie den Deutungsmarkt. Das damals neue Internet ist sehr begrenzt, populäre Nachrichtenseiten sind aufgrund der massiven Zugriffe schnell überlastet, Smartphones noch völlig unbekannt. Nur drei Prozent erfahren via Internet zuerst von den Anschlägen. Medial gehört 9/11 noch zum 20. Jahrhundert, als robust massenmediale, prädigitale Erfahrung.

11. September 2001. 100 Seiten

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