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Der Anfang vom Ende des amerikanischen Jahrhunderts

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Medial mag 9/11 aus einem Drehbuch des 20. Jahrhunderts stammen wie auch die Reaktionen der Regierung Bush einem Narrativ aus dem Zeitalter der Totalitarismen folgen, als die amerikanische Demokratie sich dem Nationalsozialismus und dem Kommunismus entgegenstellte. Doch geopolitisch hat 9/11 das Gegenteil des von der Bush-Administration und den Propheten eines »neuen amerikanischen Jahrhunderts« Intendierten bewirkt, die eine Verlängerung der amerikanischen Hegemonie weit in das 21. Jahrhundert beabsichtigten: Die westliche Demokratie ist beschädigt; die überragende Überlegenheit des US-Militärs und dessen Fähigkeit, jeden x-beliebigen Ort der Welt minutenschnell in einen Trümmerhaufen zu verwandeln, hat weder Amerika zu mehr gefühlter Sicherheit verholfen noch zu einem klaren Sieg in Afghanistan oder im Irak. Im Inneren ist Amerika zutiefst verwundet, die äußere Sicherheit wirkt nur oberflächlich wiederhergestellt. Der Terror metastasiert weiter, selbst nachdem Bin Laden 2011 von einem US-Kommando aufgespürt und hingerichtet worden ist. Der »Islamische Staat« ist nur das jüngste Symptom eines monumental gescheiterten nation building im Irak und in der arabischen Welt.

Die Kriege des 11. September haben Amerikas Weltstellung mehr als nur angekratzt. Der »Aufstieg der Anderen« (Fareed Zakaria) wird beschleunigt. Sicher, wir sollten die USA nicht unterschätzen: Ihre Bevölkerung und ihre Wirtschaft wachsen weiter; ihre Kultur strahlt aus; als Migrationsziel sind sie trotz vehementer innergesellschaftlicher Verwerfungen weiter attraktiv; sie werden auch künftig mit China, vielleicht auch Indien, der EU und Russland, eine Weltmacht bleiben. Doch das Scheitern des überzogenen »Projekts für ein neues amerikanisches Jahrhundert« hat ihr globales Ansehen unterminiert, selbst wenn die Wahl Barack Obamas 2009 das Bild zeitweilig aufhellen kann. Die Ideale, für die Amerika einst stand, sind besudelt: Freiheit, Gleichheit, Pluralismus, Toleranz; die Idee einer demokratischen Zivilisation, von Bush vollmundig beschworen, wirkt angezählt, durch Gewalt beschädigt. Die Kriege zehren Amerika sozialpsychologisch aus. So hat 9/11 den Aufstieg von Donald Trump und America First erleichtert, wenn nicht überhaupt erst möglich gemacht.

Selbstverständlich mussten Präsident Bush und seine Regierung auf die Anschläge reagieren. Doch weil sie – rückblickend betrachtet – auf kontraproduktive Weise antworteten, wurde 9/11 zur Zäsur. In der historischen Forschung gilt es durchaus als umstritten, 9/11 als Wendepunkt zu deuten, 20 Jahre nach den Ereignissen ist das womöglich zu früh. Doch in vielen Studien gehen die mit dem 11. September verknüpften Problemlagen unter, die aus dem Ereignisbündel den Einschnitt machten. Das Extraordinäre von 9/11 wird von einer merkwürdigen Unlust neuerer Publikationen kontrastiert, Ursachen und Folgen auszubuchstabieren. Es dominiert eine antiquarische Froschperspektive: Der populäre erinnerungskulturelle Zugang fokussiert auf die Schrecksekunde, das Erleben und Erleiden sowie die Heroisierung der Opfer. Oral History ist schick, wird in der 9/11-Gedenkstätte am WTC zum Goldstandard erhoben (siehe S. 91). (Selbst-)kritische Einsichten unterdrückt die offiziöse Geschichtspolitik indes.

11. September 2001. 100 Seiten

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