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2. Frühe Spezialschriften gegen den „Plagiator“ Vergil 2.1 Die obtrectatores Vergilii in der Nachfolge der Homerkritiker (VSD 43–46)

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Über die Anfänge der philologischen Beschäftigung mit Vergil sind wir durch ein knappes Résumé unterrichtet, das in der sogenannten Vita Suetonii vulgo Donatiana (VSD) in den Schlussteil der eigentlich biographischen, dem auctor Vergilius gewidmeten Partie eingefügt ist. Diese Lebensbeschreibung wurde von Aelius Donatus im vierten Jhdt. n. Chr. an den Beginn seines sonst weitgehend verlorenen Vergilkommentars gestellt und ist in dieser Fassung überliefert.1 Doch reicht die Geschichte der VSD um etwa zweihundert Jahre zurück: Donatus verwendete für die Einleitung zu seinem Kommentar eine von Sueton am Beginn des 2. Jhdt. n. Chr. verfasste Vergilbiographie, die dieser in die Reihe der Dichterviten im 15. Buch (De poetis) seiner antiquarischen Sammelschrift Pratum aufgenommen hatte.2 Wie Sueton auch in seinen Kaiserbiographien nach der Schilderung der Todesumstände in knappen Zügen die Einschätzung des Toten bei Mit- und Nachwelt umreißt, so folgt auch in der VSD auf die Nachricht vom Ableben Vergils in Brundisium (§ 35) und seiner Bestattung in Neapel (§ 36)3 ein Katalog von Kritikern (obtrectatores), die Vergils Werk schon zu Lebzeiten und postum auf den Plan rief:4

Obtrectatores Vergilio numquam defuerunt, nec mirum, nam nec Homero quidem. prolatis Bucolicis Numitorius quidam rescripsit Antibucolica, duas modo eclogas sed insulsissime παρῳδήσας, quarum prioris initium est: ‘Tityre, si toga calda tibi est, quo tegmine fagi?’ sequentis: ‘Dic mihi, Damoeta: cuium pecus, anne Latinum? | non. verum Aegonis nostri sic rure loquuntur.’ alius recitante eo ex Georgicis: ‘Nudus ara, sere nudus’, subiecit: ‘habebis frigore febrem’. est adversus Aeneida liber Car<v>ili Pictoris, titulo ‘Aeneidomastix’. M. Vip<s>anius a Maecenate eum suppositum appellabat novae cacozeliae repertorem, non tumidae nec exilis, sed ex communibus verbis atque ideo latentis. Herennius tantum vitia eius, Perellius Faustus furta contraxit. sed et Q. Octavi Aviti Ὁμοιότητων5 octo volumina, quos et unde versus transtulerit, continent. Asconius Pedianus libro, quem contra obtrectatores Vergilii scripsit, pauca admodum obiecta ei proponit, eaque circa historiam fere et quod pleraque ab Homero sumpsisset; sed hoc ipsum crimen sic defendere assuetum ait: ‘cur non illi quoque eadem furta temptarent? verum intellecturos facilius esse Herculi clavam quam Homero versum surripere’; et tamen destinasse secedere, ut omnia ad satietatem malevolorum decideret. (VSD §§ 43–46 = 174–199 Hardie = 38, 8–41, 6 Brugnoli-Stok)

Von den genannten Werken ist keines erhalten, und man hat vermutet, dass auch Sueton die Titel nur aus zweiter Hand, nämlich aus der Einleitung zu der von ihm erwähnten Verteidigungsschrift des Asconius Pedianus contra obtrectatores Vergilii, kannte.6 Bei der Liste handelt es sich auch offenkundig nicht um den Versuch, eine vollständige Dokumentation der frühen Vergilkritik zu leisten. Stattdessen tritt, zieht man die klare Strukturierung des Passus in Betracht, der systematische Charakter der Zusammenstellung in den Vordergrund: Sueton – bzw. seiner Vorlage, Asconius Pedianus – ging es eher darum, für bestimmte Typen von Kritik repräsentative Beispiele aus der frühen Vergilliteratur zu nennen. Der literatur- und philologiegeschichtliche Bezugspunkt ist dabei im ersten Satz des Abschnitts benannt: Das rezeptionsgeschichtliche Faktum der Vergilkritik wird mit einem analogen Phänomen aus der Homerrezeption parallelisiert. Damit soll der kanonische Status beider Autoren freilich nicht in Frage gestellt werden. Im Gegenteil: Die Tatsache der Kritik wird von Sueton geradezu als Indiz für den Rang des Homernachfolgers Vergil ausgegeben: nec mirum, nam nec Homero quidem.

Doch worin bestehen die behaupteten Bezüge zur Homerkritik im Einzelnen? Bei der zuerst genannten Gruppe, Parodien von Vergils Eklogen- und Lehrdichtung, ist die postulierte besondere Verbindung vielleicht auf den ersten Blick am wenigsten evident, weil man kreative Umbildungen in parodistischer Absicht auch zu zahlreichen anderen antiken Autoren kennt, es sich also nicht um eine Besonderheit der Homerrezeption handelt.7 Sueton nennt einen nicht weiter greifbaren Numitorius8, der gleich nach der Veröffentlichung der Bucolica zu Beginn der dreißiger Jahre9 eine zwei Eklogen umfassende Gegenschrift verfasste, der er den Titel Antibucolica gab.10 Das poetische Verfahren des Numitorius wird durch den Zusatz insulsissime παρῳδήσας in ästhetischer wie technischer Hinsicht qualifiziert.

Um zu verstehen, warum Sueton diese Eklogen- und Georgica-Parodien (und keine anderen zeitgenössischen Vergilparodien) als Gegenstücke zu vergleichbaren Phänomenen gerade aus der Homerrezeption nennt, muss man die Besonderheiten des antiken Parodiebegriff in Rechnung stellen. In der lateinischen Literatur begegnet der Terminus zuerst bei Quintilian: In seiner Erörterung über den risus legt er dar, wie der Redner Verse verwenden soll, um komische Wirkungen zu erzielen. Neben ihrer Übernahme im unveränderten Wortlaut haben insbesondere das variierende Zitat und die freie Nachbildung von Versen komisches Potenzial.11 Dergleichen Anspielungen lassen den Redner als gewandten, schlagfertigen Mann von Welt erscheinen.12 Eine wichtige Voraussetzung für die angestrebte Wirkung liegt dabei darin, dass es sich um bekannte Verse handelt – die Identifikation des Vorbildverses seitens des Zuhörers muss also gewährleistet sein. An anderer Stelle öffnet Quintilian seinen Parodiebegriff auf den Bereich der Prosarede hin und schränkt ihn zugleich in historischer Perspektive ein, indem er eine ältere, strengere Definition ins Spiel bringt, nach der es sich ursprünglich bei der παρῳδή um ein canticum gehandelt habe, dessen Melodie nach der eines anderen canticum gestaltet war.13 Die Bezeichnung für diesen Vorgang, den man heute als Kontrafaktur bezeichnen würde, wäre demnach später auf die Imitation von Versen und Prosastücken übertragen worden. – Ein ähnliches Nebeneinander von engerem und weiterem Parodiebegriff begegnet in einem Abschnitt der Schrift Πρὸς Τιμαῖον des Periegeten Polemon14 aus dem 3./2. Jhdt. v. Chr. Hier wird einmal Hipponax (6. Jhdt. v. Chr.) als erster Dichter von Parodien genannt, während eine andere Stelle Hegemon von Thasos anführt, der als erster Parode in einem Agon gesiegt haben soll.15 Nach Aristoteles ist Hegemon sogar als Archeget der Gattung anzusprechen.16

Die Begriffsgeschichte zeigt, dass sich der noch heute übliche weite Gebrauch des Terminus „Parodie“ erst in hellenistischer Zeit eingebürgert hatte.17 Davor bezeichnete der Begriff eine genau definierte Gattung epischer Dichtung, die sich zu den Vorträgen der Rhapsoden verhielt wie etwa die Paratragödie zur Tragödie.18 Institutionalisiert scheint das parodische Genos demnach hinsichtlich seines Gattungscharakters wie auch seines Rezeptionsrahmens mit Hegemon von Thasos zu sein, der im Athen des ausgehenden 5. Jhdt. mit seinen komischen Epennachbildungen bei Parodenagonen antrat. Aufgrund archäologischer Zeugnisse wissen wir, dass man das parodische Genre als eingeführte Dichtungsart auch unter die Disziplinen der musikalischen Agone aufnahm.19

Wichtig in unserem Zusammenhang ist, dass noch Aristoteles nur an Epenparodien denkt, wenn er den Terminus παρῳδία verwendet.20 Der Parode Hegemon siegte, wie zufällig überliefert ist, in Athen mit einer epischen Γιγαντομαχία.21 Die bei Aristoteles erwähnte Δείλιας22 des Nikochares gibt sich unschwer als Homerparodie zu erkennen und wird demnach als παρῳδία im engeren Sinn des Wortes zu charakterisieren sein, als ein Werk also, das bei musikalischen Agonen zur Aufführung gebracht wurde. Später wurde der Begriff zwar auch für Kitharodenparodien verwendet23, doch war dies eine sekundäre Erscheinung: Ursprünglich bezogen sich die Paroden mit ihren Gattungstravestien auf die Vorträge von Rhapsoden und damit im Wesentlichen auf die Epen Homers. Dieser Umstand ist auch aus den überlieferten Fragmenten zu ersehen, die in ihrer sprachlichen Gestalt zahlreiche Bezüge zum homerischen Idiom aufweisen. Der Tragödiendichter24 und Elegiker Alexandros Aitolos reflektiert diese Praxis explizit in einem Gedicht gegen Euboios, der in homerischen Hexametern über Handwerker gedichtet hatte: … ἔγραφε δ’ ὡνὴρ | εὖ παρ’ Ὁμηρείην ἀγλαίην ἐπέων | πισσύγγους ἢ φῶρας ἀναιδέας ἤ τινα χλούνην, | φλύων ἀνθηρῇ σὺν κακοδαιμονίῃ.25

Zumindest über die Tradition der peripatetischen Poetik und Literaturgeschichtsschreibung dürfte sich auch in späterer Zeit ein Bewusstsein für die Mehrdeutigkeit des Parodiebegriffs erhalten haben, auch als der Begriff soviel von seiner Schärfe eingebüßt hatte, dass man grundsätzlich jede beliebige literarische Bezugnahme in komischer Absicht damit bezeichnen konnte. Die oben zitierte Stelle aus Quintilian zeigt zumindest, dass man zwischen einem ursprünglichen, d.h. engeren, und einem erweiterten Parodiebegriff auch noch in römischer Zeit zu unterscheiden wusste.

In der Zeit der gattungsmäßigen Parodie zielte man nicht eigentlich darauf ab, Homer lächerlich zu machen26, sondern versuchte nur, aus dem Widerspruch von Form und Inhalt komische Wirkungen für das eigene dichterische Produkt zu ziehen.27 Von einer polemischen Haltung gegenüber dem Musterautor ist in den überlieferten Fragmenten jedenfalls kaum etwas zu bemerken, und grundsätzliche Homerkritik kann auch kaum die Absicht der Paroden gewesen sein, die sich des kanonischen Dichters vor allem wegen seines Wiedererkennungswerts bei den Zuhörern bedienten. Die Möglichkeit, die Form der Parodie für literarische Angriffe (ψόγος) gegen den imitierten Dichter oder Redner zu verwenden, trat erst mit der Zeit zu der ursprünglichen Funktion hinzu, dichterisches Geschick, Witz und Einfallsreichtum zu zeigen und das Auditorium zum Lachen zu bewegen (γελοῖον).28 Diese modernere, polemische Form der Parodie kam insbesondere dann zur Anwendung, wenn es nicht gegen einen etablierten Autor wie Homer, sondern gegen zeitgenössische Dichterrivalen – wie etwa Vergil – ging.29

Eindeutig polemisch ist die Parodie jedenfalls im ersten Fragment (nach ecl. 1, 1) des Numitorius, für das man eine gegen den Dichter Vergil gerichtete Spitze plausibel machen konnte: Mit der toga calda ist wohl auf den sozialen Aufstieg des Emporkömmlings Vergil = Tityrus angespielt.30 Das zweite FragmentVergilecl. 3, 1–2 (nach ecl. 3, 1–2) hat eine erkennbar stilkritische Nuance.31 In der anonymen Ergänzung eines Georgica-Halbverses (georg.Vergilgeorg. 1, 299 1, 299) liegt ein intelligenter Kalauer nach einem auch aus anderen Autoren bekannten Muster vor. 32

Wenn Sueton für Vergil also als ein besonderes Rezeptionsphänomen hervorhebt, dass dieser wie schon Homer parodiert worden sei, dann wird der zeitgenössische Leser wohl die seit Aristoteles und Polemon zu einem literaturhistorischen Faktum gewordenen Parodendichtungen assoziiert haben, die zumindest am Beginn immer auf epische Rhapsodenvorträge bezogen waren. Dass die Parodie zum Mittel der persönlichen Invektive gegen einen zeitgenössischen Dichter gerät, ist hingegen ein „modernes“ Element.

Eine Frage bleibt aber noch zu klären: Warum zitiert Sueton Eklogen- und Georgica-Parodien, nicht aber den Culex, der als Aeneisparodie eine naheliegende Verbindung zu diesen ‘klassischen’ Homerparodien herstellen würde? Die Antwort ist wohl darin zu sehen, dass man den Culex als authentisches Jugendwerk Vergils betrachtete33 und der Parodiebegriff nur auf Werke angewendet wurde, bei denen eine sekundäre Bezugnahme auf ein Werk eines kanonischen Autors durch einen von diesem verschiedenen Paroden anzunehmen war. Aus denselben Gründen wird der ps.-homerische Margites an keiner Stelle explizit als Homer-Parodie geführt.34 Ähnlich liegen die Dinge bei der ps.-homerischen Batrachomyomachie, die nie im strengen Sinn als Parodie angesprochen und dem Culex schon früh als dichterische praelusio an die Seite gestellt wurde.35

Folgt man der VSD, so hat es neben der Parodie aber noch andere Gattungen der Vergilkritik gegeben: Kritik in der Nachfolge der sog. Ὁμηρομάστιξ des Zoilos und Plagiatsvorwürfe. Dass sich der zuerst genannte Carvilius Pictor36 mit dem Titel seiner Aeneidomastix auf den prototypischen Vertreter der Homerkritik, Zoilos von Amphipolis, bezog, dürfte auf der Hand liegen. Wie aber ordnet sich diese Nachricht in die Rezeptionsgeschichte des Zoilos, soweit uns diese heute noch greifbar ist, ein?37 Der Sophist Zoilos hatte sich im vierten Jahrhundert neben historischen und rhetorischen Werken mit seinen neun Büchern κατὰ τῆς Ὁμήρου ποιήσεως einen Namen als Homerkritiker gemacht. Er folgte in dieser Schrift vermutlich dem Handlungsgang von Ilias und Odyssee und brachte an denjenigen Stellen, die ihm anfechtbar schienen, seine Ausstellungen an. Soweit wir wissen, hat sich Zoilos – anders als sein Zeitgenosse Aristoteles in der Schrift über die Homerprobleme38 – mit der Identifikation und Verzeichnung der problematischen Passagen begnügt. Den Beinamen Ὁμηρομάστιξ scheint man ihm erst nach seinem Tod gegeben zu haben, wie es auch wohl erst in späthellenistischer bzw. augusteischer Zeit dazu kam, dass man ihn zum Muster des Homerkritikers erhob.39 Aus dieser Periode sind uns sowohl zustimmende40, neutrale41 wie auch eindeutig ablehnende (s.u.) Einschätzungen des Zoilos bezeugt, bevor sein Name dann in der Folgezeit zum Inbegriff des Homerbekritlers werden konnte.42

Zur letzteren Kategorie gehört ein Distichon aus Ovids Lehrgedicht über die Heilmittel gegen die Liebe: ingenium magni livor detractat Homeri: | quisquis es, ex illo, Zoile, nomen habes.43Ovidrem. 365–368 Ovid wendet sich in dieser Einlassung gegen Kritiker, die seine erotischen Dichtungen unter moralischem Gesichtspunkt beanstanden (vgl. rem. 361–362: Nuper enim nostros quidam carpsere libellos, | Quorum censura Musa proterva mea est). Die Stelle zeigt einerseits, dass Zoilos zur Abfassungszeit der Remedia, also ca. 1 v. Chr./2 n. Chr.44, als Inbegriff des schmähsüchtigen Kritikers gelten und andererseits auch für moralisch motivierte Kritik in Anspruch genommen werden konnte. Die zweite Beobachtung stellt eine bemerkenswerte Erweiterung des kritischen Spektrums dar, wie wir es aus den überlieferten Zoilosfragmenten rekonstruieren können.45 Für die Aeneidomastix, an die Ovid – wie gleich noch zu zeigen ist – an dieser Stelle denkt, kann damit prinzipiell auch moralische Kritik angenommen werden.46

Bei Ovid folgt unmittelbar anschließend in rem. 367–368 dieselbe Parallelisierung von Vergil- und Homerkritik, die wir in der VSD angetroffen haben: Et tua sacrilegae laniarunt carmina linguae, | Pertulit huc victos quo duce Troia deos. Die explizite Erwähnung des Aeneisdichters berechtigt zu dem Schluss, dass Ovid hier auf die Aeneidomastix anspielt47, woraus sich eine Datierung dieser Schrift in die zwei Jahrzehnte zwischen 19 v. Chr. und spätestens 2 n. Chr. ergäbe. Zwar verlegt sich Ovid in dem anschließenden Passus rem. 373–388 auf den Hinweis auf stoffliche und stilistische Gattungskonventionen als Rechtfertigungsstrategie gegen den livor, erklärt die Kritik an Homer und Vergil in rem. 369–370 aber mit dem allgemeinen Hinweis Summa petet livor, perflant altissima venti, | Summa petunt dextra fulmina missa Iovis.48 Nach dieser Sentenz ruft alles Große, beinahe einem Naturgesetz folgend, Kritik hervor. Indem er aus dem Umstand der Kritik auf den Rang der angefeindeten Dichter schließt, trifft sich Ovid mit Sueton, der im Einleitungssatz VSD 43 ja einen ganz ähnlichen Gedanken formuliert hatte.

Methode und Tendenz der Aeneidomastix sind für uns heute nur mehr umrisshaft zu erschließen, doch wird man Folgendes festhalten können: Die Schrift dürfte aller Wahrscheinlichkeit nach in die erste Phase der Aeneisrezeption in den beiden Jahrzehnten unmittelbar nach Vergils Tod fallen. Wenn der im Titel gegebene Bezug mehr ist als eine unverbindliche Anspielung, dann wird sich die Kritik methodisch in dem von Zoilos vorgegebenen Rahmen bewegt haben und, wie aus dem Ovidzitat hervorgeht, moralische Kritik miteingeschlossen haben. Die Methode, kritische Anfragen gegen eine Dichtung in Form eines ζήτημα bzw. einer quaestio zu richten, war aus der alexandrinischen Philologie schon kurz vor der Entstehung der Aeneidomastix in Rom eingeführt worden und wird Carvilius Pictor das formale Muster für seine Kritik an die Hand gegeben haben.49

Was den Inhalt von Herennius’ Schrift über die vitia Vergils betrifft, so lässt sich dieser wohl enger als bei Carvilius Pictor eingrenzen. Worin bestanden die inkriminierten vitia? Eine Schrift mit einem ähnlichen Titel verfasste der Aristarchschüler Dionysodoros.50 Einer der Irrtümer, die er im Rhesos korrigierte, betraf die genaue Lokalisierung eines Apollontempels, also ein sachliches Detail. Die Scholiennotiz referiert die Kritik mit dem Hinweis, Euripides hätte sich hier παρὰ τὴν ἱστορίαν vergangen. Wie aus VSD 46 hervorgeht, hat Asconius Pedianus Vergil auch gegen Vorwürfe contra historiam verteidigt. Möglich also, dass eine mit vitia betitelte Schrift Vorwürfe dieser Art enthalten hat. Die Reihenfolge des Titelkatalogs bei Sueton legt aber einen anderen Schluss nahe: Unmittelbar zuvor wird eine Anekdote berichtet, die die Eigentümlichkeiten des vergilischen Stils betrifft. Die Schrift des Herennius wird in einem Atemzug mit einer anderen stilkritischen Schrift, den furta des Perellius Faustus, genannt. Die zeitliche Nähe zu den seit dem 1. Jhdt. v. Chr. in großer Zahl entstehenden Werken περὶ ἑλληνισμοῦ51 lässt es plausibel erscheinen, dass der Begriff vitium im Titel streng terminologisch im Sinne eines Verstoßes gegen die Regeln richtigen Sprachgebrauchs verwendet ist.52 Herennius dürfte Vergil keine Verstöße gegen Handlungslogik, Charakterdarstellung o.ä. vorgeworfen haben, sondern sich auf Sprachfehler im engeren Sinne beschränkt haben. Dass er seinen Analysen dabei die Kategorien zugrunde legte, in die man die vitia in Anlehnung an die griechische grammatische Theorie einteilte, ist wahrscheinlich.53 Man warf Vergil entsprechende vitia vor, wie sich ja schon im zweiten Fragment des Numitorius gezeigt hat, und viel früheres Material ist auch in den Kommentar des Servius eingegangen.54

Doch stellt sich auch dann wieder die Frage, wie sich der von Sueton behauptete direkte Bezug zur Homerkritik herstellen lässt. Dass sich die alexandrinischen Grammatiker auf die Kriterien der Sprachrichtigkeit bei der Diorthose des Homertextes berufen konnten, lässt sich aus den überlieferten Aristarchfragmenten ersehen.55 Doch schon die Sophisten hatten die ὀρθοέπεια, den richtigen Wortgebrauch, in den homerischen Gedichten thematisiert und in Frage gestellt.56 Auch Spezialschriften zu diesem Thema wurden verfasst: Immerhin ist schon für Demokrit eine Schrift mit dem Titel περὶ Ὁμήρου [ἢ] ὀρθοεπείης καὶ γλώσσεων überliefert, in der Homer für seine sprachlichen Besonderheiten in Schutz genommen wurde.57 Auch erklärte Homerkritiker wie Zoilos hatten sprachliche Beanstandungen in ihre Schriften aufgenommen.58 Herennius konnte, wenn er sich tatsächlich auf sprachliche vitia Vergils konzentrierte, demnach mit einem gewissen Recht für eine bestimmte Richtung der Homerkritik in Anspruch genommen werden, wenn seine Methoden auch wohl aus jüngerer Zeit stammten und ganz der im 1. Jhdt. erst zu einem Teilbereich des τεχνικὸν μέρος der Grammatik ausgebauten Lehre von der Sprachrichtigkeit verpflichtet gewesen sein dürften.

Homer und Vergil im Vergleich

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