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1.2 Fragestellung, forschungsgeschichtliche Einordnung und Methode

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Ausgehend von den Gesichtspunkten, die im Zusammenhang mit den vier Gedichten aus der Anthologia Latina angesprochen wurden, ist die zentrale Fragestellung der vorliegenden Untersuchung näher zu bestimmen. Die Arbeit verfolgt das Ziel, die ästhetischen Beurteilungskriterien und Begründungsstrategien in denjenigen Texten, die einen wertend-begründenden Vergleich zwischen den beiden Dichtern Vergil und Homer anstellen, zu benennen, zu erklären und nach ihren rezeptionsgeschichtlichen Bedingungen zu befragen. Daran schließt sich als übergeordnetes Untersuchungsziel die Frage an, ob und – wenn ja – wie sich die verschiedenen Antwortversuche auf das Problem einer Vorrangstellung Homers oder Vergils in der antiken Kanondiskussion positionieren, näherhin ob und inwieweit die fraglichen Vergleiche als Beiträge zu einer solchen Kanondiskussion betrachtet werden können oder ob sich die Funktion des Homer-Vergil-Vergleichs in der Antike anders bzw. differenzierter bestimmen lässt.

Als Untersuchungsgegenstände kommen also grundsätzlich wertende Vergleiche zwischen Homer und Vergil in Betracht. Diese wertenden Vergleiche wurden in der Antike mit dem Terminus Synkrisis (bzw. lat. diiudicatio locorum o.ä.) bezeichnet (s.u. → Kap. 1.3.1 und 4.1.3). Gemeint ist dabei immer ein methodengeleiteter, von bestimmten ästhetischen Kriterien ausgehender Vergleich mindestens zweier Texte mit dem Ziel, eine qualitative Hierarchie zwischen ebendiesen Texten zu bestimmen.

Ausgeschlossen aus der engeren Themenstellung sind demnach solche Texte bzw. Abschnitte, die ein homerisches Modell für eine konkrete Vergilstelle lediglich identifizieren, ohne eine explizite literaturkritische Stellungnahme damit zu verbinden. Das gilt etwa für die umfangreichen Abschnitte Sat. 5, 2, 6–5, 3, 17, 5, 3, 2–14, 5, 4, 2–5, 10, 13 und 5, 11 in den Saturnalia des Macrobius, aber auch für den Großteil der Homer-Vergil-Vergleiche in den Vergilkommentaren, zumal bei Servius. – Von einer gesonderten Untersuchung der Vergilkommentare konnte in diesem Rahmen vor allem aus zwei Gründen abgesehen werden: Einerseits sind die literaturkritisch wertenden Vergleiche mit Homer in diesen Erklärungsschriften wie erwähnt quantitativ unterrepräsentiert, zumeist wird einfach auf ein homerisches Beispiel verwiesen oder es werden unter Berufung auf Homer Sacherläuterungen gegeben. Außerdem liegt mit der Studie von Marco Scaffai eine umfassende Monographie vor, die alle expliziten Erwähnungen Homers bei Servius und den anderen Kommentatoren eingehend bespricht (vgl. ergänzend dazu Cyron [2009], S. 192–223 [„Die Funktion von Verweisen auf andere Autoren“; bes. zu Homer S. 210–223]). Die i.e.S. synkritischen Notizen nehmen dann entsprechend auch bei Scaffai nur einen kleinen Abschnitt ein; vgl. Scaffai (2006), S. 327–373 (Kapitel 3: „Critica poetica e sistema narrativo“). Gerade der zuletzt genannte Abschnitt kann daher als Ergänzung der vorliegenden Studie angesehen werden, auch weil er auf die an den jeweiligen Stellen relevanten ästhetischen Kategorien – wenn auch nicht systematisch – eingeht. Metapoetische Deutungen entsprechender Stellen, an denen Vergil in den Augen seiner antiken Exegeten über sich und sein Verhältnis zu anderen Autoren – Zeitgenossen, aber auch kanonischen Vorbildern – spricht, behandelt Cyron (2009), S. 277–282. – Selbstverständlich sind Servius und die anderen Kommentatoren aber auch für die engere Fragestellung dieser Untersuchung von Relevanz, weil es oft nur durch die in den Kommentaren überlieferten Vergildeutungen möglich ist, den philologischen Diskussionszusammenhang zu rekonstruieren, in den sich die wertenden Vergleiche bei Seneca d.Ä., Gellius oder Macrobius einordnen. Die Kommentatoren werden hier also durchaus durchgehend berücksichtigt, aber nicht eigenständig behandelt.1

Mit dieser Fragestellung soll also nicht nur ein Beitrag zur Rezeptionsgeschichte Vergils geleistet werden, vielmehr werden am Beispiel des Homer-Vergil-Vergleichs exemplarisch Analysekriterien zusammengestellt, mit denen der literaturkritische Praktiker in der Antike zumal solche Beziehungen zwischen Texten bewertete, bei denen er eine intentionale Bezugnahme eines Nachahmers auf sein Modell im Sinne von imitatio bzw. aemulatio unterstellte.2

Dieser antike Zugang zum Text steht den modernen, von den methodischen Grundsätzen der strukturalistischen Intertextualitätstheorie mit ihrer Ausblendung der Autorinstanz geleiteten Annäherungen an Vergil natürlich grundsätzlich entgegen: Die antiken Philologen hatten, pointiert formuliert, keine Angst vor der intentional fallacy. Daraus ergibt sich die generelle Tendenz, bei entsprechenden Text-Text-Beziehungen immer von einer „bewussten“ Bezugnahme des jüngeren Autors auf den Text des älteren auszugehen und diese Bezugnahme entsprechend regelmäßig als imitatio bzw. aemulatio mit Wettkampfcharakter zu deuten. Deutlich kommt dies schon in der bekannten Formulierung des Servius am Beginn seines Vergilkommentars zum Ausdruck: intentio Vergilii haec est, Homerum imitari … (I 4, 10 Thilo-Hagen). – Zu den verwendeten Begriffen: Im Folgenden wird also in der Regel von „Modell“, „Vorbild“, „Muster“ bzw. „Nachahmung“, „Nachbildung“, „imitatio“ gesprochen, ohne dass in jedem Fall die – ohnehin nur schwer zu beantwortende – Frage diskutiert wird, ob tatsächlich eine intentionale Bezugnahme Vergils auf Homer vorliegt. Ausgegangen wird von der Feststellung eines derartigen Bezugs durch den antiken Literaturkritiker. Zur Bewertung seiner Einschätzung ist dann hingegen sehr wohl zu fragen, ob es nicht noch weitere Vorbilder gibt, zumal solche „Zwischenmodelle“ – z.B. ein nach Homer gestaltetes Gleichnis bei Apollonios, das wiederum Vergil zum Vorbild gedient hat – Aufschluss über die kritische Rezeptionsgeschichte der fraglichen Homerstelle geben können (s.u.).

Die Synkrisis, der Vergleich von Modell und Nachahmung, ist für den antiken Literaturkritiker also das Instrument, um Strategien einer intentional verstandenen imitatio und aemulatio zu verbalisieren und nach ihrem Erfolg zu beurteilen. Eine zusammenfassende Analyse synkritischer Urteile, wie sie in der vorliegenden Untersuchung für den Fall der vergilischen Homer-imitatio unternommen wird, ermöglicht somit Rückschlüsse auf den literaturkritischen Erwartungshorizont, der als Faktor literarischer Produktion auch für andere, zumal epische Texte von Relevanz ist.

Wenn man die von den antiken Philologen durch Textvergleich rekonstruierten und verbalisierten Strategien der Nachahmung analysieren und klassifizieren will, so sind grundsätzlich verschiedene Bezugsebenen zu unterscheiden. Literaturvergleiche beziehen sich auf zwei oder mehr Texte. Im Falle des Homer-Vergil-Vergleichs ergibt sich daraus z.B. das folgende Szenario: Der Kritiker bezieht sich auf zwei Stellen aus Aeneis und Odyssee. Die fragliche Odysseestelle hat ihrerseits eine bestimmte Rezeptionsgeschichte – etwa eine ästhetische Bewertung durch einen Grammatiker, die sich heute noch durch eine entsprechende Notiz in den Odysseescholien rekonstruieren lässt (= direkte Beurteilung der Modellstelle in ihrer Rezeption) –, die einerseits für Vergil, andererseits aber auch für die Beurteilung durch den vergleichenden Kritiker relevant ist bzw. sein kann. (Dass Vergil seine Modelltexte, zumal Homer, auch als Gegenstand philologischer und literaturkritischer Debatten wahrgenommen und herangezogen hat, wurde umfassend in den beiden Studien von Schlunk [1967 bzw. 1974] und dann insbesondere von Schmit-Neuerburg [1999] herausgearbeitet, letzterer mit dem Nachweis zahlreicher Einflüsse ethischer und kritischer Homerexegese auf Vergil.3) Zu dieser philologischen Rezeption ist wie bereits erwähnt auch die literarische Rezeption hinzuzunehmen, die für Vergil eine Rolle gespielt haben kann (= indirekte Beurteilung der Modellstelle in der Rezeption): Wenn Apollonios Rhodios etwa ein Gleichnis Homers aufgreift, so kann man in den Änderungen, die er vornimmt, einen Beitrag zur (kritischen) Homerrezeption sehen und für Vergil einen doppelten Bezug, nämlich auf Homer und Apollonios, annehmen. – Das Ergebnis der Synkrisis kann schließlich noch durch die besondere Rezeptionsgeschichte der Vergilstelle – ohne dass dabei Homer eine Rolle spielen muss – beeinflusst sein, die wiederum direkt (innerhalb von Vergilkommentaren etc.) oder indirekt (durch Vergilnachahmer) vonstatten gehen kann (= direkte bzw. indirekte Beurteilung der Nachahmung in der Rezeption).

Die hier zu behandelnden Literaturvergleiche geben also einen Einblick in die Kriterien, die man bei der Beurteilung von Nachahmung und Modell(-en) – und allgemeiner: von zwei oder mehreren Texten – heranziehen konnte, um eine konkrete ästhetische Wertung zu rechtfertigen. Synkritisches Lesen war eine verbreitete kulturelle Praxis, die hier zur Anwendung kommenden Kriterien und Methoden waren demnach nicht das Spezialgebiet der professionellen Grammatiker, sondern steuerten allgemein ästhetische Wahrnehmungsprozesse in der Antike.4 Die Literaturvergleiche sind daher ein wesentlicher Schlüssel für das Verständnis sowohl der Rezeptions- als auch der Produktionsbedingungen innerhalb einer literarischen Kultur, die die einzelnen Werken der Dichter, aber auch der Geschichtsschreiber, Redner und Philosophen, als grundsätzlich aufeinander bezogen wahrnahm, ob sie nun tatsächlich in einem intentionalen imitatio-Verhältnis von Modell und Nachahmung standen oder ob sich die Bezüge loser – etwa durch einen gemeinsamen Gegenstand o.ä. – gestalteten.5

Das Vorgehen ist im Folgenden grundsätzlich chronologisch und autorengebunden, was sich aus der übergeordneten Frage nach der Einordnung in die Kanondiskussion ergibt: Ausgegangen wird dabei von der frühesten Phase der Vergilrezeption, aus der uns zwar keine Texte, aber immerhin Titel einschlägiger Schriften überliefert sind. Wie bereits erwähnt, lässt sich zeigen, dass Vergil im Verlauf dieser frühen Diskussion, in der die Frage nach der Bewertung homerischer Übernahmen z.T. mit dem Vorwurf des Plagiats beantwortet wurde, eine Schlüsselstellung zugewiesen wird und der Dichter der Aeneis nach und nach zum exemplarischen Modellfall für Dichtung „auf zweiter Stufe“ im positiven Sinne avancieren konnte (→ Kap. 2). Seneca d.Ä. steht mit seinen beiden Homer-Vergil-Vergleichen noch ganz im Kontext dieser Diskussion (→ Kap. 3), während für Gellius die kanonische Stellung Vergils als eines exemplarischen Homernachahmers bereits soweit gefestigt ist, dass er sich in seiner literaturhistorischen Einordnung ganz im Fahrwasser Quintilians bewegt (→ Kap. 4.2) und frühere Kritik an Vergils Homer-imitatio kommentarlos in ihrer Widersprüchlichkeit entlarven kann (→ Kap. 4.3). Macrobius steht mit seinen Saturnalia am Ende der hier behandelten Reihe: Bei ihm erlangt der Homer-Vergil-Vergleich systematische Geltung und wird konstitutiv für ein umfassendes Bildungsprogramm (→ Kap. 5.1.1 u. 3). Gleichzeitig ist der Vergleich mit Homer argumentativ eingebunden in einen symposialen Dialog, in dem die Diskussion über kanonischen Rang und Autorität (vgl. bes. Sat. 5, 11 und 13) eine neue Funktion erhält (→ Kap. 5.1.3). Die wertenden Vergleiche begründen nämlich zwar abwechselnd den Vorrang Vergils und Homers, zeigen aber vor allem stilistische Sachverhalte auf (→ Kap. 5.2.1). Dann wird in einem nach Kategorien geordneten Nachweis der Versuch unternommen, Vergils Dichtung als strukturelle Adaption ihres homerischen Vorbilds zu erweisen, womit sich eine bestimmte Absicht verbindet, nämlich der Entwurf einer Poetologie griechisch-römischer Hexameterdichtung in der Nachfolge Homers, wie er in vergleichbarer Geschlossenheit sonst bei keinem Autor der (Spät-)Antike vorliegt (→ Kap. 5.2.2). Ausgehend von den Ergebnissen dieser Untersuchungen soll dann abschließend auf die bereits aufgeworfene Frage nach der Stellung der Synkrisis zwischen Homer und Vergil in den antiken Kanondebatten6 eingegangen werden (→ Kap. 6).

Methodisch ergibt sich in den Kapiteln zu Seneca d.Ä., Gellius und Macrobius jeweils folgender Doppelschritt: Auszugehen ist von den – etwa in den Vorreden formulierten – programmatischen Stellungnahmen, in denen sich die Autoren über die Voraussetzungen und Ziele ihrer Schriften äußern. Besonderes Augenmerk ist dabei auf die Rolle literarischer Texte, die jeweils artikulierte Bildungsidee, den methodischen Stellenwert des (Literatur-)Vergleichs im Allgemeinen sowie auf das grundsätzliche Verhältnis zur griechischen Vorbildkultur zu legen. – Im zweiten Schritt werden dann die einzelnen vergleichenden Urteile in Abgleich mit ihren philologisch-ästhetischen Bedingungsfaktoren gebracht und auf Divergenz oder Konvergenz mit den andernorts überlieferten Wertungen geprüft. Vor dieser rezeptionsgeschichtlichen Folie kann dann die Stoßrichtung des einzelnen Urteils näher bestimmt und die Frage seiner Berechtigung bzw. seiner spezifischen Tendenz genauer beantwortet werden.

Homer und Vergil im Vergleich

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