Читать книгу Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß - Страница 19
4.1.2 Autoren- und Textvergleiche in den Noctes Atticae – eine Übersicht
ОглавлениеDie wichtigste Methode, der sich Gellius bzw. die bei ihm auftretenden Gelehrten in ihren literarischen Analysen, aber auch in anderen Zusammenhängen bedienen, ist der Vergleich.1 Das hat verschiedene Gründe und hängt z.T. mit der Genese der Sammlung, z.T. aber auch mit den behandelten Themen selbst und den auf diesen Gebieten einschlägigen Methoden zusammen. Der entstehungsgeschichtliche Aspekt wird aus den Angaben in der Vorrede deutlich: Demnach sind die Noctes Atticae eine Sammlung von Buchexzerpten, deren Abfolge keinem besonderen System, sondern nur dem mehr oder minder zufälligen Lektüregang des Kompilators folgt.2 In einzelnen Kapiteln werden sachlich zusammengehörige Exzerpte gesammelt. Die komparative Auswertung der so zusammengetragenen Abschnitte ergibt sich dann ganz natürlich im Prozess des Sammelns.
Im engeren Bereich der Sprache und Literatur reicht die Bedeutung des Vergleichs als Leitmethode aber noch erheblich weiter. Grundsätzlich ist hier zwischen selbstständigen und unselbstständigen Vergleichen zu unterscheiden: Selbstständige Vergleiche bilden jeweils das Thema einzelner Kapitel – z.T. argumentativ verbunden mit übergeordneten Fragestellungen –, unselbstständige Vergleiche haben eher beiläufigen Charakter; sie sind in den Argumentationsgang der jeweiligen Kapitel eingebunden, für diese aber nicht strukturbestimmend.
Inhaltlich lassen sich die unselbstständigen Vergleich in zwei Gruppen unterteilen: Solche, in denen Autoren, und solche, in denen Texte miteinander verglichen werden (Autoren- und Textvergleich). Eine gewisse formale und inhaltliche Varianz bieten schon die Autorenvergleiche: In einer Reihe von Kapiteln werden etwa bestimmte biographische Aspekte der behandelten Autoren – Redner, Philosophen, Dichter und Historiker –, wie z.B. Datierung, Lebensumstände und Charakterzüge, miteinander verglichen (biographischer A.-Vergleich).3 An anderer Stelle halten Gellius bzw. die auftretenden Gelehrten Autoren – wieder ohne Bezug auf konkrete Textstellen – gegeneinander (genereller A.-Vergleich), entweder um eine relative Wertung zu treffen (synkritischer A.-Vergleich) oder einfach um auf Unterschiede hinzuweisen, ohne Rangstufen festzulegen (qualitativer A.-Vergleich).4 Zum ersten der beiden Typen zählen auch die Stellen, an denen durch superlativische Ausdrücke beiläufig generelle Wertungen über einzelne Autoren gegeben werden,5 und solche, wo die Auseinandersetzung zwischen Autoren in Form von Wettkämpfen u.ä. – gewissermaßen inszenierte Kanonisierungsprozesse – beschrieben bzw. erwähnt wird.6
Geht man vom Autoren- zum Textvergleich über, so ergibt sich ein noch vielfältigeres Bild. Ein großer Teil der diesbezüglichen Bemerkungen bei Gellius betrifft das, was man modern als „Quellenkritik“ bezeichnen würde: Gemeinsamkeiten7 und Unterschiede8 der zu bestimmten sachlichen Fragen herangezogenen Schriften werden – z.T. pauschal, z.T. anhand konkreter Details – konstatiert (quellenkritischer T.-Vergleich). Damit verwandt sind auch die Zusammenstellungen von z.T. einander widersprechenden Ansichten verschiedener Philosophen bzw. -schulen zu konkreten Fragen (doxographischer T.-Vergleich).9 Das Interesse an sachlichen Abweichungen betrifft auch die Behandlung der Werke der Dichter: Auch hier werden sachlich zusammengehörige10 und abweichende11 Stellen gesammelt (sachlicher bzw. inhaltlicher Dichtervergleich).
Eine besondere Stellung nehmen diejenigen Passagen ein, an denen mit einem expliziten Hinweis auf eine vom Autor intendierte imitatio die literarische Abhängigkeit zwischen zwei Texten bzw. einzelnen Textstellen konstatiert wird. Das betrifft manchmal ganze Werke, in der Regel aber einzelne loci, versus oder verba12 – diese drei Felder literarischer imitatio führt Gellius beiläufig im Zusammenhang mit Vergils Lukrezanleihen ein (Vergleich von Modelltext und Nachahmung).13 Etwas anders gelagert sind die Stellen, an denen der Rückgriff auf einen allgemein bekannten, meist anonym überlieferten Gedanken, etwa eine Sentenz, durch einen Autor nachgewiesen wird (Gedanken- bzw. Sentenzenvergleich).14 Hier kann i.d.R. nicht von einem imitatio- bzw. aemulatio-Verhältnis gesprochen werden, die Parallele wird einfach wertneutral als gedankliche Entsprechung konstatiert.
Apologetischen Charakter haben die Stellen, an denen im Abgleich mit der auctoritas der „alten“, zumeist lateinischen Dichter eine Besonderheit im Sprachgebrauch – i.d.R. ein Abweichen vom sermo vulgaris bzw. von der consuetudo der Gegenwart im Bereich der verba – gerechtfertigt wird (Vergleich mit sprachlichen Autoritäten).15 Zu erwähnen ist außerdem noch der singuläre Vergleich verschiedener Gattungen der Historiographie in Gell. 5, 18 (Gattungsvergleich).16
Im engen Zusammenhang mit der Frage nach literarischer Abhängigkeit steht diejenige nach unlauteren Übernahmen aus anderen Schriften (Plagiat). Gellius kommt auf dieses Thema relativ selten zu sprechen. Immerhin referiert er in 3, 17, 4–6 den Vorwurf des Timon gegen Platon, wonach dessen Timaios zur Gänze einer pythagoreischen Lehrschrift nachgebildet sei.17 Das Gegenstück zum Plagiat, die Falschattribuierung eines nicht authentischen Werks an einen bekannten Autor, spielt hingegen eine weitaus wichtigere Rolle bei Gellius, etwa wenn es darum geht, die echten Stücke im Corpus Plautinum von den falschen zu scheiden (Pseudepigraphie).18
Ein benachbartes Gebiet von gleichwohl hoher Relevanz für die i.e.S. synkritischen Partien der Noctes Atticae ist die Übersetzung aus dem Griechischen und damit verbundene Fragen (Übersetzungsvergleich).19 Bilinguismus und Bikulturalität stellen bekanntlich eine kulturelle Konstante in der Entstehungszeit der Noctes Atticae dar.20 Gellius reflektiert an verschiedenen Stellen über die Übersetzbarkeit bestimmter Texte aus dem Griechischen ins Lateinische und stellt konkrete Übersetzungsvergleiche an.21 Praktischen Erwägungen folgen die bilinguen Synopsen griechischer und lateinischer Termini aus diversen Spezialdisziplinen, die Gellius der bequemen Übersicht willen zusammenstellt.22