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4.1.3 Die synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae
ОглавлениеIn einer ganzen Reihe von Kapiteln in den Noctes Atticae stellt der Textvergleich nicht einen gelegentlichen methodischen Zugriff auf bestimmte Texte dar, sondern er wird zum Thema des betreffenden Abschnitts selbst.1 Dies kommt z.T. schon in der Formulierung der Kapitelüberschriften zum Ausdruck. So ist Gell. 2, 23 etwa mit den beiden Begriffen Consultatio diiudicatioque locorum … überschrieben, die auf den analytischen (consultatio) und synkritischen (diiudicatio) Charakter des Abschnitts hinweisen.2 In den anderen tituli werden zwar nicht diese Termini, aber bedeutungsähnliche substantivische bzw. verbale Umschreibungen verwendet, wie aus der folgenden Übersicht zu ersehen:
Gell. 2, 23: Caecilius Statius und Menander (Consultatio diiudicatioque locorum facta ex comoedia Menandri et Caecilii, quae Plocium inscripta est)
Gell. 2, 27: Demosthenes und Sallust (Quid T. Castricius existimarit super Sallustii verbis et Demosthenis, quibus alter Philippum descripsit, alter Sertorium)
Gell. 9, 9: Vergil, Theokrit und Homer (Quis modus sit vertendi verba in Graecis sententiis; deque his Homeri versibus, quos Vergilius vertisse aut bene apteque aut inprospere existimatus est)
Gell. 10, 3: Cato d.Ä., C. Gracchus und Cicero (Locorum quorundam inlustrium conlatio contentioque facta ex orationibus C. Gracchi et M. Ciceronis et M. Catonis)
Gell. 11, 4: Ennius und Euripides (Quem in modum Q. Ennius versus Euripidis aemulatus sit)
Gell. 13, 27: Vergil, Parthenios und Homer (De versibus, quos Vergilius sectatus videtur, Homeri ac Partheni)
Gell. 17, 10: Vergil und Pindar (Quid de versibus Vergilii Favorinus existumarit, quibus in describenda flagrantia montis Aetnae Pindarum poetam secutus est; conlataque ab eo super eadem re utriusque carmina et diiudicata)
Gell. 19, 9: Römische und griechische Kleindichtung (titulus nicht überliefert)
Gell. 19, 11: Ps.-Platon und ein lateinischer Anonymus (titulus nicht überliefert)
Die Zahl von Kapiteln in den Noctes Atticae, die dem synkritischen Textvergleich gewidmet ist, legt es nahe, in diesen Fällen geradezu von einer eigenständigen literaturkritischen Kleinform zu sprechen. Inwieweit diese Annahme auch durch das Vorliegen gemeinsamer inhaltlicher und formaler Merkmale gerechtfertigt ist, soll im Folgenden durch eine knappe Analyse derjenigen Texte, die sich nicht speziell mit dem Homer-Vergil-Vergleich auseinandersetzen – vgl. zu diesen → Kap. 4.2 und 4.3 –, untersucht werden.
Das erste synkritische Kapitel der Noctes Atticae ist Gell. 2, 23,Gellius2, 23 der Vergleich einer griechischen Komödie Menanders (Πλόκιον)3 mit ihrer – heute ebenso wie das griechische Original verlorenen – lateinischen Übertragung durch Caecilius Statius.4
Die Unterschiede zwischen Menander und Caecilius werden in vier bzw. sechs Schritten erarbeitet: Nachdem Gellius in der Einleitung (I) seine Vorliebe für die Lektüre lateinischer Komödien nach griechischen Originalen (Menander, Poseidippos, Apollodoros, Alexis etc.) bekundet und festgestellt hat, dass nach ihrer Lektüre die griechischen Stücke in seinen Augen regelmäßig den Vorzug verdienten (2, 23, 1–3), kommt er (II) konkret auf das Plocium des Caecilius Statius zu sprechen (2, 23, 4–7). Dann folgen (IIIa–c) drei Parallelenpaare, jeweils unter Voranstellung des griechischen Originals und mit kurzer inhaltlicher Einordnung und ästhetischer Wertung der verglichenen Stellen:
2, 23, 8–10: Caecil. com. II 142–157 SRPF3 ← Men. frg. 296 PCG = 333 Körte
2, 23, 11–13: Caecil. com. II 158–162 SRPF3 ← Men. frg. 297 PCG = 334 Körte
2, 23, 14–21: Caecil. com. II 169–172 SRPF3 ← Men. frg. 298 PCG = 335 Körte
Abschließend (IV) wird in 2, 23, 22 noch einmal der Vorzug Menanders mit dem Hinweis hervorgehoben, dass die lateinische Nachbildung für sich betrachtet ihren künstlerischen Wert besitze, im direkten Vergleich mit dem Original aber ästhetisch abfalle.
Gellius geht es in diesem Kapitel um den Vergleich zweier Ganzschriften: Die drei Textbeispiele (loci) sind exemplarisch gewählt und dienen dem Zweck, die künstlerische Unterlegenheit der lateinischen Nachbildung im Ganzen zu belegen.5 Für derartige Vergleiche von Ganzschriften bot die frühe lateinische Übersetzungsliteratur – archaisches Epos und insbes. Tragödie und Komödie – reichlich Material, wobei die fehlende stoffliche Originalität der Texte grundsätzlich keinen Anlass zur Kritik lieferte.6 Auch Gellius setzt in 2, 23 die besonderen Produktionsbedingungen der frühen römischen Komödie als Übersetzungsliteratur als gegeben voraus:
Gellius greift in 2, 23 auf die traditionelle Terminologie zur Kennzeichnung von Übersetzungen – im weiteren antiken Sinne verstanden7 – zurück; vgl. 2, 23, 1 (Comoedias … nostrorum poetarum sumptas ac versas de Graecis …) und 2, 23, 6 (… Menandri … Plocium …, a quo istam comoediam verterat).8 Den Vorgang der Abweichung vom Original bezeichnet er mit dem Terminus mutare (2, 23, 7). Die Intention des „Übersetzers“ gerät in 2, 23, 11–12 in den Blick: Caecilius wird die Absicht unterstellt, bestimmte Züge des Originals übernehmen zu wollen, ohne jedoch die Fähigkeit zur Umsetzung besessen zu haben: … ea Caecilius, ne qua potuit quidem, conatus est enarrare, sed quasi minime probanda praetermisit et alia nescio qua mimica inculcavit et illud Menandri … simplex et verum et delectabile, nescio quopacto omisit. Die Abweichungen vom Original erscheinen in dieser Betrachtung als Symptome eines generellen künstlerischen Mangels. Entsprechend wird in 2, 23, 13 die lateinische Übertragung der zweiten Menanderstelle als „Entstellung“ des Originals (corrupit) gescholten, und auch in 2, 23, 21 ist Menander das Maß aller Dinge: Im Zusammenhang mit der dritten Caeciliusstelle stellt Gellius die Frage, ob der Römer die sinceritas und veritas der Menanderverse erreicht habe (… an adspiraverit Caecilius, consideremus).9 Auch der Schlussgedanke reiht sich hier ein: Der Versuch der Nachahmung sei in den Fällen, wo er mangels Begabung von Beginn an zum Scheitern verurteilt ist, nicht einmal erlaubt (2, 23, 22: … non puto Caecilium sequi debuisse, quod assequi nequiret). Caecilius wird demnach als ein Beispiel für eine zwar beabsichtigte, aber misslungene Nachahmung vorgestellt. Und schon in der Einleitung wird aemulatio ohne weitere Begründung als die leitende Absicht, die hinter dem Nachahmungsversuch des Caecilius steht, vorausgesetzt (2, 23, 3: ita Graecarum, quas aemulari nequiverunt, facetiis atque luminibus obsolescunt).
In den drei Einzelstellenvergleichen wird detailliert vorgeführt, was Gellius unter aemulatio verstanden wissen möchte.10 Die ästhetischen Kriterien, die zur Anwendung kommen, beziehen sich allesamt auf das poetische Programm der Neuen Komödie: Possenhafte Theatereinlagen (mimica) werden als unpassende Ergänzungen des Caecilius verurteilt, Menanders sprichwörtliche Lebensnähe11 und sein Realismus als Vorzüge des Griechen gegen den Lateiner ausgespielt, Schlichtheit und Gefälligkeit als Maßstäbe dramatischer Gestaltung auch an die lateinische Adaption angelegt.12 Beim zweiten Stellenpaar wird Menanders Fähigkeit der „angemessenen und schicklichen“ Charakterzeichnung gerühmt, die den Erfordernissen der Situation nachkommt und die der „alberne Spaßmacher“ Caecilius verfehlt habe.13 Glaubwürdigkeit und „Wahrheit“, d.h. Lebensnähe (sinceritas und veritas), sind, wie bereits angesprochen, die Leitbegriffe, die auch beim dritten Parallelenpaar die Beurteilungskriterien abgeben und mit denen der „tragische Schwulst“ des Caecilius kontrastiert.14
Die knappe Übersicht über die ästhetischen Analysen zeigt, dass Gellius an Caecilius dieselben Maßstäbe anlegt, die traditionell die Grundlage für die – positive – Beurteilung von Menanders Komödienstil bildeten.15 Aufführungs- und Rezeptionsbedingungen der Palliata geraten dabei an keiner Stelle in den Blick: Caecilius wird wie ein lateinischer Vertreter der griechischen Neuen Komödie beurteilt.16 Damit zwingt Gellius dem Caecilius in seiner Analyse einen Wettstreit unter falschen Voraussetzungen auf: Änderungen der Vorlage werden nicht unter ihren besonderen Bedingungen, sondern als Abweichungen von einer gegebenen und somit gültigen Norm betrachtet. Dem entspricht auch der bei Gellius vorausgesetzte Rezeptionskontext. Die beiden Dramen sind hier nicht mehr als Bühnenstücke, sondern als Gegenstände der gemeinschaftlichen Lektüre präsentiert.17 Auf diese Weise kann Gellius von den zeitgebundenen Erfordernissen, denen der römische Palliatadichter genügen musste, abstrahieren: Die Lesekultur der Noctes Atticae bedingt in diesem Fall eine ahistorische Betrachtungsweise von Literatur, die scheinbar zeitlosen Bewertungskriterien folgt – hier dem in Menanders Stück ideal verwirklichten Komödientypus.
Zwei der synkritischen Kapitel in den Noctes Atticae sind Textsorten gewidmet, deren Behandlung nach Quintilian18 in den Zuständigkeitsbereich des Rhetoriklehrers fallen, nämlich der Historiographie und der Rede (Gell. 2, 27 und 10, 3). Dabei handelt es sich nur im Fall von Gell. 2, 27Gellius2, 27 um den Vergleich eines griechischen (Demosth. steph. 67) mit einem lateinischen (Sall. hist. I frg. 88 Maurenbrecher) Text, und nur hier wird eine direkte Abhängigkeit im Sinne intentionaler aemulatio behauptet.19 Das Urteil ist T. Castricius in den Mund gelegt, einem Rhetoriklehrer, den Gellius in den wenigen Kapiteln, in denen er auftritt, als sittenstrenge Autoritätsperson kennzeichnet.20
Es ist dann auch ein moralischer Gesichtspunkt, den Castricius in seiner synkritischen Bewertung der beiden Stellen vorbringt: Sallust hatte den bei Demosthenes formulierten Gedanken, dass König Philipp von Makedonien – abgesehen von seinen bislang im Krieg erlittenen Blessuren – bereit sei, zur Mehrung seines Ruhmes den Verlust eines jeden Körperteils in Kauf zu nehmen, in der Weise auf Sertorius übertragen, dass er dem Römer noch zusätzlich eine perverse Freude an der Verstümmelung unterstellte: Quin ille dehonestamento corporis maxime laetabatur neque illis anxius, quia reliqua gloriosius retinebat (Gell. 2, 27, 2). Für Philipp war die Verstümmelung nur der notwendige, aber grundsätzlich unerwünschte Preis für die Steigerung seines Ruhms: … πᾶν ὅ τι βουληθείη μέρος ἡ τύχη τοῦ σώματος παρελέσθαι, τοῦτο προϊέμενον, ὥστε τῷ λοιπῷ μετὰ τιμῆς καὶ δόξης ζῆν („… jedes Körperglied, das das Schicksal ihm nehmen wollte, preisgebend, um mit dem, was ihm blieb, in Ehre und Ansehen zu leben.“).
Castricius erkennt einen Gegensatz zwischen der von ihm zugrunde gelegten Definition der laetitia – exultatio quaedam animi gaudio efferventior eventu rerum expetitarum (Gell. 2, 27, 3) – und der Situation des Sertorius: Der Verlust von Körperteilen könne, so ist zu ergänzen, keinesfalls unter die res expetitae fallen, deren Eintritt die Voraussetzung für die exultatio animi darstellt. Aus diesem gleichsam logischen Widerspruch ergibt sich ein moralischer Vorwurf gegen Sertorius, der in den Augen des Castricius das „rechte Maß“, d.h. die von der Natur vorgegebenen Grenzen der laetitia, überschreitet: nonne … ultra naturae humanae modum est dehonestamento corporis laetari?21
Castricius überträgt den moralischen Vorwurf gegen Sertorius nun bezeichnenderweise auf die Ebene des Autors bzw. Redners, wenn er Sallust indirekt eine Unstimmigkeit bzw. Unglaubwürdigkeit der Darstellung – also eine technische, keine moralische Schwäche – vorwirft, indem er einleitend zu dem oben zitierten Schlusssatz des Demosthenespassus urteilt: Quanto illud sinceriusque et humanis magis condicionibus conveniens (Gell. 2, 27, 4). Sincerius kann in diesem Zusammenhang nur auf die historische Glaubwürdigkeit der Charakterzeichnung Philipps durch Demosthenes gehen. Die Stoßrichtung des Vorwurfs bleibt in 2, 27 also in der Schwebe: Der moralische Tadel an einer Figur, die sich contra naturam verhält, wird zum Vorwurf gegen den Autor selbst umgemünzt. Es wäre demnach in den Entscheidungsspielraum des Historikers Sallust gefallen, den merkwürdigen Charakterzug des Sertorius psychologisch glaubwürdiger darzustellen bzw. auf die Erwähnung seiner naturwidrigen laetitia zu verzichten.22
In Gell. 10, 3Gellius10, 3 steht eine Trias exemplarischer Redner aus drei verschiedenen Generationen im Zentrum der Betrachtung. Das Kapitel kommt ohne narrative Einkleidung der Synkrisis aus, Gellius spricht also in eigener Person. Bei den drei verglichenen Rednern handelt es sich um M. Porcius Cato (234–149 v. Chr.), C. Sempronius Gracchus (153–121 v. Chr.) und M. Tullius Cicero (106–43 v. Chr.), die Entstehungszeit der Reden, aus denen die behandelten loci entnommen sind, fällt in die Jahre 190 v. Chr. (Cato or. frg. 9 Jordan = 8 frg. 58 ORF2 = frg. 42 Sblendorio Cugusi), 122 v. Chr. (Gracch. or. = 48 frg. 48–49 ORF2) und 70 v. Chr. (Cic. Verr. 2, 5, 161–163). Eine Sonderstellung nimmt Gell. 10, 3 insofern ein, als hier von den synkritischen Kapiteln der Noctes Atticae der einzige Fall vorliegt, wo Gellius ausschließlich lateinische Texte miteinander vergleicht.
Gell. 10, 3 verdient insofern besonderes Interesse, als hier – anders als etwa in Gell. 2, 23 – die literaturgeschichtliche Stellung der behandelten Redner stärker in den Blick gerät. Alle zum Vergleich gewählten loci behandeln dasselbe Thema, die ungerechte Misshandlung römischer Bürger durch römische Magistrate. Die drei Redner versuchen, mit der Schilderung dieses Vorgangs Empörung bei den Zuhörern auszulösen, setzen zu diesem Zweck jedoch unterschiedliche Mittel ein. Gellius stellt zunächst den Gegensatz zwischen Gracchus und Cicero heraus, indem er sich gegen die Einschätzung stellt, Gracchus sei der „ernstere, heftigere und gewaltigere“ (10, 3, 1: severior, acrior, ampliorque) der beiden Redner. Das allgemeine Urteil über den Stil des Gracchus wird in 10, 3, 4 gefällt. Nach Gellius besteht demnach ein Widerspruch zwischen res und verba, wenn Gracchus einen so schrecklichen Gegenstand „beinahe wie bei Komödienaufführungen üblich“ abhandelt: brevitas sane et venustas et mundities orationis est, qualis haberi ferme in comoediarum festivitatibus solet. Der schlichte, umgangssprachliche Ton, den Gracchus in seiner Rede De legibus promulgatis anschlägt, verstößt damit gegen die Forderung des aptum, den angemessenen sprachlichen Ausdruck für den jeweiligen Gegenstand. Das dabei relevante vitium eines zu niedrigen und unbedeutenden Ausdrucks für eine gewichtige Sache wird in der rhetorischen Terminologie mit den Begriffen humilitas bzw. ταπείνωσις bezeichnet.23 – In den Abschnitten 10, 3, 10–13 werden dann konkrete Vorzüge von Ciceros Darstellung24 benannt, die in das allgemeine Urteil münden (10, 3, 14): Haec M. Tullius atrociter, graviter, apte copioseque miseratus est. Hier wird das aptum also explizit als Beurteilungskriterium herangezogen.
Welche Funkion hat aber der abschließende Hinweis auf Cato (10, 3, 15–19)? Gellius bringt hier in einer beiläufigen Wendung die zeitliche Dimension der behandelten Reden ins Spiel: Wenn jemand das ältere Werk (10, 3, 15: priora) des Gracchus wegen seiner „archaischen“ Eigenschaften – Ungekünsteltheit, Kürze, natürliche Süße etc. – schätzt, soll er sich durch ein noch älteres Werk, nämlich Catos Rede De falsis pugnis (10, 3, 15: M. Catonis, antiquioris hominis), davon überzeugen lassen, dass der Verzicht auf rhetorische Kunstmittel nicht per se als Ausweis altertümlicher Natürlichkeit zu loben ist, sondern schon etwa 70 Jahre vor Gracchus von so herausragenden Rednern wie Cato als Mangel empfunden wurde (10, 3, 15):
Sed si quis est tam agresti aure ac tam hispida, quem lux ista et amoenitas orationis verborumque modificatio parum delectat, amat autem priora idcirco, quod incompta et brevia et non operosa, sed nativa quadam suavitate sunt quodque in his umbra et color quasi opacae vetustatis est, is, si quid iudicii habet, consideret in causa pari M. Catonis, antiquioris hominis, orationem, ad cuius vim et copiam Gracchus nec adspiravit.
Der Hinweis, dass sich Cato bei einem ähnlichen Gegenstand ähnlicher rhetorischer Mittel wie Cicero bedient habe, soll demzufolge zeigen, dass Gracchus in seiner Rede eine rhetorische Option, die zu seiner Zeit durchaus bestand, nicht ergriffen hat, dass sein schmuckloser und unpathetischer Bericht also eine bewusste stilistische Entscheidung darstellt: Intelleget <scil. lector>, opinor, Catonem contentum eloquentia aetatis suae non fuisse et id iam tum facere voluisse, quod Cicero postea perfecit. Damit stellt Gellius die Gültigkeit des Alterskriteriums keineswegs in Frage: Das Beispiel Catos hat ja auch deshalb Gewicht, weil er vor Gracchus geschrieben hat. Gellius führt aber vor, wie zwei ästhetische Prinzipien miteinander in Widerstreit geraten können, nämlich das Wirkungspostulat der Rhetorik – hier die kunstgerechte Erzeugung von Empörung durch den Redner – und die Liebe zur Vergangenheit, die das Alte um des Alters willen schätzt. Indem er differenzierend auf die stilistischen Varietäten innerhalb der archaischen Literatur hinweist, korrigiert er die einseitige Verehrung des Altertums durch den Gedanken, dass die alte Zeit nicht per se nachahmenswert ist, sondern bereits Cato die Mängel in der Redekunst seiner Zeit erkannt und auf eine Verbesserung der rhetorischen Technik hingearbeitet habe.
Zwei weitere Kapitel, Gell. 11, 4 und 17, 10, vergleichen Imitationen griechischer loci (Euripides und Pindar) durch lateinische Dichter (Ennius und Vergil). – Zunächst zu Gell. 11, 4:25Gellius11, 4 Gellius vergleicht hier einen Abschnitt aus der Hekuba des Euripides (Eur. Hek. 293–295) mit seiner Nachbildung durch Ennius (Enn. trag. 73 TrRF = I 165–167 SRPF3): Beide Stellen drücken den Gedanken aus, dass ein hochstehender Mann unabhängig von der Qualität seiner Rede höhere Glaubwürdigkeit besitzt als ein niedrigstehender. An den Versen des Euripides26 lobt Gellius – wieder wird die Synkrisis ohne erzählerische Rahmung präsentiert – die Wortwahl, den Gedanken und die Kürze.27 Die Absichten des Ennius bezeichnet Gellius mit den Termini vertere und aemulari28 und weist anschließend ausdrücklich darauf hin, dass Ennius für seine Übertragung dieselbe Anzahl von Versen benötigt habe.29 Einen qualitativen Unterschied stellt Gellius abschließend in 11, 4, 4 fest, indem er befindet, dass Ennius den Gedanken des Euripides nicht exakt wiedergegeben habe (satisfacere sententiae non videntur), wenn er bei der Übersetzung der Wendung ἔκ τ’ ἀδοξούντων ἰὼν | κἀκ τῶν δοκούντων (scil. λόγος; Eur. Hek. 294b–295a) von ignobiles und opulenti spricht. Ennius lässt also den für die sententia des Euripides notwendigen Aspekt des Ansehens, der nicht unbedingt vom äußerlichen Status bzw. vom Reichtum abhängt, zurücktreten.30 Damit schwächt er aber die Stringenz des Arguments: Euripides koppelt das Ansehen – d.h. die positive Wahrnehmung des Sprechers durch die Zuhörer, die auf der psychologischen Kategorie des ἦθος gründet – mit der rednerischen Überzeugungskraft, Ennius den Stand (ignobiles) bzw. den äußerlichen Wohlstand (opulenti) des Redners mit der Wirkung seiner Rede. Diese Einschätzung hebt die Gültigkeit des allgemeinen Urteils, Ennius habe sein Vorbild „gut“ nachgeahmt (11, 4, 3: Hos versus Q. Ennius … non sane incommode aemulatus est; 11, 4, 4: Bene, sicuti dixi, Ennius), nicht grundsätzlich auf, schränkt es aber in einem Teilaspekt – eben der gedanklichen Stringenz – ein.
Auch in Gell. 17, 10Gellius17, 10 werden zwei Dichterstellen miteinander verglichen; diesmal geht es um Vergil und Pindar, die beide eine eingehende Schilderung des feuerspeienden Ätna in ihre Gedichte aufgenommen haben.31 Vergils Verhältnis zu Pindar wird in 17, 10, 8 als „wetteifernde Nachahmung“ (cum … aemulari vellet) des griechischen „Klassikers“ (veteris poetae) in Betreff der „Gedanken und Worte“ (sententias et verba) gekennzeichnet. Das Urteil fällt negativ für Vergil aus: Der Lateiner hätte, so wird einleitend in 17, 10, 8 festgestellt, eine Stileigentümlichkeit Pindars, nämlich den „überladenen Stil“ (qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), so übertrieben, dass er im Gegenzug in das vitium des Schwulstes verfallen sei (ut Pindaro quoque ipso … insolentior hoc quidem in loco tumidiorque sit). Das Urteil wird dem Favorinus in den Mund gelegt, einer der Lieblingsgestalten bei Gellius.32 Ein narrativer Rahmen wird immerhin angedeutet mit der Angabe, Favorinus hätte sich vor der sommerlichen Hitze in die Villa eines Freundes bei Antium zurückgezogen, wohin auch Gellius und andere nicht näher bezeichnete Zuhörer gekommen seien. Damit ist die Szenerie aber auch schon umrissen; die Ausführungen über Pindar und Vergil sind ganz als Vortrag des Favorinus gehalten und werden durch keine Zwischenbemerkungen der Zuhörer unterbrochen.
Das negative Urteil über Vergils Ätnabeschreibung wird durch zwei biographische Anekdoten eingeleitet, die die Gültigkeit des negativen Urteils über den Dichter erheblich relativieren. Da ist zunächst der Vergleich mit der Bärengeburt, mit dem Vergil sein poetisches Produktionsprinzip als einen rigorosen Selektions- und Bearbeitungsvorgang der ursprünglichen Hervorbringung charakterisiert.33 Die Produkte des ingenium verlangen nach tractatio und cultus, d.h. ars, bevor sie ihre endgültige Gestalt erlangen – Vergil wird folgerichtig als vir[…] iudicii subtilissimi bezeichnet.34 Dieses Produktionsprinzip lasse sich besonders gut am Beispiel der Aeneis studieren, die – wie sich auch aus der angeblichen testamentarischen Verfügung Vergils, dass das Epos nach seinem Tod verbrannt werden soll, ergebe – die letzte Bearbeitungsstufe nicht erreicht habe und daher in der überlieferten Form sowohl ausgearbeitete als auch nur vorläufig abgeschlossene Partien enthalte.35 Die Synkrisis der beiden Ätnabeschreibungen hat demnach eine argumentative Funktion und soll ein Beispiel für die Stellen liefern, an die Vergil nicht mehr letzte Hand36 anlegen konnte.
Fragt man nach den konkreten Beurteilungskriterien, auf die sich Favorinus in 17, 10, 13–19 stützt, so lassen sich die für Pindar in Vorschlag gebrachten positiven ästhetischen Kriterien folgendermaßen zusammenfassen:
(1.) Realismus (1: … Pindarus veritati magis obsecutus id dixit, quod res erat quodque istic usu veniebat quodque oculis videbatur …)
(2.) Differenzierte Darstellung von Einzelaspekten (12: Vergilius … utrumque tempus nulla discretione facta confundit)
(3.) Transparenz i.S.v. Verständlichkeit (13: Atque ille Graecus quidem … luculente dixit)
Dem stehen auf der Seite Vergils eine Reihe von Negativkriterien gegenüber, die sich z.T. als korrespondierende vitia den o.g. Positivkriterien zuordnen lassen:
Einsatz von Klangmitteln auf Kosten des Inhalts (12: Vergilius autem, dum in strepitu sonituque verborum conquirendo laborat …)
Unklarheit in der Verbindung von Vorstellungsbereichen ↔ Positivkriterium (3) (14: at hic noster ‘atram nubem turbine piceo et favilla fumantem’ ῥόον καπνοῦ αἴθωνα interpretari volens crasse et inmodice congessit)
Verstöße gegen die eigentliche Wortbedeutung bei der Übertragung (15: ‘globos’ quoque ‘flammarum’, quod ille κρουνούς dixerat, duriter et ἀκύρως transtulit)
Mangel an Anschaulichkeit bzw. konkreter Vorstellung ↔ Positivkriterium (2) (16: Item quod ait ‘sidera lambit’, vacanter hoc etiam … accumulavit et inaniter; 17–18: Neque non id quoque inenarrabile esse ait et propemodum insensibile, quod ‘nubem atram fumare’ dixit ‘turbine piceo et favilla candente.’ …)
Unglaubwürdigkeit bzw. „Monstrosität“ ↔ Positivkriterium (1) (19: … hoc … nec a Pindaro scriptum nec umquam fando auditum et omnium, quae monstra dicuntur, monstruosissimum est.)
Entscheidend für die Beurteilung ist wieder, dass Favorinus vom ästhetischen status quo der Vorbildstelle, d.h. vom besonderen poetischen Stil Pindars (vgl. 17, 10, 8: … qui nimis opima pinguique esse facundia existimatus est), ausgeht, und Vergils Nachbildung explizit an diesem Standard misst. Der „reiche bzw. volle“ – und das heißt hier: der erhabene – Stil schlägt bei nicht kunstgemäßer Handhabung um in „Schwulst“ (ebd.: insolentior … tumidiorque sit). Deutlich ist, dass Favorinus hier, wenn er einleitend auf die sententiae und verba als Gegenstände des Vergleichs hinweist, auf die rhetorische Lehre von den Redestilen hinauswill: Insbesondere der Gesichtspunkt der Unglaubwürdigkeit in der διάνοια bzw. der sententia wurde von den Rhetorikern als Kennzeichen des ψυχρόν ~ frigidum angesehen, aber auch Auffälligkeiten in der Klangwirkung, wie sie Favorinus an Vergil beanstandet bzw. registriert, fielen in diesen Bereich.37 Die Kritik in 17, 10 ist also auf einen anerkannten stilistischen Standard, nämlich den hohen Stil Pindars, bezogen, was auch heißt, dass sie sich nicht primär auf die sachlichen Unglaubwürdigkeiten und Unstimmigkeiten in der vergilischen Ätnabeschreibung richtet und sich damit auf traditionelle Realienkritik reduzieren ließe. Stattdessen wendet sie sich gegen eine für jeden Leser erkennbare, im Ergebnis misslungene aemulatio, die den genannten Standard zwar zu erreichen bzw. zu übertreffen versucht, dies mangels letzter künstlerischer Sorgfalt aber nicht umzusetzen vermag.
Die beiden letzten synkritischen Kapitel der Noctes Atticae, Gell. 19, 9 und 19, 11, unterscheiden sich von den bislang behandelten in zweifacher, nämlich thematischer und methodischer, Hinsicht: Sie sind durch das gemeinsame Thema der Nachbildung bzw. Übersetzung griechischer Kleindichtung (Lyrik und Elegie) aufeinander bezogen und verzichten beide auf eine eingehende ästhetische Würdigung von Modell und Nachahmung. Stärker als bisher berührt gerade das erste der beiden Kapitel (Gell. 19, 9)Gellius19, 9 grundsätzliche Fragen des Kulturvergleichs zwischen Griechenland und Rom und des literaturhistorischen Stellenwerts der fraglichen Gedichte. Gellius verhandelt diese Themen, indem er für seine Gegenüberstellung exemplarischer Liebesgedichte eine komplexe Szenerie entwirft.
Anlass ist die Geburtstagseinladung eines reichen, anonymen Jünglings (adulescens) aus dem Ritterstand, der, aus Asien stammend, sich allgemein durch seine Begabung, besonders aber durch seine Liebe zur Musik (res musica) auszeichnet.38 Er lädt Freunde und Lehrer zu einem Symposium bzw. einer cena auf sein Landgut „vor der Stadt“ – gemeint ist Athen – ein (19, 9, 1), unter ihnen Antonius Julianus, der an dieser Stelle als Rhetor – d.h. öffentlicher (Rede-)Lehrer –, beredter Kenner der Altertümer und der älteren römischen Literatur, vor allem aber als Spanier charakterisiert wird: … Antonius Iulianus rhetor, docendis publice iuvenibus magister, Hispano ore florentisque homo facundiae et rerum litterarumque veterum peritus (19, 9, 2).39 Auf Bitten des Julianus lässt der Gastgeber seinen gemischten Chor, den er für musikalische Darbietungen unterhält, Gedichte von Anakreon, Sappho sowie von jüngeren, nicht näher benannten Elegikern vortragen.40 Zitiert wird ein 15 Verse umfassendes Gedicht bzw. Gedichtfragment in katalektischen jambischen Dimetern, das Gellius dem Anakreon zuschreibt.41
In 19, 9, 7–9 erfolgt dann im Anschluss an diese griechischen Darbietungen die direkte Auseinandersetzung zwischen einer Gruppe von literaturkundigen Griechen – ihre Kompetenz auch auf dem Gebiet der lateinischen Literatur wird eigens betont (19, 9, 7: … et nostras quoque litteras haut incuriose docti …) – und Antonius Julianus. Ihr Vorwurf richtet sich gegen zwei Eigenschaften des Julianus, nämlich seine für die Griechen wenig respektable Herkunft aus der spanischen Provinz (… tamquam prorsus barbarum et agrestem, qui ortus terra Hispania foret …) und seine Tätigkeit als Lehrer der Rhetorik in der lateinischen Sprache, die für die Feinheiten griechischer (Liebes-)Dichtung ungeeignet sei (… clamatorque tantum et facundia rabida iurgiosaque esset eiusque linguae exercitationes doceret, quae nullas voluptates nullamque mulcedinem Veneris atque Musae haberet). Immerhin schränken sie dieses Urteil wieder ein, indem sie auf „einige wenige Stücke“ (pauca) der Neoteriker Catull und Calvus verweisen, die ihren Vorstellungen von guter Dichtung entsprechen. An den Zeitgenossen der beiden Dichter lasse sich aber der grundsätzliche Mangel an Anmut in der lateinischen Sprache klar erkennen.42
Antonius Julianus entgegnet, dass seine Gegner an Liederlichkeit sogar den Alkinoos43 überträfen, wobei er charakteristischerweise – und ganz als Redelehrer, dem Catos Devise vom vir bonus dicendi peritus geläufig ist – Lebensführung und Poesie miteinander in Verbindung bringt: cedere equidem … vobis debui, ut in tali asotia atque nequitia Alcinoum vinceretis et sicut in voluptatibus cultus atque victus, ita in cantilenarum quoque mollitiis anteiretis (19, 9, 8). Mit dem Hinweis auf Alkinoos verfolgt Julianus sicherlich wie auch mit der folgenden sprechenden Geste den Zweck, seine Kompetenz auf dem Feld griechischer litterae zu beweisen. Er setzt den Angriff gegen seine Person mit einem Angriff gegen die lateinische Sprache (und Literatur) gleich (… nos, id est nomen Latinum …) und bedeckt sein Haupt mit dem pallium, dem traditionellen Gewand der Philhellenisten unter den Römern (19, 9, 9).44 Mit dieser Geste hatte – Julianus weist eigens darauf hin – der verschämte Sokrates in Platons Phaidros auf die Aufforderung seines Gesprächspartners reagiert, nach einer eben rezitierten Lysiasrede über die Liebe einen eigenen λόγος ἐρωτικός zu halten (Phaidr. 237a). Indem er gestisch auf die Scham des Sokrates über den anzüglichen Gegenstand verweist, spielt er seine Position als sittenreiner Römer gegen den von den Griechen geäußerten Vorwurf der Unbildung mit den Mitteln der griechischen Bildung selbst aus und erreicht auf diese Weise zweierlei: Einerseits beweist er, dass sie es bei ihm nicht mit einem ungebildeten „Barbaren und Bauern“ (19, 9, 7) zu tun haben, andererseits verwahrt er sich mit dem Hinweis auf die eigene Scham gegen den Vorwurf der asotia und nequitia (19, 9, 8). Den letzten Trumpf zieht er schließlich, wenn er in 19, 9, 9 betont, dass anmutige Liebesdichtung in Rom schon vor den genannten – zumeist neoterischen – Dichtern entstanden sei: … et audite ac discite nostros quoque antiquiores ante eos, quos nominastis, poetas amasios ac venerios fuisse.45 Die zeitliche Differenz zwischen Anakreon, Sappho und den Elegien der „jüngeren“ griechischen Dichter in 19, 9, 4 hatte für die Bewertung ihrer Gedichte keine Rolle gespielt.46
Gell. 19, 9 ist keine Synkrisis im strengen Sinne eines Vergleichs von Modell und Nachahmung. Antonius Julianus hätte natürlich auch für einen solchen Vergleich Material in der lateinischen erotischen Literatur finden können – griechische Modelle sind für mindestens zwei der in 19, 9, 11–14 zitierten Gedichte belegt.47 Doch fügt es sich besser in die Verteidigungsstrategie des Julianus, diesen Aspekt der Nachahmung bei den lateinischen Liebesdichtern auszuklammern, verfolgt er in 19, 9 doch offensichtlich die Absicht, die autonomen Qualitäten der lateinischen Lyrik bzw. Elegie gegen die Vorwürfe der Griechen zu betonen.48 Es passt als Ergänzung daher gut, dass Gellius zwei Kapitel später in 19, 11Gellius19, 11 zwei Gedichte desselben Themenkreises, nämlich wieder Liebesgedichte, gegeneinanderhält, diesmal aber mit dem erklärten Hinweis, dass es sich bei dem lateinischen Gedicht (= 345–346 FPL4) um eine Übersetzung bzw. um eine freie poetische Nachbildung handelt: Hoc δίστιχον amicus meus, οὐκ ἄμουσος adulescens, in plures versiculos licentius liberiusque vertit (19, 11, 3).49
Der enge Bezug von Gell. 19, 9 und 19, 11 ergibt sich auch daraus, dass das pseudoplatonische Distichon von 19, 11, 2 nicht nur allgemein der erotischen Poesie zuzurechnen ist, sondern sogar exakt dasselbe Thema wie das letzte in Gell. 19, 9 von Antonius Julianus vorgetragene lateinische Beispiel behandelt. Das Distichon des Catulus, in dem geschildert wird, dass der animus des Liebenden im Geliebten Asyl und Zuflucht findet, lässt sich nämlich als gedankliche Variation des in 19, 11, 2 zitierten pseudoplatonischen Doppelzeilers (= Anth. Pal. 5, 78) – der Kuss als Moment, in dem die ψυχή sich auf den Lippen des Liebenden einfindet, um in den Geliebten überzugehen; vgl. auch die formale Entsprechung in der Metrik – auffassen.50 Damit ergänzt Gellius den Nachweis des Julianus, dass es schon in ältester Zeit eine der griechischen gleichwertige lateinische erotische Poesie gegeben habe, indem er ein Beispiel aus der jüngsten Vergangenheit bringt: Der anonyme Dichter der 17 jambischen Dimeter wird als amicus des Gellius eingeführt (s.o.).51 Die Ausführungen von 19, 9 werden in 19, 11 aber in doppelter Hinsicht erweitert, indem nämlich neben der zeitlichen Dimension auch der Aspekt der imitatio angesprochen wird, die in 19, 11 als vollwertiges künstlerisches Produktionsprinzip an die Seite der – vermeintlich – „originalen“ römischen Kleindichtung von 19, 9, 11–14 tritt. Ein detaillierter Vergleich von Vorbild und Nachahmung findet in 19, 11 freilich nicht statt.52
Fasst man abschließend die Merkmale der synkritischen Kapitel der Noctes Atticae zusammen, so ergibt sich eine erhebliche formale und inhaltliche Varianz:
Wie bereits einleitend erwähnt, finden sich sowohl einfache Stellenvergleiche (10, 3; 19, 9; 19, 11) als auch Vergleiche von Modell und Nachahmung, bei denen der Nachahmungsaspekt auch entsprechend gekennzeichnet ist (2, 23; 2, 27; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10).
Hinsichtlich der gewählten Textsorten kommen sowohl historische bzw. rhetorische (2, 27; 10, 3) als auch poetische Texte (2, 23; 9, 9; 11, 4; 13, 27; 17, 10; 19, 9; 19, 11) als Vergleichsgegenstände in Frage.
Nur in Gell. 11, 4 werden ausschließlich lateinische Texte miteinander verglichen; regulär ist der Vergleich von griechischen und lateinischen Stellen.
Die Anzahl der verglichenen Autoren schwankt zwischen zwei (2, 23; 2, 27; 11, 4; 17, 10; 19, 11), drei (9, 9; 10, 3; 13, 27) und vier (19, 9).
Hinsichtlich ihres Umfangs sind die Dichterstellen in versus und loci zu klassifizieren, wobei einzelne Stellen auch repräsentativ für das jeweilige Gesamtwerk aufgefasst werden können (2, 23).
In der Regel wird ein abschließendes Urteil über die verglichenen Stellen gefällt, das meist auch detailliert ästhetisch begründet wird (vgl. aber 19, 9 und 10).
Der Vergleich kann entweder mit (z.B. 13, 27) oder ohne (z.B. 2, 23) Berücksichtigung der literaturgeschichtlichen Stellung der Autoren erfolgen.
Ein narrativer Rahmen, der den Vergleich auch soziokulturell einbettet und gelegentlich auf allgemeinere Fragestellungen – z.B. das Thema des Kulturvergleichs Griechenland/Rom – verweist, kann ausgeführt sein (z.B. 2, 23; 19, 9) oder nicht (z.B. 11, 4).
Trotz dieser Unterschiede wird man den textvergleichenden Einzelkapiteln der Noctes Atticae ihren insgesamt einheitlichen Charakter nicht absprechen. Wieder ist hier der eingangs erwähnte exemplarische Charakter der Einzelkapitel zu berücksichtigen: Gellius geht es weniger darum, einen einheitlichen Gattungstypus zu verwirklichen, als vielmehr die Vielfalt der in Frage kommenden Themen und Methoden bzw. ästhetischen Kriterien beispielhaft vorzuführen. Es lässt sich folglich durchaus mit Berechtigung von der Synkrisis als eigenständiger literaturkritischer Kleinform sprechen, auf die Gellius dann auch zurückgreift, wenn er in zwei Kapiteln seines Sammelwerks Vergleiche zwischen Vergil und dessen Vorbild Homer anstellt.