Читать книгу Homer und Vergil im Vergleich - Philipp Weiß - Страница 17
3.3 Zusammenfassung
ОглавлениеIn seinen programmatischen Äußerungen zeigt sich Seneca d.Ä. ganz auf der Höhe der stilkritischen Debatten seiner Zeit (→ Kap. 3.1). Er nimmt eine „moderne“ Position ein, wenn er die künstlerische imitatio einer Vielzahl von anerkannten Vorbildautoren als eine Methode beschreibt, dem aktuellen rednerischen Verfallszustand abzuhelfen. Seine Sammlung von Controversiae und Suasoriae hat weniger systematischen Anspruch im Sinne einer Theorie der imitatio, als vielmehr den Zweck, anhand konkreter Fälle Kategorien gelungener und misslungener Nachahmung vorzuführen. – In beiden behandelten Beispielen wird Vergils Kunst der imitatio als vorbildlich vorgestellt. Dies erfolgt jeweils vor der Kontrastfolie einer Prosadeklamation: Im Falle von suas. 1, 12 (→ Kap. 3.2.1) ist es ein aus Homer geschöpfter Abschnitt einer Übungsrede des griechischsprachigen Deklamators Dorion, der mit Vergils Homer-imitatio verglichen wird, in contr. 7, 1, 27 (→ Kap. 3.2.2) eine Formulierung des Cestius. Im letzteren Fall ist die Vergleichstechnik besonders raffiniert: Cestius imitiert und verfehlt Vergil; Vergil aber hat an selber Stelle wiederum Varro imitiert und dabei auch Modellstellen aus Homer und Apollonios Rhodios und deren philologischen Diskussionszusammenhang berücksichtigt. Als Anhang wird ein eigener Vorschlag Ovids referiert, der eine Schwachstelle in Varros Versen kenntlich macht: Wenn Varro in seiner Nachtschilderung die Menschen ruhig schlafen lässt, verstößt er gegen die Forderung nach psychologischer Glaubwürdigkeit. Erst durch diesen Kommentar Ovids wird deutlich, worin der Vorzug Vergils vor seinem Modell besteht: In der Aeneis ist nur vom tiefen Schlaf die Rede – der „Fehler“ Varros wird also vermieden. Auf ähnliche Weise führt suas. 1, 12 das Thema der Glaubwürdigkeit ein, diesmal aber in sachlicher Hinsicht: Vergil stellt den Steinwurf des Kyklopen viel vorsichtiger und den Gegebenheiten der Realität entsprechend dar, wohingegen Dorion seine Schilderung durch unrealistische und effekthascherische Details belastet. In beiden Abschnitten wird die imitatio also kontrastiv vor dem Kriterium der Glaubwürdigkeit bewertet, wobei in suas. 1, 12 Glaubwürdigkeit als Realismus im sachlichen Sinne – d.h. als Übereinstimmung mit der Erfahrungswirklichkeit –, in contr. 7, 1, 27 als Realismus im psychologischen Sinne gemeint ist.