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3 Forschungsstand zu den Pensionenunruhen
ОглавлениеDie Herrschaft der Orte über ihre Untertanen war um 1500 noch keineswegs konsolidiert. Im Verlauf des Spätmittelalters eigneten sich die eidgenössischen Städte zwar durch Eroberung, Kauf oder Pfandschaft mithin sehr grosse Territorien an, doch musste diese Expansionspolitik mittels Rückgriff auf die Ressourcen des Umlandes abgesichert und finanziert werden. Es kam zwischen den Burgunderkriegen und den Mailänderkriegen deshalb zu zahlreichen Stadt-Land-Konflikten, die häufig unter dem Eindruck einer intensivierten Territorialpolitik und einer gesteigerten Nutzung und Durchsetzung landesherrlicher Rechte standen. Die Folgen der obrigkeitlichen Mächtepolitik lasteten schwer auf den Schultern der Untertanen. Steuern und verstärkte militärische Inanspruchnahme verschlechterten das Verhältnis zwischen Obrigkeit und Untertanen.65 Die enge Verknüpfung der Ereignisse zwischen 1513 und 1516 mit dem politischen und militärischen Engagement in Oberitalien, die Frage nach der Verteilungsgerechtigkeit von Nutzen und Kosten aus dem Sold- und Pensionengeschäft und die divergierenden Interessenlagen bei Untertanen und Obrigkeiten erschweren es indessen, die Ereignisse unter einen «klassischen» Stadt-Land-Konflikt zu subsumieren. Diese Konfliktkonstellation verleiht den Pensionenunruhen eine gewisse Exklusivität, welche einen Vergleich erschwert und bislang offenbar wenig attraktiv auf die Forschung wirkte. In der seit den 1980er-Jahren fruchtbar betriebenen Unruheforschung fanden die Pensionenunruhen jedenfalls nur am Rand Eingang in die Diskussion.66 Auch in der allgemeinen Schweizer Geschichte sind die Unruhen im Umfeld der Mailänderkriege – im Gegensatz zur bisweilen glorifizierten Grossmachtpolitik zwischen 1474 und 1515 – kein prominenter Gegenstand. Eine Monografie zu den Pensionenunruhen gibt es nicht. In jeweils sehr unterschiedlichem Umfang fanden die Ereignisse zwischen 1513 und 1516 jedoch Eingang in Handbücher und Überblicksdarstellungen zur Schweizer Geschichte (1), in die Landesbeziehungsweise Kantonsgeschichte (2), in die Militär- und Kriegsgeschichte (3) und in die neuere Sozial- und Kulturgeschichte (4).
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Die älteren Überblicksdarstellungen zur Schweizer Geschichte schenkten den Pensionenunruhen im Vergleich zum ähnlich gelagerten, aber räumlich nur auf Zürich begrenzten Waldmannhandel von 1489 wenig Beachtung.67 Die Bewertung der Historiografie des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts lässt sich mit Johannes Dierauer dahingehend zusammenfassen, dass es sich bei den Aufständen «im Grunde» um «eine berechtigte Reaktion gegen ungesunde politische und soziale Verhältnisse» handelte, «die aber doch, wie es bei Massenerhebungen zu geschehen pflegt, in leidenschaftliche und grobe Ausschreitungen überschlug.»68 In Analogie zur älteren Literatur blieb die den Unruhen zugemessene Aufmerksamkeit auch in den Gesamtdarstellungen aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts bescheiden. Das 1972 erschienene Handbuch der Schweizer Geschichte widmet den Pensionenunruhen im Unterkapitel Ausbildung der Territorialhoheit lediglich sechzehn Zeilen. Schaufelberger verweist in seinem Beitrag zwar auf den Zusammenhang der Aufstände mit den Mailänderkriegen, lässt jedoch im Gegensatz zur älteren Forschung die Sold- und Pensionenproblematik vollständig ausser Acht. Dagegen unterstreicht der kurze Überblick das angeblich konservative Wesen der Bewegung.69 Weder im Rekurs der Aufständischen auf das alte Herkommen noch in dem von den Berner Untertanen eingeforderten Recht auf eine institutionelle Mitsprache in Bündnisangelegenheiten vermag Schaufelberger einen prospektiven Charakter zu erkennen. In der 1982 erschienenen und methodisch der Sozial-, Wirtschafts- und Mentalitätsgeschichte verpflichteten Geschichte der Schweiz – und der Schweizer kommen die Pensionenunruhen gar nicht vor.70 Auch andere Gesamtdarstellungen zur Schweizer Geschichte erwähnen die Aufstände im Zusammenhang mit den italienischen Feldzügen oder dem Sold- und Pensionenwesen nur kurz71 – oder überhaupt nicht.72 Im hervorragenden und wichtigsten Nachschlagewerk zur Schweizer Geschichte, dem Historischen Lexikon der Schweiz, finden sich ebenfalls nur sehr kurze auf die Ereignisgeschichte fokussierte Einträge zum Könizer Aufstand und zum Zwiebelnkrieg, nicht aber zu den Aufständen in Solothurn und Zürich.73 In anderen Einträgen interpretiert das Lexikon den Protest in den vier Städteorten als Ausdruck eines verschärften Kampfes um Ressourcen zwischen Stadt und Land und betont den aussenpolitischen Bezug der Proteste.74 Doch erst das jüngst erschienene neue Handbuch Die Geschichte der Schweiz (2014) hat die Kernproblematik der Pensionenunruhen erfasst: Mit den Aufständen «war die Frage, wer von den Kriegszügen und Soldwerbungen profitierte und wer die Kosten – vor allem an Menschenleben – zu tragen hatte, zum Politikum geworden.»75
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Ausführlicher als die Überblicksdarstellungen zur allgemeinen Schweizer Geschichte hat sich die Landes- beziehungsweise Kantonshistoriografie mit den Pensionenunruhen beschäftigt. Für Bern markiert die 1529 erschienene Berner-Chronik von Valerius Anshelm den Beginn einer intensiven Auseinandersetzung mit den Pensionenunruhen und dem Könizer Aufstand.76 Der grosse Einfluss der Chronistik aus dem 16. Jahrhundert auf die spätere Geschichtsschreibung in Bern (aber auch in Luzern, Solothurn und Zürich) ist auch der Grund für die möglicherweise merkwürdig anmutende Tatsache, dass die Chroniken in diesem Kapitel und nicht im Kapitel über die Quellen diskutiert werden. Anshelms Parteinahme für die Anliegen der Pensionengegner sind augenfällig, erkennt er doch in den «fro(e)mden pensionen, pu(e)nden und kriegen» nichts weniger als «gu(o)ten pollicien to(e)tliche hoptviend».77 Trotz seinem offenkundigen Missfallen an den von der Obrigkeit abgetrotzten Rechten, die er als einem «gu(o)tem gmeinem regiment unlidlich und verderblich»78 einstuft, bleibt sein Urteil in Bezug auf die aufständischen Gemeinden milde. Die «arbeitsamen gmeinden» werden in seiner Analyse zu eigentlichen «veldga(e)nsen», «zu(o) denen man zu(o)m jar zweimal gu(o)t ufsehen tu(o)t, namlich S.Johanstag, so man si sol uf d’hut berupfen, und um S.Martinstag, so man s’ gar sol praten; darzwischen uf d’weid an d’fu(e)chs und d’wo(e)lf wagen.»79 Seine Kritik zielt deshalb vor allem auf die in Faktionen zersplitterte Obrigkeit, 80 wenn er den Leser beispielsweise daran erinnert, «vor ougen zehaben und nimmer zu(o) vergessen, was uss nid und git in gmeinem regiment erwachse; keine herren, keine pensionen, mu(e)et, gaben noch so(e)ld mo(e)gend iro disen schaden, den si geborn hond, abtragen, aber wol meren, eigennu(e)tzig, gwaltgitig obren, und verachtlich, unghorsam undertanen machen, wie dan vor und iezt nach diser ufru(o)r me dan vor ie beschehen. Got, wie durch’s evangelium angefangen, besser’s!»81 Nur mit roher Gewalt und ohne Besinnung auf das Evangelium, so lässt sich das Urteil des sendungsbewussten Chronisten zu den Pensionenunruhen zusammenfassen, war dem Eigennutz und der Gier der Obrigkeit nach Pensionen nicht beizukommen.
Anshelms Darstellung ist in der bernischen Historiografie die wichtigste Referenz für die Deutung der Könizer Aufstände und beeinflusste folglich auch das gewichtige vierbändige Werk über die Geschichte Berns von Richard Feller aus dem Jahr 1946. Auch hier reinigte das «Ungewitter des Jahres 1513» die Sitten – in Anspielung auf die bevorstehende Reformation – noch nicht.82 «Zuerst Hitze, dann gnädiges Einlenken schwächt der Obrigkeit Gebot», beurteilt Feller Anshelm folgend den Ausgang der Aufstände.83 Einziger Ertrag der Bewegung, bilanziert Feller deshalb, war das «gesetzlich festgelegte Mitspracherecht der Landschaft in der Aussenpolitik».
Mit der Verortung des Könizer Aufstands im Kontext der städtischen Landesherrschaft beschäftigten sich ein halbes Jahrhundert später auch die beiden Untersuchungen von Peter Bierbrauer84 und André Holenstein.85 Für Bierbrauer stellt der Aufstand von 1513 im Kern einen Versuch der Bauern dar, den bernischen Staat nach ihren Vorstellungen zu prägen. Er ist der Ansicht, dass die von den rebellierenden Untertanen angestrebte politische Ordnung einer Konzeption von unten entsprach. Den Gemeinden und Landschaften ging es, so diese ständegeschichtliche Perspektive, ausschliesslich darum, einen zentralistischen Territorialstaat zu verhindern und ihre kommunalen Freiheiten zu wahren. Im Rahmen der ständischen Gesellschaft, einer societas cum imperio, blieben für einen gesamtstaatlichen Handlungs- und Entscheidungsspielraum der Obrigkeit kaum mehr als das Kriegswesen und die Aussenpolitk, wobei selbst dieser Handlungsbereich 1513 dem bäuerlichen Mitspracherecht unterworfen worden war.86 Holenstein dagegen betont den nur wenig revolutionären Charakter der Bewegung, da mit der Durchsetzung einzelner Klagen und der ausdrücklichen Garantie der kommunalen Freiheiten für die beteiligten Gemeinden das Wesentlichste erreicht war. Auf die Forderung nach einer Beteiligung am städtischen Regiment, so Holenstein, wurde während der gesamten Dauer der Erhebung verzichtet.87 Auch die institutionelle Mitsprache der Landschaft in der Aussenpolitik beurteilt Holenstein im Unterschied zu Bierbrauer und Feller deutlich zurückhaltender, indem er mit Blick auf die bernischen Ämteranfragen88 zu Recht darauf hinweist, dass die Fixierung dieses Konsensrechts nicht mehr als die rechtliche Absicherung «einer eingeübten Praxis» bedeutete.89
In besonderer Weise interessierte sich auch die bernische Wirtschaftsgeschichte für den Könizer Aufstand. In seiner 1971 erschienenen Dissertation zum Thema Lebensmittelteuerungen, ihre Bekämpfung und ihre politischen Rückwirkungen in Bern stellt der Wirtschaftshistoriker Hugo Wermelinger die unterschiedlichen Marktinteressen zwischen städtischen Konsumenten und ländlichen Produzenten ins Zentrum seiner Betrachtung. Die erzwungene Deregulierung der bislang einseitig ausgerichteten, konsumentenfreundlichen Wirtschaftspolitik (Fürkaufverbot) wird bei Wermelinger zum wichtigsten Anliegen der Aufständischen (Forderung nach dem freien Kauf).90 Die monokausale Deutung der Könizer Aufstände als Reaktion der Produzenten auf die Wirtschaftspolitik der Obrigkeit unterschätzt die Bedeutung des Sold- und Pensionenwesens für den Protest. «Parteienhader und Bestechlichkeit» waren zweifellos mehr als nur der unmittelbare Anlass der Ereignisse.91
In Luzern setzt die Geschichtsschreibung zum Zwiebelnkrieg mit Renward Cysat ebenfalls im 16. Jahrhundert ein. Cysats Darstellung entstand sechzig Jahre nach den Unruhen 1573 und beeinflusste auch die luzernische Historiografie nachhaltig. Als Quellen dienten ihm Augenzeugenberichte, wobei er sich besonders auf den zur Zeit der Befragung achtzigjährigen Rudolf Lipp stützt.92 Aus seinem Unverständnis gegenüber den Anliegen der Aufständischen macht Cysat als Pensionär Savoyens, Spaniens und Frankreichs93 keinen grossen Hehl. Für ihn steht fest, dass «die puren mitt jrem trutzigen wäsen vnd vngestüme von einem ersamen rhat vil sachen vnd brieffen vßbracht, so jn künftigem vnserm fryen stand vnd gmeinem nutz hette mögen nachtheilig sin vnd zu verkleinerung dienen».94
Die luzernische Historiografie des 19. Jahrhunderts attestierte den Untertanen ein mittelalterliches Rechtsverständnis. Laut Anton Philipp von Segesser griffen die Aufständischen in Analogie zu Bern «nicht das Subject der Landeshoheit an, verlangten nicht eine democratische Organisation, wodurch sie als Eine Gemeinde mit den Räthen und den Burgern von Lucern die Herrschaft getheilt hätten, sondern sie stellten sich gegentheils als die Gesammtheit der Unterthanen der Obrigkeit gegenüber als ein gesondertes Subject von Rechten; sie verlangten aber als solches die Theilnahme an der Entscheidung über Krieg und Frieden, einem wesentlichen Attribute der Hoheit, eine Theilung der Staatsgewalt ganz im Geiste der mittelalterlichen Anschauungen.»95 Diesem eingeforderten Mitspracherecht in aussenpolitischen Fragen spricht von Segesser indessen jegliche «Ideen von democratischer Gleichberechtigung» ab und sieht das Motiv für die verlangte politische Teilhabe einzig in den «aus solchen Verbindungen hervorgehenden weitern Lasten der Unterthanen».96 Eine andere Perspektive nimmt die 1903 erschienene Arbeit von Theodor von Liebenau zur Geschichte der Stadt Willisau ein. Von Liebenau interpretiert die Unruhen in Willisau, wo die Aufstände auf der Luzerner Landschaft ihren Anfang nahmen, als Folge eines doppelten Interessengegensatzes. Nicht nur seien die Willisauer Stadtbürger «Freunde des Reislaufens» gewesen, die es «gar nicht ungern» gesehen hätten, «wenn der Rat von Luzern mit fremden Fürsten Bündnisse abschloss», sondern gleichzeitig hätten sie «dem neuen Staatsrechte» gehuldigt, das «auf Rechtseinheit, Zentralisation der Verwaltung, Erklärung der Jagd und Fischerei etc. als Regal und Einführung des heimlichen, schriftlichen Gerichtsverfahrens hinzielte».97 Die Willisauer Landgemeinde dagegen, so von Liebenau, «war allen Bündnissen mit fremden Fürsten abgeneigt» und hielt «an dem von den Vätern ererbten Rechte fest.»98 Obwohl von Liebenau 1881 auf die vorhandenen Interessengegensätze innerhalb der Luzerner Stadtbürgerschaft im Verlauf des Zwiebelnkriegs hingewiesen hatte, 99 kommen solche sich partiell überlagernden Interessenlagen von Teilen der Obrigkeit und Teilen der Untertanen in der Untersuchung zu Willisau nicht zur Sprache. Die Vorstellung von der Obrigkeit beziehungsweise von den Aufständischen als jeweils homogene und koordiniert handelnden Interessengruppen fand auch in der Geschichte des Kantons Luzern im 16. und 17. Jahrhundert von Sebastian Grüter aus dem Jahr 1945100 ihren Niederschlag. Diese wich jedoch 1994 mit der unveröffentlichen Lizentiatsarbeit von Peter Spettig über den Zwiebelnkrieg einer differenzierteren Betrachtung. Mit Blick auf die Träger der Unruhen stellt Spettig fest, dass es zwischen den beiden Konfliktparteien laufend zu Umgruppierungen gekommen sein dürfte und es folglich falsch sei, von nur zwei Konfliktparteien auszugehen.101
Die Forschungssituation zu den Unruhen in Solothurn fällt im Vergleich zu Bern und Luzern deutlich knapper aus.102 Als Erster wandte sich Adolf Lechner 1909 dem Gegenstand ausführlicher zu. Doch wie es der Titel der Arbeit, Solothurnische Nachklänge zum Dijonervertrag von 1513, andeutet, finden die Ereignisse des Sommers 1513 in der Darstellung Lechners nur am Rand Erwähnung.103 Die Arbeit behandelt vielmehr «die eigenmächtigen diplomatischen Betätigungen und militärische Aktionen Einzelner» nach der militärischen Unternehmung der Eidgenossen in Dijon im Kontext von Parteienstreit, Solddienst und französischer Diplomatie, welche Solothurn noch einige Jahre über den Aufstand hinaus in Atem hielten.104 Detailliert beleuchtet dagegen die Studie von Bruno Amiet die Ereignisse in Solothurn in den Jahren 1513.105 In komprimierter Form finden sich seine Ergebnisse in dem 1952 ebenfalls von ihm erarbeiteten ersten Band zur solothurnischen Geschichte.106 Die Bilanz der solothurnischen Kantonsgeschichte in Bezug auf die Wirkung der Unruhen fällt dabei ähnlich nüchtern aus wie für Bern und Luzern: «Wie festgefügt und wie selbstverständlich sonst die rechtliche und politische Ordnung der Stadt in den Augen der Bürger war, zeigt der Umstand, dass unter den Bauernforderungen keine einzige irgend einen Anteil des Landvolks am Regiment, etwa Ratssitze für Bauernvertreter, verlangt hätte.»107 Und das, «obwohl die solothurnischen Knechte, die so oft mit den Bauern der Urschweiz auf den vielen Kriegszügen zusammentrafen, die Einrichtung der Landsgemeinden und das politische Mitspracherecht der dortigen Landleute wohl kennen mussten.»108
Erheblich mehr Raum als in der Solothurner Geschichtsschreibung nehmen die Unruhen in der Kantonsgeschichtsschreibung von Zürich ein. Auch hier beginnt die Aufarbeitung der Ereignisse im 16. Jahrhundert. Mit Johannes Stumpf, 109 Heinrich Bullinger110 und Hans Füssli111 widmeten sich drei Zürcher Chronisten dem sogenannten Lebkuchenkrieg. Alle drei Darstellungen fokussieren nebst der Ereignisgeschichte insbesondere auf das umstrittene Verhalten der angeklagten Zürcher (Bestechungen etc.). Auffallend dabei ist, dass in keinem der drei Werke der Einigungsvertrag zwischen Obrigkeit und Aufständischen (Mailänderbrief) diskutiert wird.112 1910 diagnostizierte Karl Dändliker in seiner Geschichte der Stadt und des Kantons Zürich «ein soziales oder wirtschaftliches Missbehagen»113 und kontextualisierte die Unruhen vor dem Hintergrund der Zürcher Verfassungsgeschichte. Seiner Einschätzung zufolge hatte die ökonomische Belastung der Untertanen seit dem Waldmannhandel «keine Erleichterung erhalten; die wirtschaftliche Gebundenheit und Zurücksetzung, sowie der allgemeine Notstand drückten nach wie vor.»114 Aus dem «Gefühl der Verbitterung über die Ungerechtigkeit, die darin lag, dass man die ‹Reiser›, die frei nach Sold und Beute jagten, bestrafte, ja schwer traf, während man den vornehmen Herren ruhig und ungehindert reiche Pensionen vom Auslande her zufliessen liess», 115 resultierte der Mailänderbrief, eine «der wichtigsten Verfassungsurkunden unserer älteren Kantonsgeschichte.»116 Anton Largiadèr betonte zehn Jahre später in seiner Arbeit über die zürcherische Landeshoheit, dass 1515 im Unterschied zu den Untertanenprotesten in der Reformationszeit ausschliesslich politische Fragen verhandelt worden und wirtschaftliche Beschwerden ganz in den Hintergrund getreten seien.117 In dieser Frage herrscht in der Zürcher Historiografie seither weitgehend Konsens. Dass sich der Konflikt in Zürich 1515 im Unterschied zum Waldmannhandel 1489 – aber auch im Gegensatz zu den Unruhen in Bern, Luzern und Solothurn von 1513 – auf politische Inhalte (Pensionenwesen, Schuldfrage an der Niederlage in Marignano) beschränkte, lässt sich gemäss der Arbeit von Christian Dietrich damit erklären, «dass eine grundlegende Klärung der Stadt-Land-Beziehung auf der Basis der Anerkennung der gegenseitigen Rechtsansprüche schon 1489, bestätigt im ‹anbringen› von 1513, erfolgt war.»118 Heinzpeter Stucki, welcher den Lebkuchenkrieg für die 1996 erschienene Geschichte des Kantons Zürich bearbeitete, interpretiert den Mailänderbrief deshalb als eine Ergänzung zu den Waldmannschen Spruchbriefen.119 Die politische Erschütterung habe schliesslich, so bilanzieren Dietrich wie auch Stucki, einen Wandel in der zürcherischen Regierungspraxis bewirkt. Um einen Konsens in wichtigen Fragen bemüht, griff die Zürcher Obrigkeit nun vermehrt auf das Instrument der Ämteranfragen zurück.120 Obwohl in Zürich die Kompetenz des Rats in der Aussenpolitik nicht zur Debatte stand, bedeutete der Lebkuchenkrieg für die zürcherischen Aussenbeziehungen einen Richtungswechsel. «Durch ihn ward», resümiert Guido Stucki, «der in der Limmatstadt wie anderswo recht rührigen Franzosenpartei das Rückgrat gebrochen, was sich an einer fortan noch konsequenter gehandhabten anti-französischen bzw. kaiserlichen und päpstlichen Politik manifestierte.»121
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Die ältere Militär- und Kriegsgeschichte bekundete ein reges Interesse an den Pensionenunruhen. Bereits die Dissertation von Wilhelm Gisi aus dem Jahr 1866 interpretiert die Unruhen als Folge des diplomatischen und militärischen Engagements der Orte in den Mailänderkriegen.122 Ganz in dieser Tradition beurteilte Ernst Gagliardi in seiner wichtigen Arbeit Novara und Dijon. Höhepunkt und Verfall der schweizerischen Grossmacht im 16. Jahrhundert alle Forderungen der bernischen Aufständischen, die nicht im Zusammenhang mit dem Sold- und Pensionenwesen standen, als sekundär für den Ausbruch der Unruhen.123 Erst über die Zeit, so Gagliardi, habe «die Bewegung auch den sozialen Charakter erhalten, den ein Bauernaufstand in dieser Zeit unvermeidlich gewinnt», und «mit allem Nachgeben und schnellen Eingehen auf die ursprünglichen Ziele der Empörung konnte Bern es nicht verhindern, dass auch die übrigen Wünsche in so günstiger Stunde bei seinen Untertanen sich regten».124
Eine Brücke zwischen Militär-, Wirtschafts-, Sozial- und Verfassungsgeschichte schlug Emil Dürr, indem er auf das latente Spannungsfeld zwischen aussenpolitischer Macht und innerer Verfasstheit des eidgenössischen Bündnisgeflechts zu Beginn des 16. Jahrhunderts hinwies. «Aussenpolitisch stand die Eidgenossenschaft auf der Ho(e)he ihrer Macht und ihres Ruhmes. Aber zur selben Zeit klafften in ihrem sozialen und staatlichen Gefu(e)ge so tiefe und so bedenkliche Risse auf, dass diese jene Grossmachtstellung von innen heraus problematisch gestalteten.»125 Dabei sah er einen eigentlichen «Demokratismus» am Werk, welcher sich mit einem politischen und wirtschaftlichen Konservatismus verbunden habe. So habe man «im Grunde die Ru(e)ckkehr zu a(e)lteren, u(e)berwundenen, als besser empfundenen Rechtsverha(e)ltnissen» angestrebt, wobei die Bauern und Landstädter die Kraft zum Aufstand und zum Widerstand «nicht zuletzt im Bewusstsein gescho(e)pft haben, dass es ja vor allem ihre Arme gewesen, welche die grossen Waffentaten und die politischen Erfolge der allerletzten Jahre erstritten hatten.»126
Das in sämtlichen militärgeschichtlichen Darstellungen greifbare Unbehagen gegenüber dem Sold- und Pensionenwesen illustriert etwa die breit angelegte Untersuchung Emil Usteris zu Marignano aus dem Jahr 1974.127 Obwohl die Zürcher Prozesse im Nachgang des Lebkuchenkriegs gemäss Usteri einige Blicke hinter die Kulissen der Vorgänge während der Friedensverhandlungen in Gallarate erlauben würden, seien «gewisse Hemmungen zu überwinden». Gleichwohl müsse, so Usteri weiter, «auch diese dunkle Seite im Schweizer Geschichtsbuch aufgeschlagen und unparteiisch studiert werden.»128 Die Wirkung dieses Appells war innerhalb der militärhistorischen Zunft indessen beschränkt. In der neusten Überblicksdarstellung zu den Solddiensten kommen die Pensionenunruhen nicht zur Sprache.129
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Deutlich weniger Berührungsängste mit dem Gegenstand kennt die neuere Kultur- und Sozialgeschichte. Die Habilitationsschrift Valentin Groebners mit dem Titel Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit aus dem Jahr 2000 bedeutete einen eigentlichen Paradigmenwechsel. Groebner beurteilt die Aufstände im Unterschied zum bisherigen Deutungsangebot nicht mehr als Ausdruck einer durch das Pensionenwesen verursachten Krise, sondern interpretiert sie als Folge einer Verfestigung und Arrondierung der politischen Strukturen durch das Pensionenwesen.130 In Anlehnung an Groebner wies Claudius Sieber-Lehmann auf den Umstand hin, dass sowohl bei den Pensionenunruhen als auch beim Waldmannhandel nicht die grundlegenden Parameter des Systems beziehungsweise die Verfassungsformen (Kommunalismus, Republikanismus, Demokratie) zur Debatte standen, sondern vielmehr Handlungsweisen gedeutet wurden. «‹Interesse› im doppelten Sinne stand dabei im Vordergrund: Als Teilnahme am Spiel, aber – im Sinne des lateinischen interesse – auch als Profit.»131 Diese kultur- und sozialgeschichtliche Perspektive rückt die Bedeutung eines um materielle Ressourcen geführten Verteilungskampfes innerhalb eines immer stärker zugunsten der Obrigkeit strukturierten Sold- und Pensionenmarktes ins Zentrum. Sieber-Lehmann spricht deshalb von einem Spielfeld, im Sinn Bourdieus, mit ihm eigenen Verhandlungsregeln.132 Auch die neuste Untersuchung zum Könizer Aufstand von Hans Braun zielt nicht auf die Verfassungsformen ab, sondern nimmt die beteiligten Akteure und deren Handlungsweisen in den Blick.133 Aus dem bernischen Material geht dabei deutlich hervor, dass die Angeklagten zunächst auf die Nachsicht der Obrigkeit vertrauten und glaubten, «man werde wie früher durch die Finger sehen.»134 Diese stillschweigende Übereinkunft zwischen den Reisläufern, Werbern und Pensionenverteilern auf der einen Seite und Teilen der politischen Elite auf der anderen Seite fand mit den Aufständen allerdings ein abruptes Ende. Die im Verlauf der Unruhen wegen ihrer Pensionenbezüge massiv unter Druck geratenen Ratsherren inszenierten sich mit Blick auf die anstehenden Prozesse «als Opfer der arglistigen Täuschungsmanöver der französischen Gesandten», was zur Folge hatte, dass sie sich gegenseitig die Verantwortung zuschoben.135 Simon Teuscher erkannte 1998 in seiner Dissertation über die Soziabilität und Politik in der Stadt Bern um 1500 das heuristische Potenzial der Ereignisse im Umfeld des Könizer Aufstandes und machte das überlieferte Material erstmals für die historische Klientelismusforschung fruchtbar.136 Teuschers Zugang leitet über zu einigen methodischen Überlegungen und den der Untersuchung zugrunde liegenden Quellen.