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Davos, 30. Januar 2010

Sie kamen in der Nacht und metzelten jeden nieder, scheinbar wahllos.

Es war 03.07 Uhr morgens als Ben Leitner die Geräusche des ankommenden Mobs vernahm. Erst weit weg, dann immer näher. Ben richtete sich in seinem Bett auf, schaltete die Nachttischlampe ein und schaute auf seine Uhr. Er blickte, noch etwas benommen, nach links zu seiner Frau Veronica hinüber, die sich ebenfalls gerade die Augen rieb und noch verschlafen um sich schaute.

Wie schön sie doch immer noch war mit ihren dreiundvierzig Jahren. Ihr naturdunkles Haar war längst nicht mehr so lang wie früher, als sie, der Hollywoodstar noch überall im Rampenlicht gestanden war. Damals hatten sie sich bei ihrer Oscarverleihung kennen gelernt.

Er, Benjamin Simon Leitner, der etwas holzig und schüchtern wirkende Investmentbanker deutsch-jüdischer Herkunft mit Jura-Abschluss in Harvard, und sie, Veronica Irene Collins, die junge, strahlende amerikanische Schauspielerin, groß und schlank gewachsen mit wunderschönen, großen, grünen Augen, die mal tief und forschend in ihn eindrangen, mal verträumt durch ihn hindurchschauten. Mit ihrer Ausstrahlung, ihrer natürlichen Freundlichkeit und ihrem Duft nach Jasminblüten hatte sie sämtliche Herzen im Handumdrehen erobert, auch das seine. Für immer.

Sie war heute noch fit und schlank, ganz im Gegensatz zu ihm, der es einfach nicht mehr schaffte, sein Idealgewicht zu halten, mit seinen siebenundvierzig Jahren. Seit er vor fünf Jahren Vorstandsvorsitzender seines Bankinstituts geworden war, hatte er täglich höchstens noch fünfzehn Minuten Zeit für seinen Morgensport. Den gönnte er sich zwar, aber verglichen mit seiner aktiven Zeit als Tennis- und Polospieler, war die Viertelstunde Gymnastik am Tag doch eher unbedeutend.

Ben und Veronica waren zusammen durchs Leben gegangen, fast zwei Jahrzehnte lang. Er war die Karriereleiter empor bis zur Spitze einer der größten Banken der Welt geklettert. Veronica war der Schauspielerei bis zuletzt treu geblieben, obwohl sie in den letzten Jahren eher die Bühne bevorzugte. Sie sagte stets, das Theater sei echter, lebendiger und daher für eine Schauspielerin interessanter und herausfordernder, wenn auch um einiges weniger lukrativ als Hollywood. Geld spielte in der Familie Leitner ohnehin keine Rolle. Es war immer schon vorhanden gewesen und daher eine Selbstverständlichkeit. Es war niemals Gegenstand von Gesprächen zu Tisch oder gar Entscheidungsgrundlage in wichtigen Fragen gewesen. Die Leitners waren eine typische, erfolgreiche Familie im Amerika der freien Wirtschaft, wo Fleiß, harte Arbeit, Tugendhaftigkeit, Disziplin und hier und da etwas Glück zu Wohlstand, Anerkennung und einem erfüllten Leben führten.

Ein anderes Dasein hatten beide, im Gegensatz zu ihren Eltern früher, nie kennen gelernt, genauso wenig wie ihre einzige Tochter Kimberly. Sie hatte an einem sonnigen Samstagmittag, am 12. Februar 1994 das Licht der Welt erblickt und war ihr Ein und Alles.

„Was ist da los?“ fragte Veronica, immer noch verschlafen.

„Keine Ahnung!“ sagte Ben. Jedenfalls klang das nicht nach einem Haufen Politikern, Bankern und anderen Wirtschaftskapitänen, die nach einem deftigen, nächtlichen Umtrunk so langsam das Bett in ihrer Luxussuite im Schweizer Fünf-Sterne-Kongresshotel fanden. Aber das sagte Ben Veronica nicht, denn, was er da zu hören glaubte, machte ihm große Angst.

Plötzlich vernahm er schrille Schreie von Frauen, die wie zu Tode erschreckt klangen. Diese Schreie vermischten sich mit anderen furchterregenden Geräuschen, die so klangen, als kämen sie bereits vom Zimmer nebenan.

Ben wollte gerade die Rezeption unten anrufen, als die Tür zu ihrer Suite mit einem ohrenbetäubenden Schlag aufsprang. Herein stürmten mehrere Gestalten, fast alle bewaffnet, entweder mit Pistolen, Gewehren oder scharfen, axtähnlichen Gegenständen. Alle schrieen, manche waren schmutzig, drei von Ihnen sogar in Uniformen. Als letztes folgten noch zwei rabenschwarze, lauthals bellende Dobermänner ins teure Hotelzimmer und blieben auf drei Meter Abstand vom Bett stehen.

Veronica wurde als Erste von zwei Männern mittleren Alters aus dem Bett gezerrt. Der eine sah aus wie ein Fabrikarbeiter in einem Blaumann. Er war ungefähr 1,75 Meter groß, hatte ein Gewehr umgeschnallt und ergriff sofort mit beiden Armen Veronica, die vehement versuchte, sich zu wehren, resolut, aber ohne zu schreien. Der andere war etwa gleich groß, trug eine Uniform der Schweizer Kantonalpolizei und hielt seine Dienstwaffe in der linken Hand, während er mit der rechten versuchte, Veronica zu bändigen.

Ben wollte gerade aufspringen, um seiner Frau zu helfen, als er von zwei weiteren Männern, wesentlich größer, jünger und stärker als die anderen beiden, und einer äußerst kräftigen Frau gepackt, aufs Bett zurückgeworfen und dort schmerzhaft festgehalten wurde. Einer der jungen Männer gehörte der hoteleigenen Wachfirma an, war durchtrainiert, wog um die fünfundneunzig Kilogramm und führte ebenfalls seine Dienstwaffe mit sich, eine Heckler & Koch, wie Ben jetzt erkannte. Der andere war auch sehr groß, allerdings unbewaffnet, sehr gepflegt und steckte in einem Anzug und Hemd von Brioni mit einer typischen orangefarbenen Krawatte von Hermes. Irgendwo hatte Ben ihn schon gesehen. Ja richtig, war er nicht die rechte Hand des Vorstandvorsitzenden einer der größten Banken Frankreichs? Die Frau war im Gesicht entsetzlich entstellt, Mitte Dreißig, ungewöhnlich fit und steckte in einem Kampfanzug irgendeiner regulären Armee. Sie war bis an die Zähne bewaffnet, unter anderem mit einer Axt, hatte die Abzeichen eines Oberst auf ihren Schultern und schien die Anführerin dieser brutalen Meute zu sein.

„Wer sind Sie und was wollen Sie?“ rief Ben gereizt.

„Weißt du das nicht?“ antwortete die Frau. „Ich bin Zafira, die Rächerin. Wir sind hier um ein für alle Male all diejenigen zu bestrafen, die seit Jahrzehnten ihr Volk ausnutzen und die Welt an den Rand des Abgrundes gebracht haben. Wir werden nicht länger warten, bis ihr alles vollends zerstört und es kein ‚Zurück’ mehr gibt. Wir werden ab jetzt sagen, wo es lang geht!“

Ben konnte nicht glauben, was er da sah und hörte. Was hatte das alles zu bedeuten? Schlief er noch und hatte einen bösen Traum? Oder war es den immer zahlreicheren Demonstranten überall tatsächlich in den letzten Wochen gelungen, sich zu organisieren und die Sicherheitstruppen in Davos zu infiltrieren? Und was würde jetzt aus der Konferenz werden? Sie sollte doch die große Trendwende sein, nach der sich weltweit endlich alles zum Besseren wenden würde. Verzweiflung packte ihn. Ben konnte nicht zulassen, dass diese Wilden den Wirtschaftgipfel sabotierten. Er war viel zu wichtig für die Geschicke des gesamten Planeten. Aber, was sollte er tun? Was taten alle anderen Kongressteilnehmer gerade?

Er sinnierte noch über das Schicksal des Gipfels, als er fassungslos hörte, wie die hässliche Frau den beiden älteren Männern zurief, sie sollten mit Veronica machen, was sie wollten, bevor sie sie töteten. Dann schwang sie ihre Axt brutal auf Ben herunter. Es wurde um ihn für immer dunkel.

29. Januar 2010

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