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Moskau, 15. Januar 1945

Josef Wissarionowitsch Stalin sah in Natura wesentlich kleiner aus, als Igor erwartet hatte. Er thronte an einem riesigen antiken Schreibtisch in einem bequemen englischen Stuhl mit Armlehnen, der mit dunkelgrünem Leder bezogen war, und hatte sich in die Lektüre einer Akte vertieft, von der Igor wusste, dass es seine war.

Er selbst saß auf der anderen Seite des Schreibtischmonstrums auf einem eher unbequemen Stuhl ohne Armlehnen und wunderte sich über seine eigene innere Ruhe im Angesicht des großen Diktators persönlich, der Russland und der Welt das Fürchten gelehrt hatte, seit er 1922 in der Sowjetunion ans Ruder gekommen war.

Stalin strahlte eine unglaublich disziplinierte, absolute Ruhe aus. Trotzdem sah Igor, dass es in diesem Mann brodelte, nicht wie bei seinem extrovertierten, überschäumenden Gegenspieler Adolf Hitler, sondern eher schlummernd, wie eine Glut nach oder vielleicht auch erst vor einem Feuer. So genau konnte man das nie wissen, weder bei der Glut, noch bei diesem Mann.

Langsam sah der Machthaber zu seinem Gegenüber auf. Igor sah auf seinem Stuhl wie ein Schüler der dritten Klasse vor dem Grundschulrektor aus.

„Sie waren die ganze Zeit in Stalingrad mit dabei, Genosse Igor Wladimirowitsch. Was haben Sie dort gelernt?“ Seine Stimme war eher leise, aber befehlsgewohnt.

„Die russische Seele ist unbesiegbar, Genosse Vorsitzender“, log Igor.

Stalin verzog keine Miene, lediglich seine Augen bohrten sich sekundenlang in die seinen.

„Sie haben vor dem Krieg Medizin an der Lomonossow-Universität studiert und haben 1937 als Jahrgangsbester promoviert.“

Igor nickte kurz.

„Anschließend haben Sie sich als einziger Mediziner in unserem Land anschließend vor allem der Genforschung gewidmet.“

Igor überraschte es nicht, dass Stalin jedes Detail seines Lebens und seiner Arbeit kannte. Er fragte sich, ob er schon während seines Studiums regelmäßig beobachtet worden war oder ob das Dossier über ihn, das der Diktator vor sich hatte, erst kürzlich angefertigt worden war.

„Sie fragen sich, wie lange ich Sie schon beobachten lasse, Genosse“, erriet Stalin.

„Ich bin vielmehr erfreut, dass meine Arbeit nicht unbeachtet geblieben ist. Leider konnte ich sie seit 1941 nicht mehr fortsetzen.“ Das war wahrscheinlich das Mutigste, was jemals irgendwer Stalin gegenüber gesagt hatte, ohne umgehend auf Nimmerwiedersehen nach Sibirien verfrachtet zu werden.

„Ich fand, dass Sie unserer Sache an der Front besser dienen würden, als in Ihrem Labor, in dem Sie in den letzten sechs Monaten vor Kriegsanfang, genauer gesagt seit dem Tod Ihrer Verlobten, keine nennenswerte Erfolge mehr erbracht hatten.“

Das überraschte Igor. Nicht die Tatsache, dass man ihn wohl schon in den Dreißiger Jahren beobachten hatte lassen, sondern, dass der Diktator sich ihm gegenüber rechtfertigte und das mit einem Satz, der länger war, als alles, was man je von Stalin an einem Stück gehört hatte. Der Mann mochte Igor.

Beide schwiegen eine Weile.

„Ich werde ein Genforschungsprogramm ins Leben rufen, das seinesgleichen sucht. Unbegrenzte Ressourcen aller Art. Sie werden es alleinverantwortlich leiten und mir direkt berichten, nur mir! Alle sechs Monate wird das Personal komplett ausgetauscht und, nun ja, versetzt. Außer mir und Ihnen wird niemand das Projekt in seiner Gesamtheit und dessen Resultate kennen. „

„Jawohl, Genosse Vorsitzender!“

„Wegtreten!“ flüsterte Stalin.

Als Igor sich umdrehen wollte, um den Raum zu verlassen, bemühte er sich, seine große Erregung zu verstecken.

In diesem Moment sagte Josef Stalin: „Noch etwas. Wir stehen kurz vor der Eroberung des Konzlagers in Auschwitz. Sie werden dort dabei sein und sämtliches medizinische Material sichten und sichern. Niemand sonst wird Einsicht darin erhalten. Deckname der gesamten Operation ist ‚Arche Noah’. Ich bin überzeugt, der Feind ist beim Thema Genforschung wesentlich weiter als Sie.“

Innerhalb weniger Minuten war Igor seinem Lebenstraum um Lichtjahre näher gekommen.

29. Januar 2010

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