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Moskau, 21. Juni 2029

Kim wachte mitten in der Nacht schweißgebadet auf und brauchte erst einmal ein paar Sekunden, um sich zu orientieren.

Sie hatte wieder diesen schrecklichen Albtraum gehabt, wie so oft in den letzten beinahe zwei Jahrzehnten, seit ihre Eltern damals so grausam umgekommen waren. Obwohl sie seitdem immer wieder von den Vorfällen in jener Nacht mit allen Details träumte, war Kim selbst nicht dabei gewesen, was sie sich immer und immer wieder vorwarf. Aber sie hätte sowieso nicht viel ausrichten können, damals, als die Welt sich praktisch über Nacht für immer verändert hatte. Alles, was Kimberly Veronica Leitner, einzige Tochter des erfolgreichen Bankiers Benjamin Leitner und seiner Frau Veronica, der großartigen Schauspielerin, jemals gekannt hatte, hatte es nicht mehr gegeben, einfach so, über Nacht.

Kim erinnerte sich jetzt noch mit Tränen in den Augen:

Sie hatte damals wenig Lust auf den jährlichen Weltwirtschaftsgipfel in Davos. Sie war schon fast sechzehn und hatte das ganze Spektakel bereits ein paar Mal erlebt. Sie verabscheute die zahllosen abendlichen Galaveranstaltungen genauso wie ihre Teilnehmer, die stets so freundlich und zuvorkommend taten, um einem bei der erstbesten Gelegenheit gleich ein paar Messer in den Rücken zu rammen.

Seit Kindesbeinen musste Kim als brave Bankertochter an solchen Veranstaltungen teilnehmen. Noch schlimmer als deren Eltern waren die Nachkömmlinge der Teilnehmer dieser Konferenzen, egal in welchem Alter sie auch waren. Die meisten waren sehr verwöhnt oder völlig verblödet, oft auch beides zusammen. Nur wenige konnten sich in Kims Augen dieser Einschätzung mit Recht entziehen. Nicht auszuhalten waren die endlosen Stunden, in denen alle Kinder und Jugendliche in mehreren Gruppen ungefähr Gleichaltriger unterhalten wurden, während ihre Eltern die Geschicke der Weltwirtschaft lenkten.

Fast noch unerträglicher waren die vielen Events, die in Hollywood oder auch anderen Großstädten weltweit zu Ehren von berühmten Schauspielern, wie ihre Mom, gehalten wurden. Die zahllosen Preisverleihungen, PR-Termine und Autogrammstunden hätten eigentlich für ihre Mutter irgendwann sehr ermüdend sein müssen. Die wenigen Male, an denen Kim mit dabei gewesen war, hatten sich für sie dermaßen in die Länge gezogen, dass sie sich oft einfach zwischendurch abgeseilt hatte, was niemandem außer ihrer Mom wirklich aufgefallen war. Veronica hingegen liebte diese Aufmerksamkeit und wurde derer niemals müde. Wie unterschiedlich Mutter und Tochter in diesem Punkt doch waren.

Überhaupt hatte Kim Schwierigkeiten mit ihrem elitären Umfeld. Seit der fünften Klasse besuchte sie eines der besten Internate in der deutschsprachigen Schweiz, das sich in einem riesigen, völlig renovierten Schloss an einem wunderschönen See befand. Sie war eine sehr gute Schülerin und fiel sehr selten unangenehm auf. Sie beherrschte mit vierzehn außer Amerikanisch noch drei Fremdsprachen und es sollten später noch ein oder zwei weitere dazukommen. Kim war genauso schön und einnehmend wie ihre Mutter und hatte die Scharfsinnigkeit und Intelligenz ihres Vaters geerbt. Sie hatte die gleichen grünen Augen und das lange, glatte dunkelbraune Haar ihrer Mutter und war mit ihren 1,78 Meter bereits mit sechzehn schon ein wenig größer als Veronica.

Allerdings war sie innerlich und insgeheim wesentlich rebellischer als es ihre Eltern jemals gewesen waren. Einiges davon konnte man sicher ihrer Jugend zuschreiben, aber vieles davon sollte auch später noch eine große Rolle in ihrem Leben spielen. Trotz allem hatte sie genug Disziplin und das Ziel, in zwei Jahren ihr Abitur in der Schweiz mit Bestnote zu bestehen.

Anders als ihr Vater Ben, der Tennis und Polo liebte und stets ein Gentlemen war, bevorzugte Kim fernöstliche Kampfsportarten, vor allem Jujitsu, in ihren Augen die Königin der Disziplinen, vereinte sie doch gleich mehrere der diversen japanischen Verteidigungskünste. Und sie kletterte gern am nackten, steilen Hang, allerdings mit voller Montur. Ihr Vater hatte sie einst dafür begeistert und begleitete sie manchmal immer noch bei diesen luftigen Abenteuern.

Insgesamt konnte man Kim als echte Einzelgängerin betrachten, der es immer nur dann, wenn es notwendig war, für eine Zeit gelang, mit ihrem privilegierten sozialen Umfeld zu verschmelzen, ohne den anderen großartig durch ihre Andersartigkeit aufzufallen. Besonders verabscheute sie Kontrolle jeglicher Art, was sie in den Augen ihrer Mutter gleich zu einer Liberalen allerhöchster Prägung machte.

Wahrscheinlich war es sowieso nur Veronica wirklich aufgefallen, wie es in ihr manchmal rumorte, aber sie hatten niemals darüber gesprochen. Jujitsu und ihre Bücher wurden als Jugendmarotte abgestempelt und geduldet. Kim spielte ja auch das obligatorische Tennis und das nicht einmal schlecht. Sie hatte sogar ein paar Jugendturniere gewonnen und hätte ohne weiteres mehr aus ihrem Talent mit dem Schläger und dem gelben Ball machen können.

Aber die fernöstlichen Philosophien und die dazugehörige Lebensart waren ihr wichtiger, denn sie identifizierte sich vollends damit, wenngleich sie bei ihrer Ernährung eher amerikanisch, bestenfalls westeuropäisch zu Werke ging.

Schon mit elf hatte Kim mit Begeisterung und großem Interesse Konfuzius gelesen, eher ungewöhnlich für eine amerikanische Teenagerin deutsch-jüdischer Abstammung aus erlesenem Elternhaus. Ungefähr im gleichen Alter hatte sie auch mit Jujitsu angefangen, und mit sechzehn dabei bereits den braunen Gurt erlangt. Trotzdem verzehrte sie jede Woche zwei oder drei Hamburger und manchmal auch Schlimmeres mühelos, ohne ihrem durchtrainierten neunundfünfzig Kilogramm jemals auch nur ein weiteres Gramm hinzuzufügen.

„Mom, darf ich das Wochenende Ende Januar in unserer Berghütte verbringen?“ hatte Kim ein paar Wochen vor dem Weltwirtschaftsgipfel, während der Weihnachtsferien 2009/2010 in ihrer Stadtvilla in New York, gefragt. „Ich war schon so oft in Davos dabei und möchte diesmal nach den Januarklausuren einfach nur ein wenig entspannen, schlafen, lesen und die frische Luft auf dreitausenddreihundert Meter Höhe genießen. Das wird mir sicherlich mehr gut tun, als der ganze Rauch, das viele späte und ungesunde Essen und vor allem die vielen ungesunden alten Männer in Davos“, hatte sie hinzugefügt, aber so leise, dass es ihr Vater nicht mitbekommen hatte.

Und so war es gekommen, dass die fast sechzehnjährige Kimberly Veronica Leitner endlich ihr erstes langes Wochenende ganz alleine in ihrer geliebten Berghütte namens ‚Almost Heaven’ oberhalb von St. Moritz, im wunderschönen Engadin, verbringen dufte. Dort gab es einen Internetanschluss, tonnenweise Bücher aller Couleur und noch mehr köstliche Verpflegung und Getränke direkt aus Dosen und verschiedenen Verpackungen, die in Notfällen drei Erwachsene ein bis zwei Jahre lang ernähren konnten.

Aber noch besser war die absolute Abgeschiedenheit der Hütte. Ein Hubschrauber brachte die Hüttengäste hinauf und, war man nicht Reinhold Messner persönlich, so benötigte man im Sommer mehrere Stunden für einen Abstieg mit voller Bergausrüstung, bevor auch nur die erste Menschenseele weiter unten in Sicht kommen würde.

Kim hatte ihr Einsiedlergen wahrscheinlich von ihrem Vater geerbt. Mit Sicherheit konnte sie das aber nicht sagen, denn er sprach niemals über solche Dinge. Jedenfalls hatte Ben das Land und die Hütte darauf noch vor ihrer Geburt erworben und im Laufe der Jahre nach und nach sündhaft teuer, ausschließlich mit den edelsten Hölzern renovieren und ausbauen lassen. Außen war der Bau der Umwelt farblich angepasst, aber innen herrschte die helle Farbe von Naturholz vor. In der Hütte gab es vier Schlafzimmer, drei Vollbäder, eine extragroße Küche in amerikanischem Stil, eine Bibliothek, eine große Vorratskammer, einen Sportsaal mit einem Dutzend Fitnessgeräten, eine große Sauna und einen kleinen Pool, sowie ein Wohnzimmer, das alleine schon größer war, als die meisten Hütten insgesamt weiter unten. Der Begriff ‚Hütte’ war bei sechshundert Quadratmetern Wohnfläche eigentlich längst nicht mehr angebracht.

Aber das Beste war, dass das Anwesen von unten nicht zu sehen war. Nur wenige Einheimische wussten überhaupt, dass es dort oben auf dreitausenddreihundert Meter Höhe kurz unter dem Gipfel des Piz Julier, perfekt und unauffällig zwischen die Felsen gebaut, diese Berghütte gab.

Kim erinnerte sich jetzt, knapp zwanzig Jahre später noch sehr gut daran, dass sie sich damals ohne weiteres hatte vorstellen können, ihr halbes Leben in ‚Almost Heaven’ zu verbringen und beinahe war es auch so gekommen.

29. Januar 2010

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