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Auschwitz, 27. Januar 1945

Es war furchterregend. So etwas Schauderhaftes hatte Igor selbst in seinen schlimmsten Albträumen noch nicht gesehen. Er wusste nicht, welcher Anblick schlimmer war. Die noch nicht oder nur teilweise zugeschütteten Massengräber oder die lebenden Gefangenen, von denen viele keine vierzig Kilogramm mehr wogen, Erwachsene wohlgemerkt!

Ein paar Stunden zuvor hatte die Rote Armee das berüchtigte Todeslager an einem kalten Samstag erreicht. Eine nennenswerte Gegenwehr der Deutschen hatte es nicht gegeben, trotzdem war in den ersten Minuten danach gefeiert worden, als läge gerade eine schwere Schlacht hinter den sowjetischen Soldaten. Kein Wunder, hatten sie doch ungemein schwere Wochen des Marsches und Kampfes in der eisigen Kälte Richtung Westen hinter sich. Anders als hier und heute wehrten sich die Nazis auf ihrem Rückzug seit Monaten vehement, daher starben täglich noch immer tausende Menschen um Igor herum, hüben wie drüben. Er sollte sich eigentlich inzwischen ans Sterben und Töten gewöhnt haben, aber dem war überhaupt nicht so. Jedes Mal, wenn jemand starb, oder noch schlimmer, wenn er selbst gezwungen war, jemandem brutal das Leben zu nehmen, musste sich Igor sehr zurückhalten, um sich nicht sofort zu übergeben. Manchmal konnte er sich aber nicht mehr zurückhalten und ließ sich gehen. Er würde sich nie an Mord und Totschlag gewöhnen können, egal unter welcher Fahne und Prämisse dies auch geschah.

Er erinnerte sich noch genau an das erste Mal, als er selbst abgedrückt hatte, damals in Stalingrad, an einem trüben Novembermorgen des Jahres 1942. Die Deutschen hatten einen russischen Schützengraben gestürmt, als Igor gerade dabei war, die Blutung eines Kameraden zu stoppen. Ein großer, dunkelhaariger Nazi hatte kaltblütig den Verletzten erschossen, der wehrlos und stark blutend am Boden gelegen hatte. Danach hatte er seine Waffe auf Igor gerichtet und abgedrückt, vergebens. Die Patronenkammer war leer gewesen, oder die Munition unbrauchbar, Igor wusste es bis heute nicht. Jedenfalls hatte er schnell die Waffe des verstorbenen Soldaten ergriffen, gezielt und geschossen. All das war in weniger als eine Sekunde geschehen. Der Kopf des Nazi war zerborsten und seine graue Gehirnmasse an die lehmige Wand des Grabens gespritzt, wo sie sich langsam mit nasser, brauner Erde vermischt hatte.

Igor hatte damals seinen starken Brechreiz zurückgehalten und sofort die Flucht ergriffen, immer den anderen wegrennenden Kameraden hinterher und die Pfeifgeräusche der tödlichen deutschen Kugeln hörend. Danach hatte er mehrere Nächte nicht schlafen können. Immerzu waren ihm der überraschte Blick des Deutschen und dann dessen explodierender Kopf gegenwärtig gewesen. Er sollte dieses schreckliche Bild sein Leben lang vor Augen haben.

Die Rotarmisten hörten noch schneller auf zu singen und grölen, als sie es wenige Minuten zuvor begonnen hatten, sobald sie die ersten Häftlinge im Lager erblickten. Diese hatten große Angst, da sie ja nicht wissen konnten, wer die Neuankömmlinge waren und welches zusätzliche Leid ihnen nun vielleicht widerfahren würde.

Sie sahen allesamt schrecklich aus, abgemagert und zum Teil splitternackt. Sie stanken so intensiv, dass einige Soldaten sich bereits ihre Gasmasken übergezogen hatten. Die Bilder, die sich ihnen boten, waren um ein Vielfaches unfassbarer, als es die Gerüchte um dieses Konzentrationslager hatten vermuten lassen. Mehrere Rotarmisten übergaben sich, andere weinten und wieder andere umarmten verzweifelt einen oder gleich mehrere Häftlinge. Es gab auch welche, die sofort kehrt machten, um sich nicht mit irgendwelchen Krankheiten anzustecken. Es herrschte das totale Chaos. Zu hören war aber vor allem lautes Weinen von Russen und Insassen gleichermaßen. Einige Frauen und Säuglinge schrieen.

Ringsherum waren dutzende dunkler Häftlingsbaracken, präzise in mehreren Reihen angesiedelt. Dort hatten diese armen Menschen wie Tiere zusammengepfercht für Monate oder sogar Jahre hausen müssen. Und überall dieser Gestank!

Igor konnte all das kaum fassen, er würde es nie fassen können, auch Jahrzehnte später nicht.

Wie brutal konnte ein Mensch nur sein? Wie weit konnten Ehrgeiz, Gier, Sextrieb, Liebe, Hass, Neid, Stolz, Sucht und alle die anderen gefährlichen Gefühle einen Menschen nur bringen? Was hatten die Evolution und die Zivilisation der letzten Jahrhunderte der Welt eigentlich beschert? Der Mensch war das einzige Wesen überhaupt, das aus Gründen tötete, die mit Verteidigung oder Nahrungsaufnahme und deren Beschaffung nichts zu tun hatten.

Der Mensch war zu einem Störfaktor im Gleichgewicht der Erde geworden, und je mehr er sich weiterentwickelte, desto schlimmer wurde es. Igor machte sich nichts vor. Er wusste dass es solche Lager nicht nur bei den Deutschen gab. Außerdem war er seit nunmehr einunddreißig Monaten wieder und wieder Zeuge hunderter unnötiger Gräueltaten geworden, die durch den Krieg als solches längst nicht mehr zu rechtfertigen waren, auch von Seiten der Russen. Es gab anscheinend keinen Ausweg aus dieser bereits seit Jahrtausenden andauernden Spirale des Todes und des Schreckens. Oder vielleicht doch?

Igor erinnerte sich wieder an seinen Auftrag. Er schritt entschlossen auf die Baracken zu, die mit einem roten Kreuz auf weißem Hintergrund gekennzeichnet waren. Praktischerweise standen diese alle beieinander. Dort angelangt, rief er einige Soldaten zu sich.

„Genossen, sie, sie, sie und sie! Schnappen sie sich jeweils zwei Kameraden und sichern Sie die Eingänge aller Lazarette!“ befahl er.

„Und Sie Sergeant, nehmen Sie Ihre Einheit und durchforsten Sie alle Baracken, alle, verstanden? Jede einzelne! Sollten Sie irgendeine finden, die innen nicht wie eine gewöhnliche Häftlingsbaracke aussieht, sagen Sie mir sofort Bescheid, sofort, verstanden? Vor allem, wenn es wie ein Labor oder so ähnlich aussehen sollte. Alles, was Ihnen suspekt vorkommt, sofort melden! Schnell, schnell! Niemand außer mir darf dann in diese Baracken, Befehl vom Generalleutnant persönlich!“

Igor setzte sich auf einen Baumstumpf vor eine der Lazarettbaracken und steckte sich eine Zigarette an. Er, der Gesundheitsfanatiker, Kontrollmensch und Perfektionist hatte vor einigen Wochen tatsächlich angefangen, zu rauchen. Was dieser Krieg doch alles mit einem anstellte.

Er sah sich um. Inzwischen gab es wieder vereinzelte Freudenszenen. Die Lagerinsassen hatten nun endlich begriffen, dass sie bald befreit würden, und glaubten es nun auch wirklich. Einige von ihnen verwendeten ihr letztes bisschen Kraft, das ihnen nach Wochen und Monaten körperlicher und seelischer Qualen geblieben war, um den erstbesten Rotarmisten zu umarmen, als sei er ihr Bruder, Vater oder Sohn, oder alles zusammen. Die Tränen flossen literweise auf beiden Seiten und der Wodka nunmehr auch. Einige Häftlinge brachen jetzt, im Augenblick ihrer lang ersehnten Befreiung, vor Aufregung einfach tot zusammen. Der Hunger und die vielen Qualen hatten sie so geschwächt, dass dieser starke Emotionsschub für sie einfach zu viel war.

„Genosse Major! Alle Lazarettbaracken sind gesichert. Wir haben nichts Ungewöhnliches in den anderen Baracken gefunden.“

Igor blickte auf. Hatte er es sich doch gedacht. Die Nazis waren kein Risiko eingegangen und hatten all ihre Labors mit roten Kreuzen auf dem Dach der vielen Lazarette vor gezielten Bombenangriffen geschützt. Eins musste man ihnen lassen, ihr Perfektionsstreben machte sie stets berechenbar, und das liebte Igor.

Jetzt blieb nur noch zu hoffen, dass die Deutschen vor ihrer Flucht letzte Nacht nicht genug Zeit hatten, ihr medizinisches Material mitzunehmen, oder schlimmer noch, es zu vernichten.

Sollten die Amerikaner und Engländer nur die fortschrittliche Raketentechnik der Deutschen und die modernen Industriemaschinen aus den zahllosen Fabriken im Ruhrgebiet bekommen. Er, Major Dr. Igor Wladimirowitsch Iwanow, Leiter Stalins streng geheimen Genforschungsprojekts, würde die hoffentlich bahnbrechenden Ergebnisse der zahllosen brutalen und menschenverachtenden medizinischen Tests bekommen, die die Nazis über Jahre an tausenden von Juden und anderen Häftlingen gemacht hatten.

29. Januar 2010

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