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Stalingrad, 3. Januar 1943

Es war ein eiskalter Sonntagmorgen, als Igor verzweifelt versuchte, das Leben des Soldaten Dmitrij Sergejewitsch Petrow zu retten. Diesen hatte es gerade einmal in die Brust und einmal seitlich am Kopf erwischt. Zwei deutsche Maschinengewehrkugeln hatten ihn vor nicht einmal einer Minute getroffen.

Igor, der zuständige Feldarzt, war sofort herbeigeeilt, doch er konnte nichts mehr für den Verwundeten tun. Während er ihn anlog, dass alles wieder in Ordnung kommen würde, und seine Hand fest hielt, war Dmitrij in seinen Armen gestorben. Er hatte dabei Igor ängstlich und traurig zugleich in die Augen geblickt , genauso, wie die vielen hundert anderen gefallenen Soldaten zuvor, seitdem Igor Ende Juni 1941 in Moskau direkt aus seinem Forschungslabor heraus von der Roten Armee eingezogen worden war.

Seit Herbst 1942, als die Deutschen unter Führung von Generaloberst Friedrich Paulus die alles entscheidende Schlacht um Stalingrad eingeläutet hatten, gehörte er als Major und Feldarzt der 63. Armee unter Generalleutnant Kuznezow an. So war Igor wieder in seine Heimatregion gelangt und hatte seitdem mehr Tod und Verderben gesehen, als es eine Menschenseele alleine eigentlich jemals vertragen konnte. Anders als die technisch hervorragend ausgerüsteten und bestens ausgebildeten Nazis war die rote Armee miserabel ausgestattet. Auf zwei zumeist nicht ausreichend ausgebildete Soldaten kam ein Gewehr. Nicht selten musste ein sowjetischer Soldat in der Schlacht unbewaffnet mit nur fünf Patronen in der Hand einem anderen hinterher laufen, bis dieser fiel, um dessen Gewehr aufzunehmen und weiterzukämpfen. Diese Sekunden erschienen einem Kämpfer wie Stunden. Die meisten schämten sich unendlich, wenn sie hofften, dass der Partner endlich getroffen wurde, um an die Waffe heranzukommen. Es war menschenunwürdig, wie jeder Krieg zuvor in der Geschichte der Menschheit, nur noch viel hoffnungsloser.

Von zehn Verwundeten, gelang es Igor im Schnitt höchstens zwei zu retten, sodass sie es auch überlebten. Einer davon starb dann garantiert beim nächsten Gefecht. Es war zum Verzweifeln.

Jetzt lag Igor im eiskalten Schützengraben auf dem Rücken, erschöpft, durchfroren und demoralisiert neben dem Leichnam Dmitrijs, der ihn immer noch mit seinen toten Augen anstarrte, als ob er sagen wollte: “Komm doch, geh auch drauf, Igor, dann geht’s dir auch besser, wie mir jetzt.“

Aber Igor würde nicht aufgeben. Er hatte es bis hierhin geschafft. Er hatte überlebt und er würde diesen Krieg unversehrt überstehen, das wusste er genau. Während die Maschinengewehre und Haubitzen beider Seiten ratterten und dröhnten und Soldaten hüben und drüben wie die Fliegen umfielen, beobachtete er, wie in Trance, das Geschehen um ihn herum, als ob er in einem Kino säße und dies alles nur ein Film sei.

Josef Stalin hatte es der Bevölkerung Stalingrads untersagt, die Stadt zu verlassen. Er war der Meinung, es würde die Moral der Truppen steigern, wenn es galt, ebenfalls Frauen, Kinder und Alte mitzuverteidigen und nicht nur eine bereits halb zerstörte Stadt. So verurteilte der Diktator weitere zehntausende Zivilisten zu einem grausamen Tod.

Manchmal fragte sich Igor, ob es denn überhaupt einen großen Unterschied zwischen Hitler und Stalin gab. Beide waren über alle Maße machtbesessen, beide hatten mehrere hunderttausende, wenn nicht gar viele Millionen Menschen direkt oder indirekt ermordet und beide verfolgten Ziele, die, das wusste Igor als gebildeter und intelligenter junger Mann, nicht in eintausend Jahren realisierbar waren. Igor bevorzugte den Sozialismus dem Faschismus um Längen, nicht nur, weil er durchaus ein patriotischer Russe war, sondern auch, weil er ebenfalls daran glaubte, dass alle Menschen gleiche Rechte auf Freiheit, Frieden, Gesundheit, Land, Besitz und alles andere hatten. Die Nazis hingegen wollten alle in ihren Augen Minderwertigen ausrotten und eine Gesellschaft von Privilegierten schaffen. Igor verabscheute den Tod und noch mehr jegliches Morden. Als Arzt war er dem Leben verpflichtet und dessen Erhaltung, Verlängerung und Optimierung.

Allerdings würde der Sozialismus auch scheitern, denn Menschen waren nun mal ehrgeizig und gierig, oft an der falschen Stelle, und dieser Ehrgeiz und diese Gier würden Marx’ und Engels Theorien früher oder später zum Scheitern verurteilen, das wusste der junge Igor damals schon genau. Das galt vor allem in Russland, da Russen in seinen Augen von Natur aus eher egoistisch, nur familienorientiert und weniger der breiten Gesellschaft verpflichtet waren.

Da hatte die deutsche Seele doch mehr Disziplin und soziales Engagement zu bieten, aber was half das schon, wenn man alles um einen herum niedermetzelte und vernichtete, nur weil es nicht ins eigene Konzept und Rassendenken passte.

Das Morden setzte negative Energien frei, davon war Igor überzeugt, nicht nur im spirituellen, sondern auch im sehr reellen Sinne. Tötete man jemanden, so löste man bei seinen Angehörigen, Freunden und Landsleuten Trauer, Wut, Verzweiflung und Rachegefühle aus. Diese Menschen wiederum würden töten, um diese Gefühle zu besänftigen und kanalisieren. Und schon hatte man diese schreckliche Spirale von Tod, Krieg, Hunger, Verzweiflung und Angst erzeugt, deren Zeuge die gesamte Menschheit leider schon seit Adam und Eva geworden war.

Wie also konnten die Nazis erwarten, dass ihre Angriffslust eben jene Spirale nicht auslösen würde? Oder nahmen sie es einfach so in Kauf? Seit Hitlers Machtergreifung im Januar 1933 hatten die Deutschen so dermaßen viel negative Energie freigesetzt, dass es wohl Jahrzehnte dauern musste, bis diese endlich abklingen würde. Vorausgesetzt, es gäbe in diesem Zeitraum keine weiteren negativen Impulse, was bei der egoistischen und gierigen charakterlichen Beschaffenheit der Menschheit wohl eher nicht ausbleiben würde.

Interessante Ansätze hatten die Nazis hingegen anscheinend auf dem Gebiet der Genforschung. Igor interessierte sich seit Jahren für die deutschen Tests, hatte aber selbst zu Friedenszeiten nichts wirklich Konkretes darüber in Erfahrung bringen können. Es hieß, dass die Deutschen nicht nur in technologischer und allgemein wissenschaftlicher Hinsicht den anderen Europäern um Längen voraus waren, was man seit Beginn des 2. Weltkrieges am 1. September 1939 leider Tag ein, Tag aus feststellen musste. In Europa mutmaßte man, dass sie auch bereits bahnbrechende Erfolge auf dem Gebiet der Genlehre erzielt hatten.

Man munkelte in Fachkreisen, die Naziärzte könnten schon mit Hilfe genmanipulierter Zellen erfolgreich sowohl bisher unheilbare Krankheiten heilen, als auch einen gewöhnlichen Menschen zu etwas Außerordentlichem machen, in intellektueller, körperlicher und charakterlicher Hinsicht.

Dieser Gedanke gab dem deutschen Streben nach Perfektion in Igors Augen eine etwas andere, viel annehmbarere Dimension. Wenn es wirklich möglich war, durch Eingriffe in das genetische Material eines Menschen, diesen ‚perfekter’ zu gestalten, ohne dabei andere töten zu müssen, so war das durchaus ein Ausweg für die gesamte Menschheit.

Die Russen jedenfalls, das wusste Igor als landesweit führender Spezialist auf diesem Gebiet, waren noch Lichtjahre davon entfernt.

Während Igor noch dachte, was er dafür geben würde, seine Forschungen irgendwann in Deutschland weiterführen zu können, rief jemand hysterisch nach ihm. Ein weiterer Soldat war mit einer deutschen Kugel in der Brust zusammengebrochen, und sein Kamerad schrie verzweifelt nach dem anwesenden Feldarzt.

Dr. Igor Wladimirowitsch Iwanow, keine zehn Kilometer entfernt von diesem gottverlassenen Ort hier geboren, an dem gerade jede Sekunde dutzende Menschen einfach so nutzlos starben, fasste einen Entschluss, der sein Leben und später das der gesamten Menschheit grundlegend bestimmen würde.

29. Januar 2010

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