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Moskau, 21. Juni 2029

Präsident Dr. Roman Bljukin beobachtete seine Frau beim Schlafen. Er genoss diesen Augenblick jeden Morgen ausgiebig. Sie war wesentlich jünger als er, mit ihren Mitte Dreißig, sehr groß, schlank und einfach wunderschön. Und heute war ihr Hochzeitstag.

Er selbst hielt sich für sein Alter sehr gut und sah aus wie Fünfzig. Er schaute in den Spiegel über der Schlafzimmerkommode. Sein kurzes helles Haar hatte keinerlei graue Strähnen und von Falten war in seinem straffen, kontrollierten und gut geschnittenen Gesicht weit und breit nichts zu sehen. Seine stahlblauen Augen wirkten hoch intelligent und verrieten keinerlei Gefühle. Mit seinen 1,85 Meter und seinen dreiundachtzig Kilogramm war er immer noch topfit, obwohl er so gut wie keinen Sport trieb. Dazu fehlte im die Zeit, denn, trotz seiner gerade mal sechs Stunden Schlaf pro Nacht, war sein Tagesablauf bis auf die Minute genau verplant und das sieben Tage die Woche, dreihundertfünfundsechzig Tage im Jahr seit mehreren Jahrzehnten. Es war jetzt genau 6.00 Uhr morgens. Zeit für die Arbeit.

Auf dem Weg dorthin dachte Bljukin an Igor Wladimirowitsch Iwanow:

Iwanow war vor scheinbar einer halben Ewigkeit in einem kleinen Ort nahe dem heutigen Wolgograd in Südrussland, knapp eintausend Kilometer entfernt von Moskau, in eher gewöhnlichen Verhältnissen geboren. Sein Vater war Arzt, seine Mutter Grundschullehrerin. Igors früheste Kindheit verlief ohne besondere Vorkommnisse, bis auf die üblichen und alltäglichen Probleme jener harten Zeit. Seine Eltern waren beide dreiundzwanzig als er geboren wurde, auch das war damals absolut die Norm.

Später allerdings, bereits als Teenager, hatte er zwei jüngere Geschwister, die Zwillinge Alexej und Irina, die beide noch vor Vollendung ihres ersten Lebensjahres an einer merkwürdigen Erbkrankheit, die angeblich zuletzt drei Generationen zuvor in der Familie das letzte Mal aufgetreten war, starben.

Igor war damals dreizehn und zutiefst erschüttert. Er empfand großen Schmerz über den Verlust seiner kleinen Geschwister, die er sich so lange schon gewünscht hatte. Vor allem die Art und Weise ihres Ablebens machte ihm schwer zu schaffen. Sie starben langsam und grausam. Dieses Leid war Generationen zuvor vorprogrammiert worden, einfach so.

Igor kanalisierte den Schmerz in eifriges Lernen in der örtlichen Oberstufe. Er wurde immer mehr zum Einzelgänger und stürzte sich zusehends in seine Bücher, vor allem im Fachbereich Medizin und ein bisschen auch in die Genlehre, letztere zu jener Zeit nur sehr wenig dokumentiert.

Freunde hatte er keine, und zu seinen Eltern unterhielt er eine eher distanzierte, kühle Beziehung. Er wusste, dass er ihnen oft unterbewusst die Schuld am frühen Tode seiner Geschwister gab, denn Menschen, die erblich so vorbelastet waren wie sie, durften keine Kinder bekommen. Niemals! Er selbst hatte einfach nur Glück gehabt, es hätte genauso gut auch ihn erwischen können. Und Glück war ein unberechenbarer Faktor, den Igor nicht so recht einordnen konnte. Er bevorzugte so viel Kontrolle wie möglich, schon in sehr jungen Jahren.

Schließlich, mit etwas über siebzehn, folgte er seines Vaters Fußstapfen und ging nach Moskau an die Lomonossow-Universität, das beste und renommierteste Institut im Lande bis heute, um dort Medizin zu studieren.

Das Studium selbst fiel Igor leicht, hatte er doch in den vier Jahren zuvor bereits sämtliche Bücher und sonstige Schriftstücke zum Thema Medizin verschlungen, die er in die Hände bekommen konnte.

Seine Vereinsamung nahm allerdings in der Metropole Moskau eher zu. Niemand wollte mit einem Kerl verkehren, der die Lektüre eines abstrusen Aufsatzes über Gentechnologie einer ordentlichen Runde Wodka mit ein paar aufreizenden Mädchen vorzog, erst recht nicht die jungen und hübschen Frauen in der Hauptstadt.

Demzufolge entwickelte sich Igor in den nächsten zehn Jahren, erst während des gesamten siebenjährigen Medizinstudiums bis zu seiner Promovierung und auch danach, zu einem rätselhaften Einzelgänger ohne irgendwelche nennenswerten sozialen Bindungen. Er wurde allerdings auch zum wichtigsten Experten der Gentechnologie landesweit, vielleicht sogar zum einzigen Mediziner, der von jener Materie in Russland überhaupt wirklich etwas verstand.

Zu jenem Zeitpunkt, Igor war nun siebenundzwanzig, lernte er Maria kennen, eine zwanzigjährige Medizinstudentin im dritten Jahr an der Universität, die sich sehr für ihn und seine Genlehre interessierte. Sie war groß und schlank, brünett, hatte lange Haare und wunderschöne helle, blaue Augen, deren Glanz und Ausstrahlung er nie wieder vergessen sollte. Igor verliebte sich zum ersten Male in seinem Leben. Sie verbrachten einen ganzen Sommer und den darauf folgenden Herbst mit langen Spaziergängen am Fluss Moskwa, bei denen sie fast ausschließlich über sein Fachgebiet sprachen. Maria blockte stets jeden Versuch ab, in irgendeiner Weise über eine gemeinsame Zukunft zu sprechen, was Igor recht seltsam fand, angesichts der Tatsache, dass sie sich so perfekt verstanden, ungemein liebten und ihr gemeinsamer Sex sehr intensiv und gefühlsbetont war.

Es sollte nicht lange dauern, bis er erfuhr, was der Grund dafür war. Maria starb an einem kalten Dezembermorgen an einer ähnlichen Erbkrankheit wie einst seine Geschwister. Einige ihrer Vorfahren waren vor Generationen ebenfalls daran gestorben. Sie hatte immer davon gewusst, dass sie eine tickende Zeitbombe in sich trug und sich deshalb, wie er, schon sehr früh für Medizin und Genlehre interessiert. Ihre Liebe für Igor war eine logische Konsequenz daraus. Trotzdem waren ihre Gefühle füreinander immer sehr echt gewesen.

An ihrem Sterbebett schwor er ihr ewige Treue und, dass er sein Leben der Bekämpfung aller Arten von Krankheiten widmen würde. Er würde wohl nie aufhören, Maria zu lieben.

Etwa ein halbes Jahr später überfiel Adolf Hitlers Wehrmacht mit der Operation Barbarossa Josef Stalins Sowjetunion. Es war der 22. Juni 1941. Igor Wladimirowitsch Iwanow, geboren an einem Freitag, den 18. April 1913 in einem kleinen Dorf nahe Zarizyn, später Stalingrad und Wolgograd, war achtundzwanzig Jahre alt.

29. Januar 2010

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