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Piz Julier, 30. Januar 2010

Kim wachte um kurz nach elf Uhr auf. Sie hatte nicht gut geschlafen und einen nimmer endenden Albtraum gehabt, in dem überall Menschen auf brutalste Weise von wilden Menschenmassen ermordet wurden. Natürlich, das Letzte, was sie gehört hatte, waren die schrecklichen Worte ihrer Mutter über die Geschehnisse des gestrigen Tages gewesen.

Eigenartig! Ihre Mom hätte eigentlich schon längst anrufen sollen. Sie liebte es, ihre Tochter an Wochenenden um neun Uhr morgens aus dem Bett zu holen.

Kim fing an, sich Sorgen zu machen und kramte ihr iPhone heraus. Sie hatte kein Netz, was so hoch in den Bergen durchaus mal vorkommen konnte.

Also, beschloss sie, nunmehr ihr Vorhaben vom Abend davor nachzuholen und ausnahmsweise die Nachrichten im Internet eingehend zu studieren. Ihr Sony Vaio war nicht mehr angeschaltet. Die Batterie musste über Nacht ihren Geist aufgegeben haben. Kim holte sich ihre Ersatzbatterie, da es zudem an diesem Morgen keinen Strom und Gas in der Hütte gab, und sie hatte keine rechte Lust, zum Schuppen hinüberzugehen, um den Notstromgenerator anzuschalten.

Als sie den Vaio anschaltete, bemerkte sie sofort, dass auch das Internet gerade nicht funktionierte. Merkwürdig!

Allerdings hatte sie am Vorabend bereits cnn.com aufgerufen, und die zu jenem Zeitpunkt aktuellen Schlagzeilen flimmerten immer noch über den Bildschirm.

Das erste Bild, das Kim erblickte, ließ sie erschaudern. Es zeigte, wie drei ausgewachsene Männer, einer davon in Militäruniform, zwei Jugendliche in einer College-Uniform mit Äxten regelrecht in Stücke rissen. Die Gesichter der Mörder waren zu wütenden und entschlossenen Fratzen verzerrt. Sie waren unterschiedlichen Alters, Hautfarbe und sozialer Herkunft. Diese Szene spielte sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, sondern, wie die dazugehörige Schlagzeile betonte, in Boston, Massachusetts, Vereinigte Staaten von Amerika. Solche brutalen Bilder wurden für gewöhnlich nicht auf CNN gezeigt. Kim wurde übel. Die Angst in den Augen der Opfer, während sie starben, war ihnen genau anzusehen.

Ein anderes Bild zeigte tausende von wütenden und bewaffneten Japanern, die auf ein Gebäude vorrückten, das wie ein Regierungsbau aussah.

Darunter stand in dicken Buchstaben: „Putschversuch in Tokio“. Auch hier waren die vielen Beteiligten Menschen verschiedenen Alters und Herkunft, und auch hier gab es wieder Uniformen unter den Putschisten.

Eine andere Schlagzeile besagte, dass in Melbourne am selben Morgen der Notstand ausgerufen worden war und die Regierung geschlossen geflohen war, um dem sicheren Tod zu entgehen.

In Afrika schien das totale Chaos zu herrschen, aber es gab keine Bilder oder nähere Informationen darüber.

Im mittleren Osten brannten mehrere Ölfelder, davon gab es auch ein Bild. Kim konnte in den Feuern mehrere Menschen erkennen, die am lebendigen Leib verbrannten. Die Schlagzeile darüber verkündete, dass es diesmal in der bekannten Krisenregion dermaßen ‚brannte’, dass ein Löschen dieses ‚Feuers’ auf Jahrzehnte unmöglich erschien.

Kim war entsetzt. Wie konnte all dies an nur einem einzigen Tag geschehen sein? War das alles vielleicht ein schlechter Witz von irgendeinem Hacker, der sich einen kranken Spaß daraus machte, andere im Internet zu erschrecken?

Nein, der Bericht ihrer Mutter, die im Übrigen noch nicht angerufen hatte, sowie der Strom-, Handynetz- und Internetausfall sprachen leider sehr für die Authentizität dieser Berichte, die Kim nun so gnadenlos vor Augen hatte.

Sie scrollte weiter auf der Webseite hinunter und sah noch mehr markerschütternde Schlagzeilen und Bilder von Aufständen, Massenmorden, Bränden, umgestürzten und zerstörten Gebäuden und Bauten, die Kim fast alle kannte. Betroffen waren unter anderem der Berliner Reichstag, der Eiffelturm, die Freiheitsstatue, die brennenden Petronas-Türme in Kuala Lumpur und viele mehr. Kim erschauderte erneut.

Weiter unten entdeckte sie einen Bericht von einem CNN-Reporter, der, wie auch immer, errechnet hatte, dass bereits fünfhundert bis achthundert Millionen Menschen alleine am 29. Januar bis 17.00 Uhr Greenwichzeit weltweit ums Leben gekommen waren.

Kim war kurz davor, in Ohnmacht zu fallen. Das Zimmer um sie herum drehte sich, als sie die nächste Überschrift las: „ Mob rückt auf Davos in der Schweiz vor, um die Schuldigen der größten Krise aller Zeiten alle zusammen auf einen Schlag zur Verantwortung zu ziehen – die Anführerin berichtet!“ Kim lief der Schweiß kalt den Rücken herunter.

Darunter war ein kleines Bild zu sehen, das eine überaus stolz und entschlossen wirkende Frau zeigte, deren Gesicht furchterregend entstellt war. Sie war so um die fünfunddreißig Jahre alt, gut durchtrainiert und hatte einen nagelneuen Kampfanzug. Kim schaute, inzwischen fassungslos und unter Schock, genauer hin und sah irgendwelche fremdartigen Abzeichen auf ihrer Uniform, die sie vorher nie gesehen hatte. Die Soldatin wirkte überhaupt nicht verrückt oder kriminell, sondern strahlte eine Befehlsgewalt und eine Entschlossenheit aus, die Kim in ihrem Leben bei einer Frau noch nie gesehen hatte.

Als sie genauer hinsah, entdeckte sie oberhalb der Brusttasche der Frau Buchstaben, die sie ebenfalls nicht erkannte. Da waren allerdings auch zwei ‚A’ und ein umgedrehtes ‚N’. Kim vermutete, dass es sich um kyrillische Buchstaben handelte.

Jetzt hielt sie nichts mehr auf ihrem Stuhl vor dem Computer. Kim sprang auf, zog sich in Windeseile an und schnappte sich noch schnell das Hightech Zeiss-Fernglas ihres Vaters, das dieser immer in der Kommode in der Ecke aufbewahrte.

Draußen angekommen, spähte sie durchs Glas in die Schluchten. Die Welt unter ihr schien völlig in Ordnung. Keine wütenden und mordenden Meuten, keine Brände, keine Zerstörung. Sie konnte St. Moritz von ihrer Position aus nicht direkt einsehen, aber weiter oberhalb des weltberühmten Skisportortes gab es einige Ansammlungen von Häusern etwa achthundert Meter unterhalb von ‚Almost Heaven’. Dort schien alles ruhig zu sein.

Kim blickte auf ihre Breitling und sah, dass es bereits 13.38 Uhr war. Dann sah sie nochmals durchs Fernglas, und es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Es stimmte doch etwas nicht. Es war viel zu ruhig für einen Samstag, früh am Nachmittag. Es war keine einzige Menschenseele zu sehen, keine Hunde, keine Kinder, nicht mal Rauch aus irgendeinem Schornstein, und das im Januar!

Kim wusste nicht, wie lange sie schon so durchs Fernglas starrte, ohne irgendetwas Neues zu entdecken, außer ein paar Rehen weiter unten. Plötzlich merkte sie, dass sie fror und am ganzen Leib zitterte. War sie alleine auf der Welt? Hatte sonst keiner überlebt? Und...waren Ihre Eltern noch am Leben?

Sie überprüfte nochmals ihr Handy, aber es hatte immer noch kein Netz. Die Batterie war fast leer. Sie ging hinüber zum Schuppen und schmiss den Notstromgenerator an. Sie glaubte sich zu erinnern, dass ihr Vater mal behauptet hatte, er hätte Heizöl und Diesel für den Generator für circa ein Jahr vorrätig, und Kim wusste, wie man mit den Geräten umging. Aber das interessierte sie jetzt nicht.

Sie ging hastig zurück zu ihrem Vaio, steckte den Stecker in die Steckdose, denn das Gerät hatte bereits auch die zweite Batterie fast komplett verbraucht, und starrte fassungslos auf den Bildschirm.

Es war 16.12 Uhr Ortszeit, die CNN-Seite war vom Internet-Browser verschwunden und stattdessen war dort ein seltsames Kommunique erschienen.

Darüber thronte das Foto vom Präsidenten der russischen Föderation, Dr. Bljukin.

29. Januar 2010

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