Читать книгу Sara Z., verschwunden - Pirmin Müller - Страница 11
5. Sara
ОглавлениеSara war stets fröhlicher gewesen als ihre Schwester. Sie hatte die Art der Grossmutter väterlicherseits, sportliche Figur, gewinnendes Wesen. Der Umgang mit Menschen fiel ihr leichter als Rahel, die brüsk und verschlossen sein konnte. Nach Abschluss des Gymnasiums plante sie ein Auslandjahr in Amerika, jedenfalls englischsprachig und keinesfalls Australien (da wollten alle hin, weshalb es für sie keine Option mehr war. Ausserdem schien ihr die Lebensweise zu lethargisch). Sara hatte Pläne für ihr Leben: Jurastudium, Anwältin in einer NGO für Kinderrechte, Familie. Dass sie den richtigen Mann finden würde, stand ausser Frage. Sie hatte dieses Flüchtige, Unverbindliche im Umgang mit Männern, die vergnügt-natürliche Anziehung derer, die wissen, dass sie begehrt werden. Nicht dass sie dauernd wechselnde Liebschaften gehabt hätte – im Grunde war sie konservativ, und das Begehrtwerden erfüllte bereits einen Grossteil ihrer erotischen Fantasie.
Während zweier Jahre hatte sie einen Freund gehabt, von dem sie sich im Herbst getrennt hatte. Er verstand nicht, was an ihm hätte ungenügend sein sollen. Es liege nicht an ihm, hatte sie ihm gesagt und kindisch gekichert, da sie sich fühlte wie eine Schauspielerin in den billigen Serien, die ihre Mutter schaute.
Im März begann sie eine Affäre mit einem zehn Jahre älteren Mann namens Oskar, der kurz vor der Heirat stand. In einer unkontrollierbaren Manie suchte er Sex mit jungen Frauen, Sara traf er in einem Café (ihr war eine Münze zu Boden gefallen, er gab sie zurück). Sie war sofort verliebt, auf den ersten Blick. Doch entgegen seinen Beteuerungen heiratete Oskar im Mai. Die Feier soll bieder gewesen und Oskar stockbesoffen. Sara war untröstlich, löschte seine Nummer und lernte verbissen für die Matura.
Am 4. Juni 1998, einem Donnerstag, hatte sie Prüfungen. Über Mitteleuropa richtete sich ein stabiles Sommerhoch ein, die Böden trockneten, es wurde heiss. Am Abend ging sie mit Rahel in den Stadtpark, ein längliches Gebilde, das sich um einen Teil der Altstadt zog – eigentlich nichts weiter als ein Flickenteppich aus Rasen, Gehölz und Rabatten. Um die Bänke hatten es sich Jugendliche gemütlich gemacht, die den Sommer dieses vielversprechenden Jahres gemeinsam verbringen wollten.
Emilios Geburtstagsparty fand im hinteren Teil statt. Er war in Feierlaune, denn er wurde dreiundzwanzig und glaubte an das Glück von Primzahlen. Bis vor kurzem hatte er mit Rahel das Lehrerseminar besucht (sie hatte nach drei Semestern abgebrochen). Er war verliebt in ihre Art, unprätentiös und doch besonders zu sein. Irgendjemand brachte kalifornischen Rotwein aus dem Sonoma County, mit designten Etiketten, damals eine Rarität. Marihuana war im Umlauf, Rahel verzichtete.
Sara und ihre Freunde sassen etwas abseits auf einer riesigen Wolldecke. Im Laufe der Nacht stiessen weitere Personen dazu, die meisten kannte sie vom Sehen. Ein blonder Schreiner mit breitem Rücken und zurückgebundenem Haar schlich um sie herum, setzte sich neben sie, die Zigarettenpackung wie ein Vietnam-GI zwischen Schulter und T-Shirt gesteckt. Er quatschte auf sie ein und versuchte sie zu küssen. Sara rutschte von ihm weg. Der blonde Schreiner verlangte ihre Nummer.
Sara winkte ab. «Ich muss jetzt gehen», sagte sie und rief nach ihrer Schwester. Wenig später verabschiedeten sie sich von ihren Freunden und zogen kichernd durch die Gassen bis zur Treppe bei der Kirche – wo sich Sara mit dem Hinweis auf den verloren gegangenen Armreif umdrehte und verschwand.
Die erste Befragung fand drei Tage später in einem kahlen Raum statt. Rahel wartete, bis der Polizist Kaffee brachte. Er stellte ihn hin, ein dünnes Wässerchen in einem beigen Plastikbecher.
«Wie in einem Film.» Rahel entschuldigte sich umgehend. «So habe ich es nicht gemeint.»
«Wie sonst?», fragte der Polizist, setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.
Rahel zögerte, sie war verwirrt.
«Von mir aus können wir beginnen – es ist nur –, es fühlt sich unwirklich an, hier zu sein.»
«Das höre ich oft», beruhigte sie der noch junge Ermittler mit näselnder Stimme, sein linkes Augenlid zuckte. Er stellte präzise Fragen, sie antwortete so ausführlich sie vermochte. «Jedes Detail ist hilfreich», wiederholte der Ermittler mehrmals.
Sie verstrickte sich in Widersprüche, war sich bei einfachen Begebenheiten unsicher, ob sie tatsächlich so stattgefunden hatten.
«Ich mache mich noch selbst verdächtig», murmelte sie resigniert, als es ihr nicht gelang, die Ereignisse zeitlich zu ordnen.
«Die Erinnerung», erklärte er trocken, «ist eine Konstruktion – oder um es weniger gewählt auszudrücken: ein Sauhund.»
Erleichtertes Lachen an beiden Seiten des Tischs. Auf seine Nachfrage beschrieb sie noch einmal den blonden Schreiner. Seine Tätowierung am Oberarm, oben an der Schulter. Ein Ornament, kein Bild, etwa so breit wie eine Hand.
Dominik Schmidlin, der Schreiner, wurde festgenommen. Er log, da er kein Alibi vorzuweisen hatte. Später behauptete er, er habe im Park geschlafen, unter einem Busch. Schwierige Familienverhältnisse, Vater und Bruder polizeibekannt. Die Staatsanwaltschaft ordnete Untersuchungshaft an.
Sein Bild erschien in der Zeitung: «Hat er Sara getötet?»
Nachgewiesen werden konnte ihm nichts. Doch Sara blieb verschollen, und Dominik Schmidlin weiterhin tatverdächtig. Er setzte sich zur Wehr, erklärte jedem, dass er damit nichts zu tun habe. Niemand schien ihm zu glauben; je mehr er sich verteidigte, desto verdächtiger machte er sich. Ein Teufelskreis, aus dem er keinen Ausweg fand.
Ende September raste er auf der Hauptstrasse zwischen Sursee und Beromünster in einen Baum und verstarb im brennenden Auto.
Es hiess, der Unfall sei als Schuldeingeständnis zu werten. Beweise gab es keine.