Читать книгу Sara Z., verschwunden - Pirmin Müller - Страница 13
7. Ein guter Tag
ОглавлениеDie Amsel im Garten besang die Morgendämmerung. Rahel erwachte, suchte Mareks Körper – er ist ja weg, dachte sie –, drehte sich zur Seite und schlief weiter. Kurz darauf wurde sie von Lenas Schritten geweckt. Weshalb ihre Tochter mit den Fersen dermassen auf den Boden stampfte, blieb ihr ein ärgerliches Rätsel. Andererseits war das Getrampel auch beruhigend: Lena war hier, sie stapfte herum, der morgendliche Hunger trieb sie in die Küche, sie musste auf die Toilette, zog sich an. Alles war gut.
«Mama», rief Lena, «soll ich Kaffee kochen?»
«Ich bin unterwegs», rief Rahel etwas zu aufgeweckt. Sie zog sich hastig an und eilte in die Küche.
«So, da wären wir.»
Lena lachte.
«Die Vögel haben mich geweckt. Ich bin nur für einen klitzekleinen Augenblick wieder eingenickt.»
«Aber Hauptsache, ich bin pünktlich in der Schule.»
«Kluges Kind.»
Rahel fuhr ihr über die Stirn und durch die Haare.
«Wir haben es gut», sagte Lena und umarmte ihre Mutter.
«Ja, wir haben es gut», versicherte Rahel und schmiegte sich an sie.
«Vergiss deinen Kaffee nicht», mahnte Lena, bevor sie aus dem Haus rannte.
Mach dir keine Sorgen, dachte Rahel, und schaute, wie ihre Tochter mit der schweren Schulmappe den Kirchsteig hocheilte. Sie rauchte eine Zigarette, suchte die Amsel (ausgeflogen, dafür entdeckte sie einen Igel im Gehölz), danach ging sie zurück ins Haus. Nach einer ausgiebigen Morgendusche (mit anschliessender Gesichtsmaske) zog sie einen leichten, grünen Rock an. Ihr war nach Grün zumute, der Farbe junger Ahornblätter.
Im Atelier hielt sie sich die Handballen vor die Augen, atmete aus und wartete, bis sie innerlich ruhig wurde. Sie stellte sich den schleichenden Löwen auf dem Felsen vor, öffnete die Augen und richtete sich für die Arbeit ein: Papier, Pinsel, Tusche – alles sorgfältig auf dem Tisch angeordnet.
Gegen zwölf Uhr überprüfte sie ihr Werk aus verschiedenen Perspektiven und kam zur Überzeugung, dass der Löwe geschmeidig und gefährlich lauerte. Etwas Kraftvolles hatte Dorothea gewünscht, ein Kunstwerk, keine biedere Einladung zu einem fünfundvierzigsten Hochzeitstag.
Rahel nahm ihr Handy und schrieb Dorothea, dass die Einladung fertig sei.
«Das freut mich», antwortete Dorothea per SMS. «Darf ich vorbeikommen und das Werk begutachten?»
«Gerne. Um zwei Uhr?»
«Ausgezeichnet. Ich bringe frische Erdbeeren mit Schlagrahm.»
Sie reinigte die Malutensilien und räumte den Arbeitsplatz auf. Danach gönnte sie sich einen Kaffee und setzte sich auf der Veranda in den Schatten. Auf dem Display ihres Handys erschienen drei neue Nachrichten. Eine Sprachmitteilung von Marek: «Ich liebe dich. Mit dem Festival bin ich bald am Ende, und mit den Nerven auch.»
Die Werbemail eines Kulturveranstalters – «Die Zirkuswoche steht vor der Tür! Nicht verpassen!» – schien ihr unbeholfen betitelt, doch das Programm sah vielversprechend aus.
Die dritte Nachricht war von Margot, der umtriebigen Fraktionspräsidentin, die um eine Auskunft bezüglich der Kommissionssitzung bat.
Rahel legte das Gerät auf die Fensterbank und zündete sich eine Zigarette an.
Eins nach dem andern, dachte sie und fragte sich, weshalb sie sich bloss für die Politik hatte überreden lassen. Es war ein Fehler gewesen, sich auf die Wahlliste der Grünen setzen zu lassen. Selbst auf den letzten Listenplatz, mit so gut wie keiner Wahlchance, wie Margot versichert hatte.
Rahel wurde trotzdem ins Stadtparlament gewählt (obschon sie politisch nichts geleistet hatte, ausser am Parteistand den Passanten das Programm aufzusagen). Doch Rahel war keine gewöhnliche Kandidatin. Sie war die Schwester von Sara Zeittlinger, deren Schicksal jede und jeden in der Stadt beschäftigt und mitgenommen hatte. Sie war die Überlebende, die daran erinnerte, dass der Mörder nicht gefasst wurde, dass es durchaus einer von hier sein könnte.
Dorothea Schulzes Kopfbedeckung war dezenter als die gestrige: ein schlichter Strohhut mit Stoffband. Sie setzten sich an den Gartentisch, Dorothea schlug die Beine übereinander und zündete sich genüsslich eine Zigarette an. «Wenigstens bei dir darf ich noch Mensch sein. Es ist schrecklich, wie sich die Welt entwickelt. Alle nüchtern, aber dumm wie Stroh.»
«Erst die Erdbeeren oder die Zeichnungen?», fragte Rahel.
«Weisst du, meine Gute, den Löwen habe ich gestern gesehen. Ich bin sicher, dass er heute noch schöner schleicht.»
«Den Schriftzug hast du noch nicht gesehen.»
«Kalligraphie beherrscht niemand wie du. Es wird wunderbar werden. Ich weiss es.»
«Also die Erdbeeren?»
Auch auf die Früchte verspürte Dorothea wenig Lust.
«Lieber noch ein Zigarettchen. Wenn du etwas Wasser bringen könntest?»
Rahel brachte einen Krug Wasser und zwei Gläser. Sie schlug ebenfalls die Beine übereinander und zündete sich keine Zigarette an.
«Netter Rock, hübsches Grün, steht dir gut.»