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3. Die Kommission

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Ausser der Stadtpräsidentin Verena Grunder-Koch, die von Amtes wegen Einsitz hatte, war Rahel die einzige Frau in der Sicherheitskommission. Sechs Herren, ein Sozialdemokrat und fünf Bürgerliche, standen im Sitzungszimmer 2a, ovaler Nussbaumtisch, herrlicher Ausblick auf die Jurakette. Die Begrüssung: luftiges Küsschen hier, stählerner Händedruck dort, bei Parteifreunden verbunden mit Schulter- und Rückenklopfen. Austausch der üblichen Belanglosigkeiten, danach das routinierte Platzieren der Akten und Rechner – Vorbereitungshandlungen für einen langen Sitzungsabend. Mineralwasser mit und ohne Kohlensäure stand auf dem Tisch bereit, in Keramikschälchen lockten Lindor-Kugeln. Die Temperatur war angenehm, die neue Belüftungsanlage bewährte sich, was inzwischen auch die grössten Sparfüchse im Gemeinderat anerkannten.

Trotz der lockeren Attitude wirkten die Herren verschlossen wie Burgen, ganz im Gegensatz zur Stadtpräsidentin, die Rahel den Platz neben sich zuwies und sich nach ihrem Befinden erkundigte.

«Sehr freundlich. Danke, es geht.»

«Als Präsidentin sitze ich oben am Tisch. Es gibt keine festgeschriebene Sitzordnung, allerdings sitzen die Herren stur am selben Platz. Wahrscheinlich nennen sie es prinzipientreu. Oder standhaft.»

Rahel lächelte, die Anspannung (ihre eigene und die der andern, die sich auf sie übertragen hatte) wich aus Nacken und Brust. Der Raum kam ihr luftiger vor, die Kommissionsmitglieder weniger gewichtig.

Der Protokollführer schloss die Tür, die Traktanden wurden eröffnet, der Polizeichef auf zwanzig Uhr angekündigt.

Stadtrat Gregor Häusermann, seit vier Legislaturen Vorsteher Departement Sicherheit und Verkehr, drückte die Fingerspitzen gegeneinander. Im trockenen Ton eines müde gewordenen Politikers mahnte er Disziplin an. Ihm gegenüber sass Parteikollege Schornfeger, so unbedeutend wie sich selbst überschätzend, der sich einer Karriere zwischen Parteilinie und Verschwörungstheorien entlanghangelte. Mit seinen engstehenden Augen, dem bohrenden Blick und dem schütteren Haar, dem er neuerdings einen getrimmten Bart gegenüberstellte, hatte er nichts Gewinnendes an sich. Nichtsdestotrotz sah er sich als Häusermanns Nachfolger.

Zwei Herren erzählten sich Geschichten von den Schulreisen ihrer Kinder.

Häusermann schlug die Beine übereinander und wartete. Mit kühlem Blick besah er die Runde und schätzte den Ausgang der Sitzung ab. Er war sich sicher: Die Polizei kommt mit einem Verweis davon, keine weiteren Untersuchungen, keine personellen Konsequenzen. Für einen Eritreer lehnten sich nicht mal die Linken aus dem Fenster. Selbst wenn die Aufnahmen der Polizeigewalt für Empörung gesorgt hatten: Die Männer, die am Bahnhof herumhingen, waren einfach zu unbeliebt. Ausserdem war unklar, weshalb sie geflohen waren – es sei in dem Land gar nicht schlimm, berichteten gewisse Politiker, die dort auf Staatsbesuch gewesen waren. Selbst der schöne Arno Hendrick, Sozialdemokrat und Kolumnenschreiber in verschiedenen Lokalzeitungen, hatte vorgängig versichert, es gebe von seiner Seite keinen Widerstand. Seine Fraktion stehe hinter ihm.

Häusermann nickte ihm zu.

Hendrick musterte ihn kurz, mit einer leicht schiefen Kopfhaltung deutete er ebenfalls ein Nicken an.

Stadtpräsidentin Grunder-Koch flüsterte mit Rahel, irgendetwas Aufmunterndes, jedenfalls grinsten sie sich zu.

Häusermann liess sie gewähren. Jeder hier kannte die Geschichte der Zeittlingers, wusste, was die Familie nach Saras Verschwinden durchgemacht hatte. Damals, im zweitletzten Sommer vor dem Jahrtausendwechsel. Er war Fraktionspräsident gewesen, besass rhetorisches Talent, Stil und Charisma. Vor ihm lag, da waren sich alle einig, eine brillante Karriere. Frisch geschieden und ebenso frisch verliebt. Einen Liebhaber in Lausanne, von dem niemand wusste.

In jenem Sommer lagen grosse Gefühle in der Luft. Die Welt offen und frei, die Ideologien des kalten Krieges versenkt, die Zukunft ein Zusammenspiel aus Kreativität, Technologie und Toleranz.

Die Tragödie hatte am Donnerstag, dem 17. Juni 1998, begonnen. Nach einem heissen Tag türmten sich über dem Jura Gewitterwolken auf, es blitzte in der Ferne, einzelne Böen schafften es bis in die Stadt. Es blieb trocken. Die Altstadt voll mit Menschen, eine wunderbare Nacht. Rahel war mit ihrer Schwester im Stadtpark gewesen. Sie feierten den Geburtstag eines Freundes aus der Kantonsschulzeit, ihre Jugend und das bevorstehende Baden in den Nebenarmen der Aare, das unvergleichliche sich Treibenlassen im Flusswasser. Rahel hatte getrunken, Wein und Wodka. Sara mochte keinen Alkohol, ihr widerstrebte der Geschmack. An diesem Abend trank sie trotzdem drei Gläser Wein. Kurz nach Mitternacht verabschiedeten sich die Schwestern von ihren Freunden. Unterhalb des Kirchplatzes, auf der Treppe, die in die Allmend abging, blieb Sara stehen. Sie las eine SMS auf ihrem Nokia und stellte dabei fest, dass sie ihren Armreif liegen gelassen hatte.

«Sicher auf dem Rasen», meinte sie.

«Es gibt bestimmt noch einen anderen Grund», entgegnete Rahel.

Sara habe daraufhin gelacht, gab Rahel später zu Protokoll. Sie habe gedacht, es handle sich um einen neuen Freund, einen aus der Clique, sonst wäre sie wohl kaum so aufgekratzt gewesen. Sie habe einen Song von Ibrahim Ferrer gesungen.

Gregor Häusermann räusperte sich. Nichts tat sich. Er klopfte mit den Knöcheln auf den Tisch. Das Gerede hörte auf, die Blicke wandten sich ihm zu. Er räusperte sich erneut, als Departementsleiter hatte er die Sitzung offiziell zu eröffnen. Er begann leise, wie er sich das zur Gewohnheit gemacht hatte, seine blauen Augen erfassten jedes Kommissionsmitglied. Eine rhetorische Pause, die Stimme anschliessend kräftiger – eingehend mahnte er zur Besonnenheit und zur Verantwortung gegenüber den Bürgern, vor allem auch gegenüber der Polizei, deren Ruf nicht unbegründet in den Dreck gezogen werden dürfe.

Häusermann schob die Traktandenliste beiseite und übergab das Wort der Präsidentin.

Sara Z., verschwunden

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