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SECHS

Flüsse

Wir tendieren dazu, vor der wilden Stille und der wilden Dunkelheit zu fliehen, unsere Götter einzupacken und uns hinter die Stadtmauern zu kauern, die Götter in Götzen zu verwandeln … Und wenn wir dann in den Tempeln sitzen, wer wird dann den Rufer aus der Wildnis hören? Wer wird das Schilfrohr hören, das im Wind schwankt?

– Chet Raymo

Johannes den Täufer erkennt man in jeder Ansammlung von Heiligen wieder.

Unter den mürrischen, in Roben gekleideten Patriarchen ist er derjenige mit dem wilden Blick und dem zerzausten Haar, die Rippen stechen unter der sonnengebräunten Haut hervor, und in den Händen hält er einen kreuzförmigen Stab oder eine Schriftrolle, auf der steht: „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe!“ Kurz gesagt, er ist der Typ, dem man auf dem Supermarktparkplatz lieber aus dem Weg gehen möchte.

Johannes war das Wunderkind von Elisabeth und Zacharias und sah seinem Vater wahrscheinlich dabei zu, wie er als Priester im Tempel rituelle Reinigungen vornahm. Das levitische Gesetz forderte von den Juden, sich von Unreinheiten zu reinigen, die man sich durch Dinge wie die Menstruation, Hautkrankheiten oder den Kontakt zu Leichen zuziehen konnte, und viele Juden unternahmen Pilgerreisen zum Tempel, um dort in Vorbereitung auf Feste und Feiertage in Wasser untergetaucht zu werden. Freunde und Familie erwarteten von Johannes möglicherweise, dass er in die Fußstapfen seines Vaters treten und Tempelpriester werden würde. Aber Johannes blieb nicht im Tempel. Johannes ging aus der Stadt hinaus aufs Land und tauschte die zeremoniellen Badebecken gegen frei fließende Flüsse ein.15

Indem er sich von Heuschrecken und Honig ernährte und die Menschen zu einer einzigen, dramatischen Taufe aufrief, die ein neu ausgerichtetes Herz symbolisierte, verkörperte Johannes das Bild, das Jesaja von einer Stimme in der Wüste zeichnete, die erklärte, dass Gott in Bewegung ist und sich bald alles verändern wird. Johannes wusste, dass diese Gottes-Bewegung nicht auf den Tempel beschränkt bleiben würde, sondern „jede Schlucht […] aufgefüllt werden [soll], jeder Berg und Hügel sich senken. Was krumm ist, soll gerade werden, was uneben ist, soll zum ebenen Weg werden. Und alle Menschen werden das Heil sehen, das von Gott kommt“ (Lukas 3,5+6).

„Bereitet dem Herrn den Weg!“, sagte er den Leuten, „ebnet ihm die Straßen!“ (Markus 1,3)

Die Menschen brauchten nicht mehr zu Gott hinzugehen; Gott kam zu den Menschen. Und Gott, in Seiner unnachgiebigen Liebe, würde keinem Berg oder Hügel – keiner Ideologie oder Voraussetzung, keinem Ritual oder Gesetz – erlauben, sich in den Weg zu stellen. Einen Gott, der Berge platt macht, konnten Tempel nicht fassen, zeremonielle Bäder keinen Gott, der durch Flüsse fließt. Umkehr bedeutete dann, sein Leben um diese Wirklichkeit herum neu auszurichten. Umkehr bedeutete, Buße zu tun für die alten Verhaltensweisen, die Wege blockierten, und sich zum großen Wegebahnen dazuzugesellen. Es bedeutete, dabei mitzuhelfen, jedes menschengemachte Hindernis zwischen Gott und seinen Leuten zu zerstören, und Gottes wilde, ungehemmte Gegenwart zu feiern, die jeden Winkel der Erde füllt. Es bedeutete, in Flüssen getauft zu werden und Gott den Weg freizumachen. Immerhin kann eine Person einen Berg versetzen, wenn sie genug glaubt … sogar einen Berg aus eigener Herstellung.

„Das Himmelreich ist nicht da oben, es ist genau hier“, sagte Johannes. „Kehrt um, denn das Himmelreich ist nahe. Bereitet dem Herrn den Weg! Ebnet ihm die Straßen!“

Ich frage mich, ob diese Worte auch Philippus durch den Kopf gingen, als er einen der ersten Nichtjuden, die sich zum Christentum bekehrten, taufte: einen äthiopischen Eunuchen.

Die Geschichte geht so: Nachdem Jesus von den Toten auferstanden ist und seine Jünger angewiesen hat, hinauszugehen und ihrerseits in der Welt die Auferstehung zu praktizieren, schickt der Heilige Geist den Evangelisten Philippus auf die Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt und durch eine einsame Gegend verläuft. Dort begegnete Philippus einem königlichen Eunuchen aus dem fernen Lande Äthiopien, der hinten auf seinem Wagen die hebräische Bibel las. (Apostelgeschichte 8,26 - 40)

Als Eunuch war es dem Mann streng verboten, das Tempelgelände zu betreten, geschweige denn an den Ritualen im Tempel teilzunehmen. (3. Mose 21,20; 5. Mose 23,2) Er gehörte einer sexuellen und ethnischen Minderheit an und wird somit völlig von der religiösen Gemeinschaft Jerusalems ausgeschlossen gewesen sein, selbst wenn er an den Gott Israels glaubte. Hätte er sich dem Tempel genähert, um sich taufen zu lassen, wäre er abgewiesen worden.

Und dennoch hatte dieser religiöse Ausgestoßene, dieser Mann, der dachte, er befände sich in einem Zustand ewiger Unreinheit, eine heilige Schriftrolle in die Finger bekommen und einen Abschnitt gefunden, der deutlich in seinen eigenen Erfahrungen widerhallte:

Wie ein Schaf wurde er zum Schlachten geführt;

und wie ein Lamm, das verstummt, wenn man es schert,

so tat er seinen Mund nicht auf.

In der Erniedrigung wurde seine Verurteilung aufgehoben.

Seine Nachkommen, wer kann sie zählen?

Denn sein Leben wurde von der Erde fortgenommen.

Als Philippus hörte, wie der Eunuch diese Worte laut las, näherte er sich dem Wagen und fragte, ob der Eunuch verstand, was er da las.

„Wie könnte ich es, wenn mich niemand anleitet?“, erwiderte der Eunuch.

Philippus stieg auf, und während der Wagen durch die Wildnis rumpelte, erzählte er dem Eunuchen von Jesus – darüber, wie Gott einer von uns wurde und litt.

Überwältigt sah sich der Eunuch in der rauen Umgebung um und rief: „Hier ist Wasser. Was steht meiner Taufe noch im Weg?“

Wir wissen nicht, wie lange diese Frage, die so voller herzzerreißender kindlicher Freude ist, in der Luft hing, verletzlich wie ein Tropfen Wasser in der heißen Wüstenluft. Zu einem anderen Zeitpunkt in seinem Leben hätte Philippus vielleicht die Herkunft des Eunuchen aufgezeigt oder seine Anatomie oder die Tatsache, dass er nicht imstande war, sich Zugang zu den rituellen Bädern zu verschaffen, die einen Menschen rein machten. Aber stattdessen, ohne weitere Unterhaltung zwischen den Reisenden, hält der Wagen an, und Philippus tauft den Eunuchen in der ersten Wasserstelle, die die beiden finden konnten. Das kann ein Fluss oder eine Pfütze auf der Straße gewesen sein.

Philippus hat Gott den Weg freigemacht. Er erinnerte sich daran, dass das Evangelium nicht durch die Leute anstößig wird, die es draußen lässt, sondern wegen derer, die es hereinlässt. Nichts konnte den Eunuchen davon abhalten, getauft zu werden, denn die Berge, die im Weg standen, waren eingeebnet worden, felsige Hügel geglättet, und Gott hatte einen Weg geschaffen. Überall war heiliges Wasser.

Zweitausend Jahre später bleibt Johannes’ Ruf ein Ruf in der Wüste, ein Ruf von den Rändern. Weil wir religiösen Typen so gut darin sind, Mauern zu bauen und uns in Tempel zurückzuziehen. Wir sind gut darin, aus unseren Ideologien Berge zu machen, Hindernisse aus unseren Theologien und Hügel aus unseren verdrehten Ansichten darüber, wer rein darf und wer nicht, wer würdig ist und wer unwürdig. Wir sind gut darin, uns in den Weg zu stellen. Vielleicht haben wir Angst, Gott könnte Menschen und Methoden benutzen, mit denen wir nicht einverstanden sind, wenn wir uns bewegen; es könnten dann ja Regeln gebrochen und theologische Lehren infrage gestellt werden. Vielleicht haben wir Angst, dieses Ding mit der Gnade könnte aus dem Ruder laufen, wenn wir aus dem Weg gehen.

Und jetzt rate mal? Das ist doch schon lange passiert.

Die Gnade ist aus dem Ruder gelaufen, als der Gott des Universums an einem römischen Kreuz hing, mit ausgebreiteten Armen auf die hinuntersah, die ihn dort aufgehängt hatten, und erklärte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“

Gnade ist schon seit über zweitausend Jahren aus dem Ruder gelaufen. Gewöhnen wir uns besser daran.

Und so gilt der Ruf auch heute noch: Kehrt um. Richtet euch neu aus. Bereitet den Weg des Herrn. Ebnet ihm den Weg. Gott bricht durch die Welt wie weiß schäumendes Wasser durch die Felsen. Es bleibt nichts anderes, als aufzugeben.

Es ist kompliziert

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