Читать книгу Es ist kompliziert - Rachel Held Evans - Страница 20
ОглавлениеSIEBEN
Asche
Wie ein Vater sich seiner Kinder erbarmt, so erbarmt sich der Herr über alle, die ihn fürchten. Denn er weiß, was wir für Gebilde sind; er denkt daran: Wir sind nur Staub.
– Psalm 103,13+14
Wir bestehen aus Sternenstaub, sagen die Wissenschaftler – das Eisen in unserem Blut, das Kalzium in unseren Knochen und das Chlor in unserer Haut, geschmiedet in den Essen uralter Sterne, deren Explosionen die Elemente über die Galaxie verteilt haben. Aus den Aschen wuchsen neue Sterne und um sie herum ein Planetensystem und Asteroiden und Monde. Ein Haufen Staub verband sich und formte die Erde, und das Leben erhob sich aus der Schutthalde von acht Milliarden Jahre alten Toden.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
In der Schöpfungsgeschichte im ersten Buch Mose schuf Gott den Menschen aus dem Staub der Erde und hauchte ihm mit göttlichem Atem Leben ein. Gott setzte den Menschen in einen Garten an einem Fluss und lehrte ihn, sich darum zu kümmern. Als Gott sah, dass der Mann einen Partner bei seiner Arbeit brauchte, schuf Gott eine Frau, und zusammen lernten die beiden, am Leben zu sein: zu pflanzen und auszureißen, zu lachen und zu lieben, klebrige Granatäpfel aufzubrechen und sich den Dreck unter den Fingernägeln herauszupulen, die unterschiedlichen Gesänge der Vögel wiederzuerkennen und in der Kühle des Tages mit Gott spazieren zu gehen. Sie lebten im Schatten des Baumes des Lebens und waren nackt und schämten sich nicht.
Aber als das Leben nicht reichte, als Mann und Frau mehr wollten, suchten sie Weisheit beim einzigen verbotenen Baum des Gartens – dem Baum der Erkenntnis von Gut und Böse. Sie glaubten, seine Früchte würden sie gottgleich machen. Aber in ihrem Greifen und in ihrer Rebellion, in ihrer Unabhängigkeit und ihrer Gier lernten sie stattdessen Angst, Wut, Verurteilung, Schuldzuweisungen, Neid und Scham. Als Gott kam, um mit ihnen in der Kühle des Tages spazieren zu gehen, versteckten sie sich voller Angst in einem Busch. Also verbannte Gott sie aus dem Garten, weg von dem Baum des Lebens, und sie verstanden, dass sie sterben würden.
„Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen, bis du zurückkehrst zum Ackerboden; von ihm bist du ja genommen. Denn Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“ (1. Mose 3,19)
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Als die Nachkommen Adams miteinander Krieg führten, brannten die Armeen die Städte ihrer Feinde ab. Die Söhne Adams und die Töchter Evas kannten den Geruch der Asche gut, den bitteren Nachgeschmack der verbotenen Frucht. Sie kannten außerdem den Unterschied zwischen Gut und Böse, und dennoch wählten sie wieder und immer wieder das Böse in ihrem gewalttätigen Streben, gottgleich zu sein. Die grauen Ablagerungen eingeäscherter Materie bedeuteten Zerstörung, Sterblichkeit, Trauer und Reue. Im Nachgang einer Tragödie oder in der Erwartung eines Gerichtsurteils tauschten unsere Vorfahren ihre feineren Kleider gegen grobes, farbloses Sackleinen und beschmierten ihre Gesichter mit der Asche verbrannter Dinge. Sie ritualisierten ihr Kleinsein, ihre Abhängigkeit, ihre Mittäterschaft.
„Tochter, mein Volk, leg das Trauerkleid an und wälz dich im Staub!“, sagte der Prophet Jeremia, „halte Trauer wie um den einzigen Sohn, bitterste Klage: ‚Ach, jählings kam über uns der Verwüster.‘“ (Jeremia 6,26)
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Der Baum der Erkenntnis von Gut und Böse hat nicht jedes Geheimnis preisgegeben. Selbst die Weisesten fanden seine Frucht pulverig. Salomon erklärte: „Alles ist vergeblich und vergänglich. Alles muss an den gleichen Ort. Aus dem Staub der Erde ist alles entstanden und zum Staub der Erde kehrt alles zurück“ (Prediger 3,19+20, GNB). Als Hiob nach einer Erklärung für sein Leiden verlangte, fragte Gott: „Wo warst du, als ich die Erde gegründet? Sag es denn, wenn du Bescheid weißt“ (Hiob 38,4). Hiob zog sich in einen Aschehaufen zurück und rief: „So habe ich denn im Unverstand geredet über Dinge, die zu wunderbar für mich und unbegreiflich sind“ (Hiob 42,3).
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Einmal im Jahr, zu Aschermittwoch, vermischen wir Asche mit Öl. Wir zünden Kerzen an und beichten einander und vor Gott, dass wir gesündigt haben durch das, was wir getan, und durch das, was wir unterlassen haben. Wir sagen die Wahrheit. Dann streichen wir Asche auf unsere Stirn und bekennen die einzige Wahrheit, auf die sich jeder Katholik und jeder Protestant, Gläubige und Atheist, Wissenschaftler und Mystiker einigen kann: „Staub bist du, zum Staub musst du zurück.“ Das ist das Einzige, das wir ganz sicher wissen: Wir werden sterben.
Asche zu Asche, Staub zu Staub.
Aber vor langer Zeit wurde ein Versprechen gegeben. Ein Prophet namens Jesaja sagte, ein Botschafter würde kommen, um die Armen zu trösten und die, die gebrochenen Herzens sind, dass er „ihnen Schmuck bringe anstelle von Schmutz, Freudenöl statt Trauergewand, Jubel statt der Verzweiflung“. Diejenigen, die einst in Staub und Asche Buße taten, wird man „,die Eichen der Gerechtigkeit‘ nennen, ‚die Pflanzung, durch die der Herr seine Herrlichkeit zeigt‘“ (Jesaja 61,3).
Wir konnten nicht werden wie Gott, also wurde Gott wie wir. Gott zeigte uns, wie man heilt, anstatt zu töten, wie man repariert, anstatt zu zerstören, wie man liebt, anstatt zu hassen, wie man lebt, anstatt sich nach mehr zu sehnen. Als wir Gott an einen Baum nagelten, vergab Gott. Und als wir Gott in der Erde vergruben, stand Gott wieder auf.
Der Apostel Paulus hatte Mühe, dieses Geheimnis zu erklären: „Der Erste Mensch stammt von der Erde und ist Erde“, schrieb er. „Der Zweite Mensch stammt vom Himmel. Wie der von der Erde irdisch war, so sind es auch seine Nachfahren. Und wie der vom Himmel himmlisch ist, so sind es auch seine Nachfahren. Wie wir nach dem Bild des Irdischen gestaltet wurden, so werden wir auch nach dem Bild des Himmlischen gestaltet werden.“ (1. Korinther 15,47 – 49)
Wir bleiben nicht vom Tod verschont, aber die Macht des Todes ist gebrochen. Der Griff der Sünde ist gelockert. Wir sind eingeladen, den Sieg zu teilen, Gottes Weg ins Leben zurück zu folgen. Wir sind zu Samen geworden, die verwandelt werden sollen, sagte Paulus. „Auch das, was du säst, wird nicht lebendig, wenn es nicht stirbt.“ (1. Korinther 15,36)
Leben zum Tod, Tod zum Leben – wie Samen, wie Erde, wie Sterne.
Kein Wunder, dass Maria von Magdala Jesus mit einem Gärtner verwechselte. Ein neuer Baum des Lebens hat die Erde durchbrochen und streckt sich der Sonne entgegen.