Читать книгу ... wenn nichts bleibt, wie es war - Rainer Bucher - Страница 10

2. Kulturelle Revolutionen

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Unter der Benutzeroberfläche unseres Alltags werden seit einiger Zeit permanent neue Programme installiert, ohne dass die Programmierer wissen können, wohin das führt. Das geschieht zumeist knapp unterhalb der Wahrnehmungsschwelle; wenn wir es merken, ist es schon passiert. Auch das trägt dazu bei, dass das Leben heute sich vom Leben unserer Großeltern fundamental unterscheidet.

Diese kulturellen Revolutionen kommen zuerst eher leise daher, das ist eines ihrer postmodernen Erfolgsgeheimnisse. Die Gegenwart – das ist, im Unterschied zur klassischen Moderne, die Zeit der Revolutionen, die schon mehr oder weniger durchgesetzt sind, wenn sie bemerkbar werden. So beginnen wir erst zu ahnen, was die Umwälzungen der späten Moderne bereits alles auf den Kopf gestellt haben und noch auf den Kopf stellen werden.

Die kulturellen Basics unserer Existenz verändern sich unter der Oberfläche einer gewissen Kontinuitätsfiktion seit einiger Zeit fundamental, im Wesentlichen wohl immer noch durch einen einzigen Prozess: Der Bereich des Kulturellen – und damit als veränder- und verfügbar Definierten – weitet sich dramatisch aus. Das geschieht durch zwei miteinander verschränkte Prozesse: durch die Überführung von bislang als »natürlich«, also unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren und durch die massive technologische Erweiterung dieses Bereichs.

Für die Überführung von bislang als natürlich, unwandelbar und notwendig Gedachtem in den Bereich des Gestaltbaren steht exemplarisch der Wandel des Geschlechterverhältnisses. Bis vor kurzem sprach man inner- und außerkirchlich ganz selbstverständlich vom angeblich unwandelbaren, ewigen »Wesen der Frau«, das sie »natürlicherweise« zur dienenden Partnerin des Mannes mache. Das ist inzwischen als eine für lange Zeit sehr erfolgreiche Männerphantasie durchschaut.

Für die Erweiterung des Bereichs des kulturell Gestaltbaren durch dessen technologische Expansion stehen exemplarisch die neuen digitalen Medien und die Biotechnologie. Es gibt natürlich auch kulturelle Revolutionen, in denen sich technologische Expansion und kulturelle Dekonstruktion von bisher Unantastbarem überschneiden. In den konkreten kulturellen Revolutionen der Gegenwart verschränken sich zumeist die Erweiterung des Bereichs des Gestaltbaren und die schiere Reichweitenexpansion menschlichen Handelns.

Die Medienrevolution etwa vollzieht sich primär als technologische Revolution, ist aber natürlich weit mehr als das. Die »Neuchoreografie der Geschlechterrollen« vollzieht sich primär als Entlarvung von scheinbar »Natürlichem« und »Gottgewolltem« als etwas Veränderbares, aber auch sie ist mehr als das, ist eine wirkliche Neuchoreografie und bringt daher die Verhältnisse zwischen Männern und Frauen zum Tanzen.5 Es ist kein Zufall, dass praktisch alle religiös-fundamentalistischen Bewegungen die Autonomie weiblichen Handelns massiv einschränken wollen.6

Die ökonomische Globalisierung aber ist ganz offenkundig und unmittelbar die Folge der Kombination von beiden Elementen des kulturellen Expansionsprozesses. Während sich die Medienrevolution technologisch verkauft und vermarktet, aber weitreichende Verflüssigungskonsequenzen für bisherige kulturelle Unverrückbarkeiten nach sich zieht, die Revolution der Geschlechterrollen vor allem als Destruktion bislang gültiger Unwandelbarkeiten und ihre Überführung in Gestaltbares daherkommt, ihre Basis aber in der realen Ausweitung weiblicher Autonomie durch qualifizierte Erwerbstätigkeit hat, ist die ökonomische Globalisierung von vorneherein auf dem Feld der Politik, der Macht, der ökonomischen wie der politischen Imperien angesiedelt.7

Dass sich die Gestaltungsreichweite des Menschen dramatisch durch die Entlarvung von Natürlichem als kulturell Gestaltbares und durch die Überführung von Fernem in Erreichbares erhöht, ist nichts wirklich Neues. Das geht schon lange so, seit mehreren Jahrhunderten. Das Neue dürfte aber darin liegen, dass der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte.

Dies alles bedeutet nichts weniger als das faktische und unabweisbare Ende lang anhaltender und bis heute wirksamer Grundannahmen über unsere zeitliche Situierung. Nach Hartmut Rosa erleben wir gegenwärtig »das Ende der verzeitlichten Geschichte der Moderne, d.h. das Ende einer Zeiterfahrung, in der die historische Entwicklung ebenso wie die lebensgeschichtliche Entfaltung als gerichtet und kontrollierbar … erscheinen.«8

... wenn nichts bleibt, wie es war

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