Читать книгу ... wenn nichts bleibt, wie es war - Rainer Bucher - Страница 11

3. Die merkwürdige Geschichte der »Gegenwart«

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Die Gegenwart ist uns seit einiger Zeit doppelt entzogen: Als etwas, das uns drängend und distanzlos umgibt, war sie es schon immer. Als gegenwärtige Gegenwart aber ist sie es doppelt. Denn eine der merkwürdigeren Irritationen beim Blick auf die Gegenwart ist, dass es offenbar eine Geschichte des Bewusstwerdens der eigenen Zeit gibt. Die Gegenwart war offenbar nicht immer in jener Weise gegenwärtig, wie es uns heute selbstverständlich ist. Die Art des Gegebenseins der Gegenwart ist selber ein kulturelles Phänomen. Es gibt eine »Geschichte der Gegenwart«. In ein Schema gebracht: In vor-neuzeitlichen Zeiten, also vor der europäischen Expansion des 16. Jahrhunderts, war die Gegenwart die Verlängerung der Vergangenheit und sie wollte auch nichts anderes sein; in der Moderne, also bis vor kurzem, war die Gegenwart die Vorgeschichte einer erhofften, erstrebten besseren Zukunft; heute, in einer unsicher und vorsichtig gewordenen späten Moderne, ist sie vor allem eines: die Chiffre für die Unsicherheit darüber, was sie eigentlich ist.

Vor dem Epochenbruch zur Neuzeit waren Gegenwart und Zukunft die Fortsetzung der Vergangenheit. Wie es war und vor allem wie es sein sollte, das dachte man sich als die Fortsetzung eines legitimierenden Ursprungs. Herrschaft etwa, weltliche und religiöse, begründete sich vor allem durch die »Herkunft von alters her«, am besten von göttlichem, also ewigem Alter her. Gegenwart war Nachfolge.

Die Moderne wurde dann jene Zeit, in der man die Zukunft als Projekt der Gegenwart dachte: Man sah sich nicht mehr primär der Vergangenheit verpflichtet, sondern die Zukunft wurde zur normativen Zeitebene, eine »bessere« Zukunft natürlich. Es sollte nicht mehr wie früher, sondern ganz anders werden, die Zukunft wurde modellierbar und gestaltbar, wurde zur Aufgabe. Der Weg dorthin nannte sich recht emphatisch »Fortschritt«.

Die Moderne bricht mit einer vergangenheitsorientierten Logik des Ursprungs und etabliert stattdessen eine zukunftsorientierte Logik des Projekts. Das befreit die Vergangenheit von der Aufgabe, die Gegenwart zu bestimmen, ermöglicht dieser vielmehr umgekehrt, die Vergangenheit nun plötzlich als offenen Raum der Erforschung zu entdecken. Hier drehen sich die Herrschaftsverhältnisse um: Nicht mehr die Vergangenheit herrscht über die Gegenwart, sondern die Gegenwart über die Vergangenheit. Diese Gegenwart selber aber steht unter der Macht der Zukunft.

Während die Gegenwart in vormodernen Zeiten also die Zukunft der Vergangenheit war, so in modernen Zeiten die Vergangenheit der Zukunft. Dieser Zukunft war man sich dabei relativ sicher. Die klassische Moderne, die Zeit also, die sich ihres regulierenden theologischen Rahmens irgendwann im 18. Jahrhundert in ihren Eliten und im 19. Jahrhundert dann gesellschaftsweit entledigte, war noch das Projekt einer nach-metaphysisch legitimierten Gesellschaft mit quasi-metaphysischer Sicherheit, das Projekt einer nicht-religiös begründeten Gesellschaft mit fast noch religiöser Selbstsicherheit.

In der postmodernen Gegenwart finden Geschichtstheologien des Fortschritts nicht mehr wirklich Glauben. Die Gegenwart ist damit eine Zeit, die sich ihrer selbst nicht mehr so gewiss ist, wie es die Vormoderne im Rahmen einer religiösen und die Moderne im Rahmen einer säkularen Geschichtstheologie war. Die spät- oder zumindest darin postmoderne Gegenwart ahnt die Brüchigkeit der modernen Logik der Projekte. Sie baut weiter an der Welt der Zukunft als Ergebnis ihres Willens, aber sie ahnt, dass es ganz anders kommen wird. Die Zukunft wird nicht das sein, was wir heute geplant haben. Was wir heute planen, wird die Zukunft mitbestimmen, aber wie, wissen wir nicht.

Der ganze Wissenschaftsbetrieb und teilweise auch die Kirche werden zwar gegenwärtig noch auf das Schema der Moderne umformatiert:9 ein Projekt zu entwickeln, es zäh und gegen widrige Winde und Menschen durchzusetzen und mit Erfolg abzuschließen. Wenn es aber eine postmoderne Erkenntnis gibt, dann jene, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie es die Moderne glauben machen wollte. Der Nationalsozialismus wollte die Weltherrschaft der Deutschen, er hat sie in ihr größtes moralisches und materielles Elend geführt. Der Kommunismus glaubte die Geschichte verstanden und die neue Zeit mit sich zu haben, hat sie aber seit 1989 hinter sich. Der liberale Westen glaubte, die Religion abgekühlt zu haben, aber er hat sie mit seiner kulturellen Globalisierung an verschiedenen Stellen wieder heiß gemacht. Der Irakkrieg sollte den islamischen Fundamentalismus beseitigen, er hat ihn aber gestärkt. Die moderne Verkehrstechnologie sollte die Erde verfügbar machen, ihr CO2-Ausstoß droht sie aber in Teilen unbewohnbar werden zu lassen. Die globalisierten Finanzmärkte sollten Wohlstand ermöglichen, ihre enge Vernetzung droht sie unbeherrschbar zu machen, der Euro sollte Europa endgültig einen und droht jetzt, zu seinem Sprengsatz zu werden.

Die katholische Kirche war immer fortschrittsskeptisch, aber aus einem eher zweifelhaften Grund. Sie glaubte, mit Hilfe ihres Zugangs zur Gottesmacht souveräne Herrin der Geschichte, von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu sein. Die klassische Moderne hat sie von diesem Thron gestoßen, das ist deren bleibendes Verdienst, aber viel besser wurde es dadurch lange nicht, eher im Gegenteil. Nie floss so viel Blut wie im vergangenen »Jahrhundert des Menschen«.

Die aktuelle Postmoderne glaubt daher auch nicht mehr an den Menschen, sondern an Technologien. Wir werden im entwickelten Westen nicht so sehr von politischen, also expliziten und offiziellen, sondern von technologischen, also klandestinen Umbauprozessen, die lange unterhalb der öffentlichen Bewusstseinsschwelle ablaufen, beeinflusst. Deren Konsequenzen und Verarbeitung sind den Einzelnen, ja ganzen Gesellschaften überlassen – mit individuell und gesellschaftlich ungewissem Ausgang. Das Neue an den neuen Zeiten ist also nicht, dass sie neu sind, das wäre trivial, sondern dass niemand so genau weiß, wie neu – und was dieses Neue bedeutet.

Wir leben in einer Gegenwart, die den Glauben an das Große und Ganze aufgegeben hat, und das nicht so sehr aus Unglauben, sondern aus Erfahrung, weil sich ihr Wahrheit eher in Splittern und Fragmenten, Überraschungen und neuen Unsicherheiten offenbart. Damit ist die Gegenwart vor allem eines: sich neu zur Entdeckung aufgegeben. Im gewissen Sinne wird unsere Gegenwart damit zum ersten Mal in eine radikale Präsenz, in einen radikalen Präsens gestellt. Sie wird sich selbst zur unbekannten Gegend. Ihre Entdeckung ist unsere erste Aufgabe im Umgang mit ihr.

Das ist eine signifikante Verschiebung. Dass sich die Opfer nicht lohnen, weder jene für den Kommunismus noch gar jene für den Faschismus und Nationalsozialismus, aber eben auch jene nicht, die auf Wissenschaft und Technik hoffen und ihnen alles geben wollen, das zeigt sich immer deutlicher und setzt sich bei immer mehr Menschen fest. Die Aufgabe der Gegenwart ist es also, diese Gegenwart überhaupt erträglich zu halten, für viele überhaupt erst erträglich zu machen: trotz der Ungerechtigkeiten, trotz der kulturellen, religiösen, ökonomischen Konflikte, trotz der, vergleicht man die Menschheitsgeschichte, unvorstellbaren kulturellen Beschleunigung und Verdichtung. Dazu müsste man sie aber überhaupt erst einmal genauer kennen. Der 11. September 2001 und die Finanzkrisen aber signalisieren: Das Wichtigste unserer Gegenwart taucht offenkundig plötzlich auf, schlägt zu und niemand hat damit gerechnet.

Es ist nicht mehr einfachhin möglich, die Gegenwart von einer mythologischen Vergangenheit oder von einer utopischen Zukunft her zu verstehen, unser Handeln mit einem göttlichen Auftrag zu rechtfertigen, eine ewige Ordnung zu verwirklichen oder mit einem menschlichen Auftrag, das Paradies auf Erden oder wenigstens eine Schwundform davon hier und heute zu errichten. Es geht vielmehr erst einmal darum, diese Gegenwart erträglich zu machen und lebenswert, obwohl oder gerade weil in ihr Menschen leben, die genau darin sich unterscheiden, wie sie diese Gegenwart verstehen, gestalten wollen und überhaupt schon begreifen.

Die einen empfinden in ihr immer noch einen religiösen, ja theokratischen Auftrag, die Piusbrüder etwa oder evangelikale Fundamentalisten oder radikale Islamisten. Die anderen sehen in ihr immer noch den Ort eines politischen (oder wissenschaftlichen) Heilsprojekts, die Vorsichtigen aber sehen in ihr eine unbekannte Gegend mit merkwürdigen Bewohnern: uns selbst und damit zuerst eine riesige und notwendig unabgeschlossene Entdeckungsaufgabe.

Die Entdeckung der Gegenwart und ihre Gestaltung als möglichen Ort menschlicher Existenz ist unsere Aufgabe und dieser Aufgabe kann man weder in die Utopie des ganz Anderen noch in die Sehnsucht nach dem reinen und guten Ursprung entkommen. Man kann ihr auch nicht, und das ist die dritte und meistgenutzte Fluchtmöglichkeit, durch Rückzug in eigene Konventikel und mehr oder weniger geschlossene Plausibilitätsgemeinschaften entfliehen. Politik ist nicht das Verwalten und gelegentliche Umformatieren des Gewohnten. Auch aus diesem Schlaf des Unpolitischen haben der 11. September und die Finanzkrisen gerissen. Die Politik schlägt zurück in der einen Welt, in der wir sind und die uns nie und nimmer in Ruhe lässt.

Wenn dem aber so ist, wenn der Wandel schneller und anders geschieht, als unser Begreifen und Planen es sich denken wollte, wenn wir also tatsächlich in ziemlich neuen kulturellen Gegenden leben, dann hat das Konsequenzen für das Nachdenken über Lage und Aufgabe der Kirche heute und gar über ihre Zukunft. Denn »(d)amit driftet die Inkulturation des Evangeliums hierzulande aus ihren modernen Festkörpern hinaus aufs offene Meer: (…) Nicht die Dialektik von Kontinuität und Unterbrechung, sondern das Ereignis, der jeweils nächste Schritt in einem unsicheren Gelände, wird zum neuen Inkulturationsort des Evangeliums.«10

Wenn

– die »post-modernen« Denker im Gefolge Nietzsches darin übereinkommen, auf der Basis ihres nüchternen Blicks auf die sich selbst zum Problem und illusionslos gewordene Moderne eines jedenfalls nicht mehr zu liefern, nämlich Stärke, Sicherheit und Ordnung,

– wenn immer plausibler wird, dass wir nicht die souveränen Herren der Zukunft sind, wie die Moderne es uns versprechen wollte,

– wenn wirklich gilt, dass die anti-dynamischen Nachfolgekonzeptionen der Vormoderne ebenso obsolet geworden sind wie die dynamisch-utopischen Fortschrittskonzeptionen der Moderne,

– wenn die eigentliche Aufgabe der Gegenwart nicht darin besteht, neue Kontinente zu entdecken, sondern zu entdecken, wo wir eigentlich gelandet sind,

– wenn also die heutigen Zeiten so neu sind, dass wir noch gar nicht begriffen haben, wie neu sie sind, und ebendieses Nichtbegreifen, genauer: die Einsicht in die Unvermeidlichkeit des Nichtbegreifens das Neue darstellt,

dann muss eine dieser und nicht einer abstrakten Gegenwart verpflichtete Kirche vor allem eines sein: neugierig, aufmerksam und sensibel. Denn sonst weiß sie weder, an wen sie sich wendet, noch, wo sie überhaupt ist, noch, was das, was sie ihr zu sagen hat, für diese Gegenwart wirklich bedeutet.11

... wenn nichts bleibt, wie es war

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