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2 Die geheimen Imperative der Gemeinde – und warum sich die Menschen ihnen verweigern

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Die Gemeinde forderte dafür freilich einiges. Im Wesentlichen ein Vierfaches: Man musste erstens „dazugehören“, zweitens „mitmachen“, drittens sich (zumindest zumeist) über seinen Lebenslaufstatus (Kind, Jugendliche/r, Mann, Frau, „Senior/in“) identifizieren lassen und schließlich die „Gemeinde“ als Selbstverständlichkeit akzeptieren. Es galten also ein Integrations- und ein Aktivitätspostulat, es wirkte, gemeindlich reformatiert, die alte Standespastoral nach und es herrschte eine institutionelle Selbstverständlichkeitswahrnehmung.

Am charakteristischen Schlagwort dieser pastoralen Epoche – „Lebendige Gemeinde“ – ist nun eine fünfte, wahrscheinlich die grundlegende Eigenschaft der Gemeindetheologie abzulesen: ihr latenter Institutionalismus. „Lebendige Gemeinde“ als Zielgröße erklärt das Leben einer sozialen Größe zum obersten Zweck des eigenen Handelns, nicht das Leben ihrer Mitglieder259 oder gar das Leben ihrer Mitglieder aus und mit dem Evangelium. Ganz abgesehen davon, dass, wem ständig Leben eingehaucht werden muss, ungewollt zugesteht, permanent vom Hinsiechen bedroht zu sein.

Nun beginnt sich freilich die Lage zu ändern. Allerdings nicht, weil einige wenige Pastoraltheologen beginnen, die Gemeindeideologie der 1970er Jahre mit der Realität zu vergleichen260 – das würde den aktuellen Einfluss der Pastoraltheologie weit überschätzen. Die Änderungen kommen nicht aus dem Diskurs, sondern aus der institutionellen Wirklichkeit. Es sind vielmehr die Pastoralämter mit ihren einschlägigen pastoralplanerischen Initiativen, die de facto den Pfarrpriester zunehmend wieder zu dem werden lassen, was er schon in der Spätantike war: der Kleinbischof einer ganzen Anzahl von Pfarreien mit primärer Sakramentenspendefunktion und oberster, in vielen Bereichen eher formaler Leitungsgewalt. Es bleibt den Pastoralämtern unter den gegebenen Bedingungen freilich auch gar nichts anderes übrig, denn den „Pfarrfamilien“ gehen die Väter aus und laufen die Kinder, vor allem die Töchter, davon.

Generell gilt: Gemeinden werden zu dem, wozu religiöse Gemeinschaften in entwickelten kapitalistischen Gesellschaften immer werden, so sie nicht das Alternativszenario der Versektung wählen: zu stets reversiblen und daher prekären Kundenzirkeln auf Freiwilligkeitsbasis. Die soziologischen Gründe hierfür wurden schon öfter analysiert. Sie laufen einerseits auf die Einsicht in die „lokale Entbettung sozialen Lebens“ hinaus: Soziale Identität wird immer weniger über lokale Beziehungen definiert. Unsere Nächsten sind nicht zuerst jene, die zufällig um uns herum wohnen, sondern jene, deren Nummer in unserem Handy gespeichert ist. Die vormoderne Identität von sozialem Beziehungsraum, lokalem Nahraum und gesellschaftlichem und zumeist auch kirchlichem Organisationsraum löst sich zunehmend auf.

Zum anderen aber vergesellschaftet sich Religion in unserer Gesellschaft dramatisch neu: nicht mehr in geburtsabhängigen, also ständischen Schicksalsgemeinschaften, sondern marktförmig. Ein großer Teil der aktuellen Probleme der Kirche dürfte im Übrigen darin bestehen, dass sie diesen epochalen Kontextwechsel in ihrem konkreten Handeln weit gefügiger nachvollzogen hat als in ihren Reflexionsdiskursen, was zu einer unübersehbaren theoretischen, vor allem systematisch-theologischen Unterbestimmung ihres Handelns und zum Auseinanderklaffen eines marktkritischen theologischen Selbstverständnisdiskurses und eines marktförmigen Verhaltens führt. Dass eine Mehrheit der Kirchenmitglieder mittlerweile die Kirche schon ganz anders nutzt, als diese selbst es wünscht und vorschreibt, bleibt dann merkwürdig wenig beachtet, ja „unbekannt“.261

Das alles gefällt der Kirche nicht sehr – im Übrigen mit einigem Grund. Aber sie wird nicht gefragt, ob es ihr gefällt, und es ist auch ziemlich irrelevant. Sie wird vielmehr gefragt, wie sie sich darin bewährt, oder besser und genauer: wie sie in dieser Situation das Evangelium in Wort und Tat präsentiert. Denn dafür ist sie da – und nicht umgekehrt das Evangelium für sie oder gar für eine ihrer sicherlich spannendsten und wichtigsten Sozialformen, die Gemeinde.

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