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3 Michael Ebertz’ Positionen
ОглавлениеWas will nun aber Michael Ebertz? Sein Ausgangspunkt ist die soziale Realität entwickelter Gesellschaften. Klassische Pfarrgemeinden seien „Auslaufmodelle“ geworden, „an denen selbst die Lebensströme katholischer Kirchenmitglieder mehrheitlich vorbei fließen“284, insofern das Pfarrprinzip schlicht ungenügend geworden sei.285 Moderne Lebensverhältnisse hätten sich örtlich entbettet, der Übergang von lokalen zu nicht-lokal bestimmten Lebensformen sei schon lange im Gange. Kirchengemeinden seien daher „notorisch unterdifferenzierend“, „tendenziell communiofeindlich“, „mehr oder weniger geschlossene Gesellschaften“, in denen „Erfahrungsverdünnung“, und „Selbstrekrutierung“286 herrsche.
Es sei „schon merkwürdig“, dass der „so offensichtlich negative Ausgang eines gewissermaßen historischen Experiments immer noch ignoriert“ würde und man einfach nicht wahrnehme, dass sich viele Menschen „schon längst nicht mehr in die pfarrheimlich verlängerten Wohnzimmer anderer begeben wollen“. Dies, weil sie sich dort „vereinsamt fühlen in der auf Frohsinn und Harmonie bedachten Pfarrcommunio“: zu „friedlich, höflich, friedhöflich“287 sei es da.
Ebertz’ Argumentation changiert stilistisch zwischen soziologischer Exaktheit und essayistischer Polemik. Dass Wohnraum, lokaler, sozialer und kommunikativer Nahraum sowie politischer und kirchlicher Organisationsraum unwiderruflich auseinander getreten sind, während sie früher mehr oder weniger deckungsgleich waren, dass die entwickelte Gesellschaft strukturell Individualisierung erzwingt, dass Einschluss immer auch Ausschluss bedeutet, dass wir nichts mehr genießen und besser beherrschen, als unsere Spuren zu verwischen, all dies ist ebenso unbestreitbar wie im gemeindetheologischen Konzept wenig reflektiert. Vor allem: Es ist auch in der Kirche Realität geworden, eine in den konkreten pastoralen Handlungsstrategien vielfältig akzeptierte und berücksichtigte Wirklichkeit.
Ebertz polemisiert und argumentiert gegen „linke(.) wie rechte(.) Romantizismen“288, und das mit allem Recht. Was aber will er dagegensetzen? Ebertz empfiehlt, dem Luhmannschen Modell der funktionalen Differenzierung als Basisprinzip der modernen Gesellschaft zu folgen:
Es ginge darum, die Pfarreien in funktionale Knotenpunkte eines größeren und vielfältigen pastoralen Verbundsystems zur differenzierten ‚Sammlung‘ und ‚Sendung‘ für Gläubige und Glaubenwollende zu verwandeln, um deren Anknüpfungschancen zu erhöhen und ihrem komplexen Verhältnis von Territorialität und Mobilität Rechnung zu tragen. Dieses Verbundsystem hätte noch andere Knotenpunkte der Sammlung und der Sendung,
wobei Ebertz dann auf diakonale oder kategorialpastorale Orte verweist. Es sei die Aufgabe dieser Knotenpunkte, „jeweils über sich hinaus- und gegenseitig aufeinander (zu) verweisen“289.
Ebertz setzt dabei eine Reihe von wichtigen und folgenreichen konzeptionellen Unterscheidungen „Ich setze … begrifflich und sachlich voraus“, so Ebertz,
dass nicht jede … Bestätigungs- und Plausibilitätsbasis … des Glaubens gleichzusetzen ist mit „Gemeinde“, „Gemeinde“ nicht gleichzusetzen ist mit „Ortsgemeinde“ und „Ortsgemeinde“ nicht identisch ist mit „Pfarrgemeinde“.290
Ebertz verweist hier auf die diakonischen Orte, den Religionsunterricht und ähnliche nicht-gemeindliche pastorale Handlungsorte der Kirche. Es gelingt ihm so, die soziale Pluralität und damit die Gesamtheit kirchlichen Handelns in den Blick zu bekommen, eine gesamtpastorale Perspektive, die bei Werbick doch eher unterbelichtet bleibt, wie bei ihm generell die empirische Realität von Kirche hinter dem dogmatischen Diskurs (und den kirchenpolitischen Optionen) doch etwas verschwindet. Ebertz verweist immer wieder auf den „größere(n) pastorale(n) Verantwortungsraum mit einem breit gefächerten Panorama von Angeboten und Initiativen, die jeweils über sich hinaus- und gegenseitig aufeinander verweisen“291.
Er plädiert für Spezialisierung und Profilierung der Gemeinden und für eine sakramentale und diakonale Begründung der Identität christlicher Gemeinden, wie das II. Vatikanum sie konzipiert habe.